Kinderseite Nr. 3: "Die Nacht der Nächte"
"Die Nacht der Nächte"
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von Joachim Größer (2007)
„Ist das verdammt kalt!“, schimpfte der 14-jährige Anton und stapfte keuchend durch den kniehohen Schnee.
„Nun maule nicht!“, antwortete ihm Annik. Sie war Antons Banknachbarin seit der 1. Klasse und hatte diesen nächtlichen Ausflug mit einem spektakulären Fund erst möglich gemacht.
„Genau Annik, Anton soll den Mund halten und lieber eine schöne breite Spur treten!“ Grinsend gab Martin, Antons jüngerer Bruder, seinen Kommentar zu diesem Disput.
„Halt du lieber deinen Mund!“, zischte Anton wütend. „Ich verstehe sowieso nicht, warum wir dich ...“
Weiter kam er nicht. Annik stieß ihn an und gab ihm unmissverständlich zu verstehen, dass jetzt keine Zeit für Bruderzwist sei.
„Los Anton! Wir haben keine Zeit zu verlieren!“ Annik trieb Anton an und der knurrte nur in sich hinein und stapfte weiter durch den kniehohen Schnee den steilen Berg hinauf. Das Ziel der drei Kinder war der Adlerstein, ein 536 m hoher Berg unmittelbar hinter dem Dorf. Auslöser für diesen fast mitternächtlichen Ausflug war ein sehr altes Schriftstück, das Annik auf dem Boden in einer alten Schatulle vor einigen Tagen im elterlichen Wohnhaus fand.
Da sie Schwierigkeiten mit dem Entziffern der alten Handschrift hatte, fragte sie Anton, ob er ihr helfen könne. Aber auch er war überfordern, denn viele Buchstaben sahen völlig anders aus. Anton malte einige der unbekannten Schriftzeichen auf und befragte zuerst die Lehrer, doch ohne Erfolg. Zu Hause konnte ihm aber sein Vater weiterhelfen. „Das ist die alte deutsche Schrift. Meine Großmutter schrieb manchmal noch so“, kommentierte er.
Dieser Hinweis genügte bereits, um mithilfe eines alten Lexikons die Buchstaben zu deuten. Und dann konnten Annik und Anton die ersten Zeilen lesen.
Es waren die Aufzeichnungen eines Nikolaus, der vor mehr als 160 Jahren die fantastischen Erzählungen der alten Leute aufgeschrieben hatte. Da war die Rede von Hexen und dem Beelzebub, von Göttern, Feen und Kobolden, auch von unheimlichen Ritualen, die einige der Alten noch damals vollzogen haben sollten. Sie lasen von der Wintersonnenwende, vom Adlerstein, der in dieser Nacht allen Unwirklichen zum Leben verhalf. Notwendig sei dazu um Mitternacht ein Feuer zu entzünden, um die längste Nacht des Jahres zu erhellen. Die Sehenden würden Punkt 12 Uhr um Mitternacht die Geister der Unterwelt erblicken. Aber Sehender ist nur, der „reinen Herzens und mit großer Tapferkeit“ die Unwirklichen beschwört. Er muss den Adler aus Stein finden und ihn zum Leben erwecken. Aus einem Horn muss er den Stein mit Tauwasser benetzen und die Worte sprechen „wate hali hino horna!“ Dann werden sich aus dem Gefieder des mächtigen Vogels all die Gestalten bilden, die die Menschen als Unwirkliche kennen. Um sie wirklich zu machen, bedarf es der Zauberbeschwörung „qimai piudinassus peins!“
„Wir gehen zum Adlerstein! Das müssen wir ausprobieren!“ Fast schrie Anton vor lauter Begeisterung diese Sätze hinaus. Wohl doch etwas zu laut, denn sein Bruder Martin wollte sofort wissen, was er am Adlerstein ausprobieren wolle. So sehr auch Anton versuchte, Martin nicht in ihr Wissen einzuweihen – Martin blieb hartnäckig. Als er dann noch drohte, alles sofort den Eltern zu erzählen, gab Annik nach.
„Wir erzählen dir alles, was wir gelesen haben. Du musst aber schwören, niemandem davon zu erzählen – niemandem!“, sagte sie und hielt Martin die uralten Aufzeichnungen des Nikolaus unter die Nase. „Schwöre beim Nikolaus, dass du über unser Wissen den Mund halten wirst. Solltest du den Schwur brechen, dann ... dann ...“ Hilfe suchend blickte sie sich zu Anton um. Und der ergänzte: „Dann werden alle Hexen und Teufel über dich kommen und dich keine Nacht mehr schlafen lassen!“
„Ihr seid doch verrückt!“, griente Martin. „Solch einen blöden Schwur habe ich noch nie gehört!“
„Blöd hin oder her! Entweder schwörst du, oder du erfährst nichts! Und wenn du petzen willst, keiner wird dir glauben, weil das doch alles viel zu verrückt ist. Das sind deine eigenen Worte, Martin!“ Annik hielt Martin nochmals die alten Aufzeichnungen hin. „Und?“
Martin war viel zu neugierig, um sich ein Abenteuer, denn darum konnte es sich nur handeln, entgehen zu lassen. Also legte er die Hand auf Nikolaus Aufzeichnungen und murmelte: „Ich schwöre.“
„Hättest ruhig etwas lauter reden können“, meinte Annik unwirsch. „Aber wir haben dich doch verstanden. Stimmt`s Anton?!“
„Ich habe es verstanden. Martin. Wenn du jetzt etwas verrätst, dann kommen wirklich alle Hexen und Teufel nachts zu dir!“ Als Anton Martins ungläubiges Gesicht sah, bekräftigte er seine Aussage: „Hier hat der Nikolaus geschrieben, dass seine Großmutter als junges Mädchen die Hexen noch hat tanzen gesehen! Und wir wollen sie auch tanzen sehen!“
Jetzt war Martin doch sehr beeindruckt, aber leibhaftige Hexen tanzen zu sehen ...? Ob das nicht doch nur eine alte Sage war? Seine Zweifel formulierte er mit dieser Frage: „Habt ihr überprüft, ob die Schriftstücke echt sind?“
Anton schaute Annik an. Die hatte sofort die Antwort parat: „Das kriege ich ganz schnell raus! Morgen erzähle ich es euch!“
Und Annik leistete tolle Detektivarbeit. Bereits am nächsten Morgen berichtete sie Anton und Martin über ihre Nachforschungen.
„Also, unser jetziges Wohnhaus war bis 1960 die `Alte Mühle´. Mein Urgroßvater baute die Mühle zum Wohnhaus um. Alles, was man auf dem Speicher der Mühle fand und wozu man keine Verwendung hatte, blieb auf dem Speicher – also auf dem Dachboden. Das hat mir mein Opa erzählt. Opa wusste auch noch, dass es nämlich mal eine Chronik der `Alten Mühle´ gab und dass der Nikolaus der Sohn des Müllers war, der in der 1. Hälfte des 19. Jh. die Mühle baute. Der Nikolaus wollte gar nicht Müller werden wie sein Vater, sondern interessierte sich viel mehr für Geschichten und Erzählungen. Er hatte die `Kinder- und Hausmärchen´ und die `Deutschen Sagen´ der Gebrüder Grimm gelesen und wollte es den beiden Sprachforschern gleichtun. So sammelte er wie seine berühmten Vorbilder alle Erzählungen und Sagen, die ihm die alten Leute anvertrauten. Der Nikolaus wollte sogar - wie die Gebrüder Grimm - ein Buch herausgeben, aber sein Vater verweigerte ihm das Geld dafür. Im Dorf war der Nikolaus nicht gut angesehen. Man erzählte sich, dass er mit dem Teufel im Bunde sei und so mancher machte heimlich drei Kreuze, wenn er dem Nikolaus auf der Dorfstraße begegnete. Da ein solcher Ruf nicht gut für das Mühlengeschäft war, gab es einen großen Streit zwischen Vater und Sohn. Nikolaus Vater verbrannte viele Aufzeichnungen des Sohnes und damit Nikolaus Träume von einem Märchen- und Sagenbuch seiner Heimat. Später übernahm Nikolaus dann die Mühle von seinem Vater und wurde ein `ehrbarer´ Müller.“
Annik schaute die Brüder an. „Zufrieden?“, fragte sie.
Anton zollte ihr uneingeschränkt Anerkennung für ihre Nachforschungen. Auch Martin kam nicht umhin zu erklären, dass man wohl den alten Aufzeichnungen des Nikolaus trauen konnte.
Bereits im Klassenraum, beim Auspacken der Schultaschen, erzählte ihr Anton, dass sie auch nicht untätig waren. Martin und er haben die Gemeindebücherei und die Bücherschränke der Eltern und Großeltern durchsucht, um diese Beschwörungsformeln übersetzen zu können. Weit sind sie allerdings nicht gekommen. Soviel haben sie aber herausgefunden, dass es vielleicht eine uralte Sprache, vielleicht germanischen Ursprungs, sein könnte. Heute Nachmittag wollten er und Martin in die Kreisstadt fahren, um in der umfangreicheren Stadtbibliothek weiter zu suchen.
Und das taten sie auch. Martin war mit einem Male wie besessen von der Idee, auf dem Adlerstein Teufel und Hexen sehen zu können. Er trieb Anton zur Eile an und legte auf der Fahrt mit seinem Rad ein Tempo vor, dass Anton gehörig in die Pedalen treten musste.
Die Bibliothekarin staunte nicht schlecht, als zwei verschwitzte Jungs nach Büchern über germanische Sprachen fragten. Als sie verwundert nachfragte, erklärte ihr Martin, ohne rot zu werden: „Mein Bruder braucht das für einen Aufsatz über das Leben unserer Vorfahren.“
So packte sie den Brüdern einen Stapel Bücher auf den Tisch, konnte es aber sich nicht verkneifen, ab und zu den beiden über die Schulter zu schauen. Sie sah einen Zettel mit Worten bekritzelt und las: „wate hali hino horna!“ und „qimai piudinassus peins!“
„Das kommt mir so bekannt vor“, murmelte sie.
„Ja?“, fragte Anton. Er schaute die Bibliothekarin erwartungsvoll an.
„Ich glaube, ich kann euch helfen“, kommentierte sie ihr Suchen in den Büchern. Nachdem sie mehrere Bücher durchblättert hatte, verkündete sie: „Ich wusste es doch! ´qimai piudinassus peins´ ist aus der Bibelübersetzung des Gotenbischofs Wulfila und damit aus dem ältesten germanischen Sprachdenkmal.“
„Und was heißt das?“ Martin stellte die Frage.
„Moment Jungs, einen Moment! Jetzt habe ich den ganzen Text. Es ist aus dem `Vater-Unser´ und `qimai piudinassus peins´ heißt ´komme Herrschaft deine´. Zufrieden?!“
Zufrieden waren die Brüder nun gar nicht. Hatten sie erwartet, mystische Worte zu hören, bekamen sie einen Satz aus dem christlichen „Vater-Unser“. So vernahm die Bibliothekarin: „Och, und wir dachten das sind heidnische Beschwörungsformeln.“
Die Stimmung der Brüder verbesserte sich wieder, als die Bibliothekarin ihnen erklärte, dass in der Zeit des beginnenden Christentums, heidnische und christliche Bräuche ineinander übergingen. Christen bauten Kirchen und Kapellen auf heidnischen Plätzen. Hier wurden nun der Gott der Christen und nicht mehr die Götter der Germanen angebetet. Viele Germanen, die jetzt zwar getauft waren, hingen aber insgeheim noch der alten Religion an. Sie verwendeten jetzt christliche Wortwendungen für ihre Beschwörungen.
„Vielleicht wissen Sie auch, was `wate hali hino horna´ heißt?“, fragte Martin.
„Das tut mir leid. Das ist mir unbekannt. Wir könnten nur nach dem Wortstamm suchen und versuchen, das dann zu deuten. Also, was kommt uns bekannt vor?!“
„`horna´ könnte doch Horn bedeuten“, sagte Anton. Er erinnerte sich an Nikolaus Aufzeichnungen, dass man in der Nacht der Wintersonnenwende den Stein aus einem Horn mit Tauwasser benetzen sollte.
„Ja, das könnte hinkommen“, antwortete ihm die Bibliothekarin und `wate´ müsste Wasser heißen. Noch heute heißt Wasser im Englischen `water´ und Englisch ist auch eine germanische Sprache. Aber zu `hali´ und `hino´ fällt mir leider nichts ein, Jungs.“
Die Jungs waren mit dem Ergebnis ihrer Recherchen zufrieden. Wieder zu Hause fuhren sie bei Annik vorbei. Hier begrüßte sie Janis, Anniks jüngerer Bruder.
„Annik ist nicht da. Soll ich was ausrichten?“, fragte er. Antons Antwort, dass er seiner Schwester sagen solle, sie hätten die Beschwörungsformel übersetzen können, machten ihn aber sehr neugierig. Schon wollte Martin ihm antworten, doch weiter als bis “die Beschwörungsfo...“ kam er nicht. Ein Rippenstoß von Anton ließ ihn sofort abbrechen.
Also antwortete er nur: „Das ist geheim! Außerdem bist du viel zu jung für so was!“
„Bist ja mal gerade ein Jahr älter!“, widersprach ihm Janis, forschte aber nicht weiter. Dafür war aber Janis Neugierde geweckt und die sollte noch für Überraschungen sorgen.
Zuerst stiegen sie zum Adlerstein und sammelten trocknes Holz, das sie mit einer Plane bedeckten. Papier, Holzspäne und Streichhölzer zum Entzünden des Feuers wollten sie in der Nacht der Wintersonnenwende mitnehmen.
Wieder zu Hause suchte Anton ein sehr wichtiges Utensil für ihr geplantes Unternehmen: Ein Horn, in welches man Tau einfüllen konnte. Dieses Horn von einer Kuh, er hatte es vor Jahren auf einer Wiese gefunden, lag immer noch im Keller. Aber nun brauchte man Tau.
Am nächsten Morgen tummelten sich die Brüder auf der Wiese hinter dem Haus und versuchten, Tautropfen von den Grashalmen in das Horn abzustreifen.
„Und wenn wir das bis heute Abend machen“, murrte Martin verdrießlich, „das kriegen wir noch nicht einmal viertelvoll.“
Ihre Mutter hatte ihrem Treiben vom Fenster zugeschaut und fragte nun verwundert: „Welche Erklärung gibt es für euer Tun?“
Jetzt hatte Anton sofort eine plausible Ausrede parat: „Ich wollte für den Bio-Unterricht die Reinheit des Taus untersuchen. Aber das wird wohl nichts.“
„Laut Wetterbericht bekommen wir eine Frostperiode. Bereits heute Nacht sollen es minus 5° C werden. Kratze doch dann einfach den Reif von den Blättern.“
„Prima Mam!“, rief Anton und verschwand mit Martin im Schlepptau in Richtung Kinderzimmer.
Ihre Mutter schaute ihnen hinterher und dachte bei sich: „Aber warum brauchen sie als Gefäß dieses alte Kuhhorn?“ Zum Fragen kam sie nicht mehr, denn die Brüder rannten bereits mit ihren Schultaschen zur Tür.
Dank der Hilfe ihrer Mutter und der beginnenden Frostperiode hatten die Brüder nun alle Utensilien für ihren nächtlichen Ausflug beieinander. Problem war nur, wie sie sich heimlich davonschleichen sollten. Was wäre, wenn wider Erwarten die Eltern noch einmal ins Kinderzimmer kämen und ihre Betten leer vorfänden? Anton meinte mit einer Deckenrolle als Körperersatz unter der Bettdecke könnte man die Eltern täuschen. Beiden war aber gar nicht wohl bei diesem Gedanken.
Annik hatte dieses Problem nicht. Ihre Eltern schauten bestimmt nicht noch einmal nach ihr. Dafür aber lag ihr Zimmer im 2.Stock und nicht ebenerdig wie das Zimmer der Brüder. Das Problem wollte Anton aber mit einer fast 5 Meter langen Leiter lösen.
Drei Tage hatten sie noch bis zur Wintersonnenwende. Als es dann heftig zu schneien begann, befürchteten sie, dass der Weg zum Adlerstein nicht mehr begehbar sein könnte. Doch wieder hatten sie Glück. Das Schneefallgebiet zog weiter und strenger Frost herrschte die nächsten beiden Nächte.
So kam die Nacht der Wintersonnenwende – für die Kinder, so hofften sie, die Nacht der Nächte!
Alles klappte anfangs bestens. Anton und Martin stiegen um 22.30 Uhr, ihr Eltern schliefen bereits, durch das Fenster ins Freie. Bereits 10 Minuten später stand Annik neben ihnen und ihr Marsch durch den Schnee zum Adlerstein konnte beginnen. Als sie am Hundezwinger vorbeikamen, konnte es sich Martin nicht verkneifen, Leon, Anniks Hund, leise zu rufen. Und Leon bellte freudig los. Erschrocken fuhr Anton herum und fauchte seinen Bruder an: „Du wirst noch alles versauen! Bleib am besten gleich hier!“
Martin antwortete, selbst über das Hundegebell erschrocken: „Es ist doch nichts passiert.“ Annik beruhigte ihren Hund. Ihr Ausflug blieb fast unbemerkt. Aber ein aufmerksamer Beobachter hätte die Gardine an Janis Zimmerfenster wackeln gesehen und sich darüber Gedanken machen können.
Nicht so unsere Drei. Sie stapften mühevoll im Gänsemarsch durch den Schnee.
Kurz vor Mitternacht erreichten sie den Berggipfel. Sie hatten die Aufzeichnungen des Nikolaus so oft gelesen, dass sie den Inhalt schon auswendig konnten. Leise, als ob sie jemand hören könnte, befahl Anton: „Jeder geht in eine andere Richtung! Wir müssen den Adler finden!“
Nun waren sie nicht das erste Mal auf dem Adlerstein. Aber einen Adler hatten sie noch nie gesehen, keinen lebenden und auch keinen aus Stein. Sie vertrauten darauf, dass in dieser Nacht alles anders sei und sich ihnen der Adler, wenn Nikolaus Aufzeichnungen stimmen sollten, sich ihnen selbst zeigen würde.
Martin wurde mit einem Male recht kleinlaut. „Können wir nicht zusammen gehen? Sechs Augen sehen doch mehr als zwei!“
“Da muss ich Martin recht geben!“ Auch Annik war dieser Berg und diese Nacht nicht geheuer. Und Anton, als habe er nur darauf gewartet, sagte: „Gut, bleiben wir zusammen. Umrunden wir die Bergkuppe!“
Es war, als wollte ihnen der Himmel helfen. Der Wind frischte auf und durch die sich auftuende Wolkenlücke leuchtete gespenstisch der Mond. Der Wald erstarrte dunkel und unheimlich. Es war, als wollte er sagen: Kommt nicht zu mir! Hier lauert das Verderben!
Aber in diesen Wald, der zudem durch den auffrischenden Wind, furchtbare und undefinierbare Geräusche erzeugte, wollten sie sowieso nicht. Im gebührenden Abstand zum Wald umrundeten sie die Bergkuppe.
„Ich sehe nichts von einem Adler!“, kommentierte Anton ihr Suchen. „Lasst uns nach Hause gehen.“ Er stiefelte zur Hangkante.
„Anton, hier!“ Mehr gezischt als gerufen vernahm Anton die Stimme seines Bruders. Als er sich umdrehte, sah er an der Hangkante die Steinformation, die sie schon so oft erklettert hatten. Der Mond beleuchte die Steine so, dass für den Betrachter ein sitzender Vogel die Silhouette ergab.
„Martin, wir haben den Adler!“ jauchzte Anton und haute seinem Bruder vor Freude auf die Schulter. Annik blieb dagegen sehr ruhig. Je länger dieses Unternehmen dauerte, um so mehr sagte sie sich, was sie doch für Kindsköpfe seien. Am liebsten wäre sie jetzt schnell umgekehrt, aber dafür war es nun zu spät.
Anton, gefolgt von Martin, rannte zur Steinformation. Noch im Laufen holte er das Horn aus der Innentasche seiner Jacke. Fast wäre er gestolpert. Krampfhaft umschloss seine Hand das Horn mit dem für sie kostbaren Tauwasser. Jetzt handelte er überlegter.
„Annik, wie spät haben wir es?“ Und als Annik ihm antwortete „Zehn Minuten vor zwölf!“ befahl Anton: „Martin, nimm die Streichhölzer und entzünde das Feuer!“
Martin kramte Papier, Beutel mit Holzspänen und Streichhölzer aus seiner Jacke und strich mit zitternden Händen ein Streichholz an. Das Holz verglühte im Wind. Mehrere der Hölzer waren schon verbrannt, ehe es ihm gelang, das Papier unter den Spänen zu entzünden.
Annik legte, kaum dass das Feuer brannte, Zweige und Äste auf die Flammen. Der Wind fachte das Feuer an und die Flammen warfen scheinbar tanzende Figuren auf den Schnee.
„Habt ihr das Feuer für mich angezündet?!“
Erschrocken fuhren die Drei herum. Japsend bahnte sich Janis den Weg durch den tiefen Schnee. Dann sprang hinter ihm ein wolfsgroßes Tier bellend zu Annik, stellte sich auf die Hinterpfoten und begann jetzt, jaulend Annik das Gesicht zu lecken.
„Aus, Leon!“ Sofort ließ Leon ab und stellte sich neben Annik.
Anton wollte Janis anfauchen, doch zum Glück für Anniks Bruder hörten sie den ersten Schlag der Kirchenturmuhr.
„Kommt zum Stein!“, sagte er stattdessen. Anton nahm das Horn. Er, Martin und Annik benetzten ihre Hände mit dem Tauwasser und besprengten den Fels. „wate hali hino horna!“, murmelten sie immer und immer wieder. Aber nichts tat sich. Martin rief, einer Eingebung folgend, beim 10. Glockenschlag: „Janis, du musst auch den Stein benetzen!“ Und Janis tat dies beim 12. Schlag der Turmuhr. „wate hali hino horna!“ Kaum waren die Worte gesagt, strich ein eisigkalter Hauch, Annik meinte hinterher, es sei der Atem des Todes gewesen, aus dem Stein und ließ das Feuer heftig aufflackern.
“Los, zum Feuer! Wir bilden einen Kreis!“ Anton übernahm wieder das Kommando. Sie fassten sich an die Hände. Um diesen Kreis zu schließen, kamen sie den Flammen bedrohlich nahe. Scheinbar leckten die Flammenzungen bereits an ihren Körpern.
„Jetzt die Beschwörung!“ Und die Münder der Kinder formten die Beschwörungsformel: „qimai piudinassus peins!“ Immer und immer wieder, zum Schluss fast schreiend ertönte in die Stille der Nacht: „qimai piudinassus peins!“
Leon war der Erste, der die Spukgestalten erahnte. Jaulend vor Angst duckte er sich in den Schnee und kroch rückwärts aus dem Feuerschein. Und nun waren die Kinder die Sehenden. Sie erblickten die Gestalten, die der Nikolaus vor mehr als 160 Jahren beschrieben hatte. Aus dem Feuer schoss eine Hexe auf ihrem Besen in die Luft. Nicht alt und hässlich war sie, sondern jung und wunderschön. Ihr folgte der Teufel. So, wie die Sagen und Märchen ihn beschrieben, so erblickten ihn die Kinder: Mit Ziegenhörnern und Bocksfuß flog er mit grässlichem Lachen um das Feuer. Ständig kamen neue Gestalten aus dem Feuer, Kobolde, Wichteln, Feen tanzten mit der Hexe und dem Teufel um die Wette.
Wie gebannt schauten die Kinder in das Feuer. Keinen Laut gaben sie von sich. Sie konnten ihre Hände nicht voneinander lösen. So standen sie und starrten.
Die Sagen- und Märchengestalten waren durch die Kinder, die - wie es in Nikolaus Aufzeichnungen hieß - „reinen Herzens und mit großer Tapferkeit“ zum Geisterleben erweckt. Diese Tapferkeit brauchten aber auch die Vier. War zwar die Hexe wunderschön anzusehen, aber ihre Reden waren Angst einflößend. Sie sprach vom Festtagsbraten, vom Hunger auf Menschenfleisch und lud alle anderen Geister zum Mahle ein. Sie flog um die Kinder auf ihrem Besen herum, zauste sogar dem Leon sein Fell, sodass der sich ängstlich jaulend noch tiefer in den Schnee drückte. Dann startete sie einen „Ritt“ – so sagte sie – durch die Kinder hindurch. Martin war der Erste, den sie sich vornahm. Mit ihrem Besenstiel kitzelte sie ihm am Bauch, um dann mit großer Geschwindigkeit durch ihn hindurchzubrausen. Hinterher schwor Martin, er habe die Hexe flüstern gehört: „Fett genug zum Braten!“
Die anderen Geister beteiligten sich nicht an diesem Spiel der Hexe. Die aber tanzte jetzt über die Kinder in der Höhe um das Feuer herum, zauberte sich ein Sektglas aus Eis und goss sprudelnden Champagner aus dem Nichts ins Eisglas. Nun schwang sie sich auf die höchsten Flammenspitzen und trällert, den Sekt genussvoll schlürfend:
„Wenn die Schatten tiefer sinken
und die Hexen Schampus trinken
wird das Kreischen hörbar laut.
Fühlt ihr schon die Gänsehaut?“
Ihr nachfolgendes Gelächter ging in ein markerschütterndes Kreischen über und jedes der Kinder fühlte, wie die Eiseskälte in ihnen aufstieg.
Die Hexe nahm ihr Eisglas, schleuderte es in die dunkle Nacht und Tausende funkelnde Sternchen rieselten auf die Kinder herab. Dann begann sie erneut, mit den Kindern ihren Schabernack zu treiben.
Der Teufel selbst saß bisher scheinbar gelassen auf den äußersten Spitzen der Flammen und betrachtete das Treiben. Das Spiel der Hexe mit den Kindern schien ihm zu missfallen. Zuerst runzelte er nur die Stirn, dann, als die Hexe wiederholt durch Martin hindurch „ritt“, donnerte er mit gewaltiger Stimme: „Schluss mit deinen Spielchen! Komm zu mir!“ Sofort hörte die Hexe auf, umkreiste noch einmal die Kinder und flog dann schnurstracks zum Teufel. Brav setzte sie sich neben ihn und die Kinder sahen mit entsetzten Gesichtern, wie sich die Hexe verwandelte. Aus einem jungen schönen Mädchen wurde eine Alte, ausgestattet mit einer krummen Nase, den ein Riesenpickel zierte, einem Buckel, der so groß und rund war, dass man gut und gerne auf ihm herunterrutschen konnte. Ihre hübschen Kleider wurden zu grauen, schmutzigen Lumpen. Nur der Besen, auf dem sie immer noch saß, war derselbe. Janis rief verwundert: „Die Hexe ist aus meinem Märchenbuch!“
Jedem Kind kam diese Gestalt bekannt vor, jeder sah die Hexe jetzt so, wie er sie sich vorstellte.
Dem Teufel schien auch dieses Spielchen, das die Hexe mit den Kindern trieb, zu missfallen. Er stampfte mit seinem Bocksfuß scheinbar auf – obwohl er doch nur in die Luft stampfte, erschütterte die Erde.
„Hexe! Du gehst zu weit! Diese Kinder haben uns nach langer, langer Zeit wieder zum Leben erweckt. Nach den ungeschriebenen Gesetzen der Unwirklichen müssen wir den Kindern dankbar sein. Doch du ...“ Hier machte der Teufel eine lange Pause und schaute die Hexe so fürchterlich grimmig an, dass die vor Angst kleiner und kleiner wurde. Dann donnerte die Stimme des Teufels in die klare Winternacht: „Jetzt musst du jedem dieser Kinder einen Wunsch erfüllen. Das ist die Strafe für dein Treiben!“
Die Hexe nahm wieder ihre erste Gestalt an, wurde jung und schön. Wäre da nicht ihr Hexenbesen, man hätte sie mit ihrem goldblonden wallenden Haar, dem nebelgleichen feinen Gewand für eine gute Fee halten können.
Sie sprach jetzt auch feengleich mit lieblicher Stimme: „So muss ich dem uralten Gesetz gehorchen! Höret, ihr Kinder, die ihr uns für eine Stunde erweckt habt. Höret mir gut zu und entscheidet euch weise. Heute in 10 Nächten, für euch Menschen ist es die Sylvesternacht, sprecht Punkt 12 beim Glockenschlag der Turmuhr einen Wunsch laut und deutlich aus. Ihr habt aber nur die 12 Glockenschläge Zeit, euren Wunsch zu nennen. Ich muss ihn euch gewähren. Aber redet mit niemandem darüber. Auch untereinander dürft ihr nicht darüber sprechen. Sollte es doch jemand tun, so verfällt sein Wunsch. Also seid klug!“
Und wieder verwandelte sie sich vor den Augen der Kinder zu einer „Märchenbuchhexe“. Anton hätte hinterher schwören können, dass er sah, wie die Hexe ihm noch während ihrer erneuten Verwandlung mit dem rechten Auge zuzwinkerte. Er glaubte auch, ihre Stimme zu hören. Dieses „Handle klug, Anton!“ ging ihm nicht mehr aus dem Sinn.
Kaum war die Verwandlung vollzogen, kicherte die Hexe: „Nun, da du mich bestraft hast, Fürst der Unterwelt, so darf ich nach uralten Gesetzen mit meinem Treiben fortfahren.“
Und erneut trieb sie ihren Schabernack mit den Kindern und zwar noch heftiger und derber als zu Beginn. Sie trieb die Flammen des Feuers zu den Köpfen der Kinder, sodass die erschrocken zurückweichen wollten. Ihre Füße waren aber wie festgenagelt am Boden. So fielen sie in den Schnee, um dann sofort wieder ihre aufrechte Stellung einzunehmen. Besonderes Vergnügen bereitete ihr, die Kinder zu zausen, mit ihrem Hexenbesenstiel zu kitzeln und ihnen mit Redewendungen, die alle aus einem Märchenbuch stammen konnten, Angst einzuflößen.
Von Martin verlangte sie, dass er ihr den Finger zeigen sollte. Als er das auch wirklich tat, hörten die Kinder: „Schön fett. Ein wahrer Festtagsbraten!“
Ängstlich zog Martin seine Hand zurück, doch sein Finger leuchtete jetzt rotglühend und erhellte sein angstvoll versteinertes Gesicht. So stand er starr vor Schreck.
Auch mit Janis trieb sie ihren Schabernack. Ihm zersauste sie die Haare, sodass sie wie elektrisiert in alle Richtungen standen. Leon hatte schon längst die Flucht ergriffen und betrachtete aus dem Dunkel in sicherer Entfernung das Treiben. Ab und zu hörten die Kinder sein „wab!“ und waren zufrieden, dass er in ihrer Nähe war.
Die Hexe schien Anton zu mögen. Zwar flog sie mehrfach um ihn herum, aber keinen Schabernack trieb sie mit ihm. Anton hörte sie aber wieder und wieder flüstern: „Sei klug und nutze die gute Stunde!“
Auch Annik hatte Ruhe vor ihr. Die Hexe zog sie nur einmal am langen Zopf, dafür bekam sie auch einen guten Rat: „Wenig ist manchmal mehr! Sei klug, Annik!“
Die Kirchturmuhr schlug eins. Hell leuchtete das Feuer auf und verschluckte die Unwirklichen. Ein grauenvolles Gelächter der Hexe und ihre Bitte „Erweckt uns bald wieder! Es war wunderschön, wunderschöööön ...!“ war das Letzte, was die Kinder hörten. Der Spuk war zu Ende.
Der nächtliche Ausflug der Kinder blieb unentdeckt. Mit noch verschlafenen Gesichtern sonderten sie sich am nächsten Morgen auf dem Schulhof von den anderen Kindern ab.
„Wisst ihr schon euren Wu...?“, fragte Janis. Weiter kam er nicht mit seiner Frage. Sofort hörte er von allen Seiten: „Wir dürfen nicht drüber reden!“ Erschrocken schlug sich Janis auf den Mund, so als könnte er mit dieser Geste die Worte wieder im Mund verschwinden lassen.
„Heute ist der letzte Schultag. Ich schlage vor, wir treffen uns Sylvester erst wieder. Martin und Janis, ihr dürft nicht darüber sprechen! Habt ihr gehört – ihr sollt den Mund halten!“ Die letzten Worte klangen schon wie eine Drohung. Anton starrte die beiden Jungs an. „Ist das klar?!“
„Ich bin doch kein kleiner Junge mehr. Sag das doch lieber dem Janis oder der Annik. Mädchen sind doch so schwatzhaft“, maulte Martin. Janis betonte jetzt, sehr erwachsen tuend: „Ich kann meinen Mund auch halten!“ Annik winkte nur ab.
Die Kinder sprachen nicht wieder über mögliche Wünsche zur Neujahrsnacht. Aber ständig geisterte ihnen die Hexe im Kopf herum. Wieder und wieder hörte Anton die Hexe sagen: „Handle klug, Anton!“ Auch Annik dachte ständig an den Rat der Hexe „Wenig ist manchmal mehr! Sei klug, Annik!“
Für Janis stand schon fest, was er sich wünschen wollte – ein Motorrad für Kinder. Fahren sollte es wie ein großes – mit richtigem Benzinmotor. Hatte er doch so sehr gehofft, dass ihm dieser Wunsch zu Weihnachten erfüllt würde. Aber dieser Wunsch blieb nur ein Wunsch.
Auch Martin hatte keine großen Probleme, einen Wunsch zu formulieren. Auch sein Wunsch, einen 50 cm großen Roboter, blieb unerfüllt. „Ich müsste eigentlich immer so viel Taschengeld haben, dass ich mir auch meine wichtigsten Wünsche erfüllen könnte.“ So dachte er und beschloss, dies auch am 31. Dezember der Hexe mitzuteilen.
Sylvester kam. Anton und Annik wussten immer noch nicht, welchen Wunsch sie aussprechen sollten. Anton, der Hunderte Märchen kannte und krampfhaft versuchte, sich zu erinnern, was so für Wünsche im Märchen ausgesprochen werden, fand keinen Wunsch, den er hätte auf seine Situation anwenden können.
Ruhm und Reichtum führten oft zu Katastrophen, Mut und Tapferkeit mussten in einem innewohnen, sollte sie auch zu wichtigen Charaktereigenschaften werden. So ging er viele Wünsche in Gedanken durch – er konnte sich nicht entscheiden. Ein Zufall half schließlich. Im Bücherschrank entdeckte er eines seiner Lieblingsbücher, das Märchenbuch „Das kalte Herz“. Wie oft hatte er Wilhelm Hauffs Märchen gelesen und dieses Märchen gab ihm den Wunsch. Er suchte die Stelle, wo das Glasmännlein dem Kohlenmunk-Peter am Tannenbühl Wünsche gewährt und ihn für die ausgesprochenen unüberlegten Wünsche schilt. Da hatte er die Textstelle „... nur hättest du dir Einsicht und Verstand dazu mitnehmen können, Pferde und Wagen wären dann von selbst gekommen.“
Das war es! „Ich wünsche mir Einsicht und Verstand. Dann wird mir alles, was ich beginne, gut gelingen!“, dachte er.
Genau – das war es! Die Hexe konnte zufrieden sein. Er hatte eine kluge Wahl getroffen - so meinte Anton.
Annik wusste selbst am Sylvesterabend noch nicht, welchen Wunsch sie aussprechen sollte. Aber immer wieder dachte sie an ihren Großvater, den sein „Zipperlein“ tüchtig plagte und er, von Schmerzen gepeinigt, wieder einmal laut sein Leid klagte: „Gesundheit ist doch das Wichtigste im Leben!“ Annik überlegte nicht lange und fasste ihren Entschluss. Sie wollte sich Gesundheit wünschen und war sich sicher, den richtigen Wunsch gefunden zu haben. Die Turmuhr schlug gerade 11-mal.
„Hexe, ich wünsche mir wenig und das ist doch ungeheuer viel!“, murmelte Annik. Großmutter, die neben ihr saß, verstand ihre Worte und schaute sie von der Seite verstohlen an. Wen meinte wohl ihre Enkelin mit der Hexe? Sie? Aber mit einer raschen Handbewegung schob sie diesen absurden Gedanken beiseite.
Erschrocken über ihr Gemurmel schaute Annik ihre Großmutter an.
„Hat das Großmutter gehört? Verfällt jetzt vielleicht mein Wunsch? Aber ich habe doch nur die Worte der Hexe nachgesprochen!“ Diese Gedanken schwirrten in ihrem Kopf. „Ich werde ja feststellen können, ob mein Wunsch erfüllt wird“, sagte sie sich und machte sich für einen kurzen nächtlichen Ausflug fertig.
Bereits Viertel vor 12 Uhr trafen sich die Kinder an der Kirche. Zuerst klärten sie, ob sie hier bleiben wollten oder ob es einen besseren Platz zum Wünscheausrufen gäbe. Janis meinte, dass der beste Platz außerhalb vom Dorfe wäre, da gäbe es keine Sylvesterfeierer und weniger Knallerei. Die Hexe müsste dann alle Wünsche verstehen können. Besonders das letzte Argument überzeugte. So rannten sie die Dorfstraße entlang in Richtung Adlerstein. Abgehetzt, aber pünktlich standen sie unterhalb des Berges und warteten auf den ersten Glockenschlag.
„Wir müssen uns schnell einigen, wer zuerst seinen Wunsch rufen darf!“ Martin sagte dies sehr aufgeregt. Es könnte ja sein, dass die Hexe seinen Wunsch nicht richtig verstehen könnte – und dann?
„Der Jüngste fängt an“, entschied Anton. „Janis, du musst deinen Wunsch formulieren. Klar?“
Janis nickte aufgeregt und starrte auf den Berg. Dann – der erste Glockenschlag!
Und Janis brüllte seinen Wunsch hinauf auf den Berg: „Ein Kindermotorrad mit Benzinmotor!“ Und fügte hinzu: „Liebe Hexe!“
„Immer so viel Taschengeld, dass ich mir viele Wünsche erfüllen kann! Das ist Martins Wunsch!“ Martin sagte sich, sicher ist sicher! Nicht dass die Hexe einem anderen seinen Wunsch erfüllt.
„Ich wünsche mir Einsicht und Verstand. Es soll mir alles gelingen, was ich beginne!“
Annik war die letzte Ruferin. Aber im Gegensatz zu den Jungs sagte sie ihren Wunsch recht leise: „Liebe Hexe, wenig ist manchmal mehr. Das sind deine Worte. Gesundheit kostet nichts und ist doch ungeheuer viel. Gib mir Gesundheit, wenn du kannst!“
Bereits beim 10. Schlag waren alle Wünsche gesprochen. Ob sie erfüllt werden?
Nichts tat sich in den nächsten Tagen. Janis schaute ständig im Schuppen nach, ob dort die Hexe vielleicht heimlich ein Kindermotorrad hineingestellt hätte. Auch Martin bekam nur sein übliches Taschengeld und keinen Cent mehr. Anniks und Antons Wünsche waren so auch nicht nachvollziehbar. In Gedanken hatte wohl jeder seinen Wunsch bereits als „Märchenwunsch“ abgeschrieben, als mit Janis Geburtstag wieder alle zu hoffen wagten.
Entgegen allen Beteuerungen seines Großvaters, dass solch ein „mörderisches“ und für Kinder ungeeignetes Spielzeug - wie ein neumodisches Kindermotorrad - sein Enkel niemals von ihm erhalten würde, stand ein ebensolches zu Janis 10. Geburtstag im Schuppen.
Drei Wochen später sah Martin, wie ein Auto losfuhr und eine Aktentasche beim Anfahren vom Dach des Autos auf die Straße knallte. Martin wollte sich noch die Autonummer merken, aber da bog der Wagen auch schon um die Ecke.
„Die letzte Zahl war 16 und die Autofarbe war rot.“ Das konnte er dem Fräulein vom Fundbüros mitteilen, als er die Tasche abgab. „Halt, halt!“, rief die Angestellte als Martin davonlaufen wollte. „Ich brauche noch deinen Namen und die Anschrift. Vielleicht gibt es Finderlohn.“
Vierzehn Tage später erschien kurz vor dem Abendessen ein etwa 35-jähriger Mann und stellte sich als der Eigentümer der verlorenen Tasche vor. Er dankte Martin für seine Ehrlichkeit und bat Martins Eltern, für ihren Jungen ein Geschenk anzunehmen.
„Ich habe vor kurzem eine Firma gegründet“, erzählte er, „und in dieser Tasche befanden sich alle Vertragsunterlagen für einen großen Auftrag, der für meine Firma eine sichere Existenz für viele Jahre bedeutet. Diesen Auftrag hätte ich aber nicht bekommen, wenn ich nicht die Vertragsunterlagen hätte vorlegen können. So stehe ich in Martins Schuld.“
Als kleines Zeichen seiner Dankbarkeit überreichte er Martins Eltern einen Umschlag mit 10 Hundert-Euro-Scheinen. „Martin erhält in den nächsten 10 Jahren immer zu seinem Geburtstag 1000 Euro. Dies habe ich in einem Vertrag festgelegt. Dieser Vertrag gilt, solange meine Firma in diesem Zeitraum besteht. Aber dank Martins Ehrlichkeit bin ich mir da sehr sicher!“ Er lächelte, als er sagte: „Martin wann hast du Geburtstag?“
Und Martin stotterte verlegen und vor Aufregung: „Am 16., ja am 16.“
„Februar“, ergänzte Martins Vater schmunzelnd.
Am nächsten Morgen auf dem Schulhof standen die Vier beisammen. „Die Hexe hat Janis und Martins Wünsche erfüllt“, sagte Anton, sich zu Annik wenden. „Ob sie auch unsere Wünsche erfüllt?“
„Bestimmt, Anton! Ich bin mir ganz sicher“ Annik lächelte ihrem Freund zu und ergriff seine Hand. „Bestimmt!“