Kinderseite Nr. 3: "Die Schlägel"

"Die Schlägel"

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von Joachim Größer (2007)

 

„Oma! Oma, ich habe einen großen Knochen gefunden!“, schrie Anton und schwenkte einen gebleichten länglichen Knochen wie eine Siegestrophäe. Martin rannte sofort zu seinem älteren Bruder. „Wo man den Einen findet, findet man meistens auch einen Zweiten!“, wiederholte Martin leise die Worte der Großmutter. Großmutter stand nun bei Anton und betrachtete den gebleichten, fast weißen Knochen.

„Sieht ja aus als wäre es ein Beinknochen. Bestimmt ist es von einem größeren Tier“, kommentierte die Großmutter den Fund. Martin, der fieberhaft diese Stelle am Flussufer nach „Schätzen“, die das Wasser ab und zu freigibt, absuchte, ärgerte sich, dass er nicht diesen Knochenfund gemacht hatte.

„Immer findet Anton alles“, maulte er leise.

„Martin, hier!“, rief jetzt eine Männerstimme. Sein Großvater stand wohl dreißig Meter weg vom Geröllstrand und stocherte mit dem Fuß in einem großen Muschelhaufen. Martin stürzte zu seinem Großvater. Er hoffte, dass Anton diesen Ruf nicht gehört hat. Doch der war viel zu sehr mit seinem Knochen beschäftigt. Er drehte und wendete ihn und entdeckte Spuren menschlicher Tätigkeit.

„Schau mal Oma“, sagte er, „das hier sieht aus, als habe man mit einem Messer geschabt.“ Und wirklich sah auch Großmutter diese eindeutigen Merkmale menschlicher Tätigkeit. Der Knochen wurde so bearbeitet, dass er wie der Schlägel einer Trommel aussah.

Martin hatte den Muschelhaufen mit bloßen Händen durchwühlt und hielt jetzt das in der Hand, was Großvater nur ansatzweise gesehen hatte: einen weiß gebleichten Knochen.

„Anton, schau!“, jauchzte er voller Freude über den Fund und rannte, den Knochen wie eine Siegestrophäe schwenkend, zu seinem Bruder. Beide Funde wurden verglichen, beide Knochen schienen Beinknochen eines Tieres zu sein, beide Knochen waren durch Sonne und Wasser weiß gebleicht und auch Martins Knochen wies dieselben Bearbeitungsspuren auf, wie sie Anton an seinem Fund entdeckt hatte. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Martins Knochen ein  bisschen kleiner war.

Zu Hause mussten zuerst die Eltern der Brüder den Fund bewundern. Einen Versuch, mithilfe eines Lexikons das Wesen zu erkennen, das diese Knochen einst besaß, scheiterte kläglich. „Eignet sich wunderbar als Schlägel für eure Trommeln“, meinte der Vater. Und diese Idee mussten die Brüder sofort ausprobieren. Sie holten ihre Handtrommeln hervor und wollten im Wohnzimmer ein „Konzert“ geben. Nach drei Schlägen stand ihre Mutter vor ihnen: „50 m vom Haus entfernt, am besten 100!“ Was das hieß, wussten die Jungs. Sie nahmen ihre Trommeln, ihre neuen Knochenschlägel und liefen auf die große Wiese. Hier trommelten sie so drauflos, dass am Nachbarhaus schnell das offene Fenster geschlossen wurde. Also nahmen sie ihre Utensilien und liefen bis zum Wandrand. Jetzt saßen sie im grünen Gras und unter ihnen lag das weite Tal. Jeder Ton der Trommel wurde weit getragen, ein Trommelwirbel ließ einen Mann „Ruhe!“ brüllen. Um es sich nicht mit den Nachbarn zu verderben, einigten sich die Jungs auf „leise“ Töne. Zuerst trommelte Anton, dann Martin. Obwohl ihre Handtrommeln gleiche Fabrikate waren, waren die Töne, die die Brüder den Trommeln entlockten, sehr unterschiedlich. Antons Trommel klang dumpf, während Martins Trommel helle, man möchte meinen „leichte“ Töne hervorbrachte. Jetzt einigten sich die Jungs darauf, dass sie abwechselnd ihre Trommeln klingen lassen wollten.

Anton begann: bum, bum, bum! Dann schneller: bum-bum-bum-bum! Und wieder langsamer: bum, bum bum!

Eigenartiges geschah. Als der letzte Ton verklungen war, veränderte sich die Umgebung. Ein durchscheinender Nebel verhüllte das Tal. Die Häuser verschwanden und gaben statt dessen Hütten, die mit Stroh oder Schilf bedeckt waren, frei. Die Brüder saßen auf der Wiese und um sie herum herrschte reges Treiben. Menschen, gekleidet wie aus einem Buch über die Steinzeit, liefen beschäftigt umher. Da holten zwei Halbwüchsige Wasser in einem Lederbehältnis von einer kleinen Quelle, ein Alter saß ihnen gegenüber und bearbeitete mit einem Steinmesser ein Stück Fell. An einer Kochstelle, keine 20 m von den Jungs entfernt, schürte eine Frau das Feuer. Zwei Männer, in Fellen gekleidet, trugen ein totes Wildschwein, das sie an einen starken Ast gebunden hatten, auf ihren Schultern. Mehrere Kinder begleiteten die Jäger und riefen laut – Worte, in einer den Brüdern völlig unbekannten Sprache.

„Mensch Anton!“, flüsterte Martin. „Ist das Wirklichkeit?“

„Weiß ich doch auch nicht“, erhielt er als Antwort. „Das ist wirklich unheimlich!“

Und noch unheimlicher wurde es ihnen, als die beiden Jäger schnurstracks zu ihnen kamen. Wären die Jungs nicht aufgesprungen, die beiden Männer wären wohl glattweg über sie gestolpert. Aber keiner der Menschen in dieser Siedlung schien sie, die Brüder Anton und Martin, zu sehen. Jeder ging seiner Beschäftigung nach, die Jungs waren da – aber nicht für die Menschen in dieser Siedlung.

Beim Sprung waren die Trommeln zur Erde gefallen und ein Stück die Wiese hinuntergerollt. Martin griff hastig nach seiner Trommel und berührte unbeabsichtigt die Trommelhaut mit seinem Knochenschlägel. Ein leiser heller Ton, kaum wahrnehmbar, ließ den ganzen Spuk verschwinden.

Der Nebel verschwand genauso schnell, wie er gekommen war, die Hütten waren wieder richtige Häuser – alles war so, wie es immer war.

„Das war ja wirklich verrückt!“, stöhnte Anton. Jetzt löste sich die gewaltige Anspannung der letzten Minuten. Auch Martin war froh, dass er wieder „zu Hause“ war.

„Was meinst du, Anton“, fragte er, „war das Berühren meiner Trommel der Grund, dass der Spuk wieder verschwand?“

„Ja, bestimmt Martin! Du hast recht! Meine Trommel holte den Spuk herbei und deine verjagt ihn!“

Dann tippte Anton sich an die Stirn: „Nee, nee – nicht die Trommel, die Schlägel haben das bewirkt! Das müssten wir gleich mal ausprobieren!“

„Ach bitte, Anton, heute nicht. Mir reicht erst mal dieser kurze Besuch. Als die beiden Männer fast über uns gestolpert wären, dachte ich, jetzt nehmen sie uns gefangen. Und außerdem möchte ich wissen, aus welcher Zeit diese Menschen waren.“

„Da schauen wir gleich nach, Martin“, erwiderte Anton. Und beide Jungs rannten die große Wiese hinunter zum Haus. Dort wurden sie von ihrer Mutter empfangen: „Also heute habt ihr sehr gut getrommelt. Das hat sich wirklich prima angehört. Es war melodisch und leicht – irgendwie beschwingt, einfach nur schön. Wenn ihr das Herrn Mint vorspielt, bekommt ihr ein Solo beim nächsten Auftritt.“

Die Brüder schauten sich verwundert an. Sie konnten sich nicht erklären, wie ihre Mutter zu dieser absurden Feststellung gekommen war. Damit ihre Mutter aber nicht eventuell Fragen zu ihrer “Kunst“ stellen konnte, verdrückten sie sich schnell ins Kinderzimmer. Dort kramten sie in ihren Büchern, um die Zeit zu bestimmen, in der die Menschen, die mit dem Nebel kamen und mit ihm verschwanden, lebten.

„Also, der Alte hatte ein Steinmesser, um das Fell zu bearbeiten“, sagte Anton. Und Martin ergänzte: „Die beiden Jäger trugen eine Axt am Gürtel und hatten den Bogen auf dem Rücken und Pfeile im Köcher.“

„Hast du erkannt, woraus die Axt war?“, fragte Anton.

„Nee, ist das denn wichtig?“

„Ja“, prahlte jetzt Anton mit seinem Wissen, „in der Menschheitsgeschichte werden Epochen nach dem vorherrschenden Material, aus dem Werkzeuge und Waffen gefertigt werden, benannt. Es gibt die Steinzeit, die Kupfersteinzeit, die Bronzezeit und die Eisenzeit. Und diese Epochen werden wieder untergliedert. Wir müssten jetzt das typische Material für diese Zeit finden. Denk mal nach, Martin: War die Axt aus Stein oder Metall?“

Martin zuckte nur mit den Schultern. „Das weiß ich nicht. Ich war froh, dass ich mit dem Mann nicht zusammengestoßen bin.“

„Wir gucken im Internet nach“, schlug Anton vor und beendete damit erst einmal diesen Disput.

Im Internet wurden sie schnell fündig. „So sahen die Häuser aus!“, schrie Martin und zeigte auf die Zeichnungen. „Genauso! Die Häuser waren ganz schön groß und die Dächer mit Stroh gedeckt.“

Auf der nächsten Seite glaubte Martin den Jäger, mit dem er fast zusammengestoßen war, erkannt zu haben. „Das ist der Mann, Anton! Das ist er! Ich erkenne ihn wieder!“

„Mensch, Martin“, knurrte Anton verärgert, „lies erst mal, was druntersteht. Und?“

„Der Mann heißt Ötzi“, antwortete ihm sein Bruder. „So sahen aber auch unsere Jäger aus.“

„Also Ötzi kann das nicht gewesen sein. Der lebte in den Alpen und seine Leiche fand man im Gletschereis.“

„Aber Anton, du hast doch auch die Jäger gesehen – sahen die nicht genauso gekleidet aus? Sie trugen auch Pfeil und Bogen, hatten auch so komische Schuhe an und trugen auch eine Axt am Gürtel.“ Martin beharrte auf seine Meinung und Anton musste anerkennen, dass Martin sehr gut beobachtet hatte. Ja, ihre Erscheinungen stammen aus der Zeit des Ötzis. Schnell fanden sie heraus, dass sie bei Menschen waren, die vor mehr als 5000 Jahren gelebt hatten.

„Also war es am Ausgang der Jungsteinzeit und der Übergang zur Kupfersteinzeit“, fasste Anton in Lehrermanier ihre Recherchen zusammen. Diese Seiten, die sie anklickten, waren so interessant, dass ihre Mutter sie dreimal zum Abendessen rufen musste.

Am nächsten Tag drängte Anton gleich nach der Schule seinen Bruder: „Los Martin, jetzt probieren wir die Knochenschlägel noch einmal aus!“

So rechte Lust auf ein neues, unbekanntes Abenteuer mit Menschen aus der Jungsteinzeit hatte Martin nicht. Nur dem großen Drängen seines Bruders und letztendlich aufgrund der Bemerkung „Mit deinem Knochen kehren wir in unsere Zeit zurück!“ gab Martin nach.

Sie gingen zur selben Stelle und Anton ließ leise sein „Bum-bum!“ ertönen. Er versuchte verschiedene Schlagrhythmen – doch ohne Erfolg.

„Du musst genauso trommeln wie gestern!“, belehrte ihn Martin.

„Ja, weißt du denn noch, wie ich gestern getrommelt habe?“, konterte Anton.

„Na, du hast lang und kurz getrommelt.“

„Martin, was mache ich denn die ganze Zeit. Ich probiere jeden Rhythmus aus.“

Und erneut schallten leise Trommeltöne ins Tal: bum, bum, bum, bum-bum-bum-bum, bum, bum bum.

„Das war´s“, flüsterte Anton. Der lichte Nebel bildete sich und hüllte die Landschaft in scheinbar weiche Watte. Stimmen erklangen, jetzt sah man wieder die Steinzeitmenschen, ihre Hütten und auch ihre Tiere. Ein junger Hund schnüffelte und rannte zu den Jungs. Die beiden Jungs rückten zusammen und versuchten, den Hund fortzuscheuen. Doch der beachtete sie gar nicht, ein grüner Frosch hatte es ihm angetan.

Anton und Martin sahen den Menschen der Steinzeit bei ihren täglichen Arbeiten zu. Da sie wussten, dass sie in dieser Welt nur selbst sehen, aber nicht gesehen werden können, gingen sie jetzt vorsichtig durch das Dorf. Sie konnten einen Mann beobachten, wie er eine Axt mit dem Holzschaft verband.

„Sie kennen bereits das Kupfer“, flüsterte Anton und zeigte auf die Kupferaxt.

„Ötzi hatte auch eine Kupferaxt“, kommentierte Martin. Obwohl er unbewusst laut gesprochen hatte, reagierte keiner der Menschen in ihrer Nähe auf diese Worte.

„Das ist schon eigenartig“, meinte Anton, „wir spazieren durch ein Dorf, das es vor 5000 Jahren gab! Wir erleben Geschichte hautnah! Wir hören und sehen, aber für diese Menschen sind wir nicht vorhanden!“

„Das ist nicht nur eigenartig – das ist schon ganz schön verrückt!“ Martin konnte sich immer noch nicht in diese Welt, die nicht seine Welt ist, versetzen. Steinzeit hin oder her, dieses Abenteuer war nicht nach seinem Geschmack. So drängte er auch seinen Bruder, dass sie wieder in die richtige, in ihre Welt, zurückkehren. Anton gab widerstrebend nach, machte aber zur Bedingung, dass sie morgen wieder in die „Steinzeit gehen“. Ein leiser Schlag ertönte. Martin beendete diesen „Spuk“.

Der nächste Tag brachte den Brüdern ein neues Abenteuer, das eigentlich gar nicht spektakulär begann. Anton klopfte seinen Rhythmus auf der Trommel, Martin stand neben ihm. Eine Biene umschwärmte ihn und hatte es auf die gelbe Blume auf seinem T-Shirt abgesehen. Martin fuchtelte mit den Armen, um das Insekt abzuwehren und da geschah es. Statt die Biene zu treffen, traf er mit seinem Knochen die Trommel. Mitten in Antons Rhythmus erschall das „Bing“ der Trommel. Dann war es aber so, wie es immer war: Der lichte Nebel hüllte die Landschaft in weiche Watte, die Hütten erschienen aus dem Nebel und mit ihnen die Menschen dieser jungsteinzeitlichen Siedlung.

Ein Hund kläffte laut. Die Jungs wollten wie bei ihrem letzten Besuch durchs Dorf spazieren. Besonders Anton interessierte sich für alle Gegenstände, die diese Menschen herstellten und benutzten. Jeder dieser Menschen ging seiner Arbeit nach. Auffallend war, dass heute nur Frauen und Kinder zu sehen waren. Selbst der Alte, der sonst vor seiner Hütte saß und Felle säuberte, fehlte.

Sie stellten sich hinter eine ältere Frau, die einen Teig bereitete. Anton betrachtete mit großem Interesse die Gefäße, die neben ihr standen. Leise sagte er zu Martin: „Diese Verzierungen auf den Gefäßen sehen aus wie die Bandkeramik.“

Das letzte Wort war noch nicht verklungen, als die Frau herumfuhr und zu schreien begann. Dann rannte sie, die Gefäße dabei umstürzend, zu den anderen Frauen und Kindern, die ihr Schreien auf den Platz getrieben hatte.

Anton und Martin sahen sich mindestens zehn Frauen gegenüber, die sich in aller Eile mit Gegenständen, die sie greifen konnten, bewaffnet hatten. Hinter den Frauen drängelten sich kleinere Kinder, die neugierig zu den Brüdern äugten. Jetzt rannten mehrere Halbwüchsige herbei. Sie hielten bei den Frauen an, spannten ihre großen Bögen und zielten mit ihren Pfeilen auf die Brüder. Die Gesichter dieser älteren Jungs zeigten, dass sie sofort ihre tödlichen Pfeile abschießen werden, sollten es zu einem Angriff der beiden fremden Menschen kommen. So bedroht blieben Anton und Martin nichts anderes übrig, als ihre Hände zu heben. Um zu zeigen, dass sie unbewaffnet seien, steckte Anton schnell seinen Knochenschlägel in den Gürtel und hob die Hände so, dass man seine Handflächen sehen konnte. Martin stand mit erhobenen Händen, seinen Schlägel hochhaltend, neben ihm. So standen sie sich mehrere Minuten stumm gegenüber.

Die Situation wurde für die Brüder noch gefährlicher, als ein wolfsgroßer Hund kläffend auf sie zurannte. Knurrend stand er vor ihnen, bereit, bei der kleinsten Bewegung der Kinder zuzuschnappen.

Martin, der vor lauter Furcht stocksteif stand, war das bevorzugte Opfer. Der Hund schielte immer wieder zu dem Knochenschlägel, den Martin mit seiner linken Hand umkrampfte. Dann geschah das Unglück. Der Hund sprang und schnappte nach dem Knochenschlägel. Martin stürzte zu Boden, der Schlägel entglitt seiner Hand und war kurz darauf im Maul des Hundes, der mit seiner „Beute“ davonrannte. Damit war der rettende Knochenschlägel, der sie wieder in ihre Zeit zurückbringen konnte, verloren. Dem Martin standen vor Schreck und Angst die Tränen in den Augen. Anton sprang zu ihm, um ihm aufzuhelfen. Doch jetzt sausten mehrere Pfeile durch die Luft und bohrten sich unmittelbar vor den Jungs in den Boden. Dieses sirrende Geräusch werden die Brüder so schnell nicht vergessen. Anton wusste, dass selbst auf eine Entfernung von 30 Metern und mehr jeder dieser Pfeile ein größeres Tier durchbohren konnte. So flüsterte er Martin zu: „Bleib liegen. Ich versuche, sie abzulenken.“

Anton stellte sich wieder mit gestreckten Armen hin und brüllte: „Wir sind Freunde! Wir tun nichts Böses!“ Er wusste, dass keiner dieser Steinzeitmenschen ihn verstehen konnte. Aber irgendwie hatte sein Brüllen zwei junge Menschen herbeigelockt. Sie waren zwar auch in der typischen Kleidung der Dorfbewohner, doch waren ihre Haare mit bunten Federn verziert und ihr Gesicht wies Spuren von Farbe auf. Sie durchbrachen die Mauer der Dorfbewohner und stellten sich als Schutzschild vor Anton und Martin. Der Junge herrschte die Halbwüchsigen an, die nun ihre Pfeile zum Boden richteten. Das Mädchen wandte sich an die Frauen, die jetzt auch irgendwie betreten ihre „Waffen“ weglegten, aber nicht bereit waren, wegzugehen.

Das Mädchen half jetzt Martin beim Aufstehen. Jetzt standen sich die beiden Brüder und ihre Beschützer gegenüber. Anton übernahm das Handeln. Er zeigte auf sich und sagte: „Anton.“ Dann tippte er auf Martin und der flüsterte leise: „Martin.“ Dem Martin saß der Schreck immer noch in den Gliedern. Da das Mädchen sah, wie furchtsam Martin vor ihnen stand, half sie ihm. Sie lächelte ihn an, legte einen Arm um Martin und sprach mit heller Stimme: „Luiki.“ Dann tippte sie den Jungen an und der sagte: „Kukuo.“

Damit war die Vorstellung beendet. Jetzt erhob der Junge seine Stimme und sprach zu den Frauen und Halbwüchsigen. Das Einzige, was die Brüder verstanden, waren ihre Namen. Anton klang wie Angtoon und Kukuo sprach Martins Namen lang und gedehnt aus: Maaartiiin.

So jung Kukuo und Luiki auch waren, von den Dorfbewohnern wurde ihnen Respekt gezollt. Luiki nahm Martin an die Hand und zog ihn zu den Frauen. Die wichen zurück, um dann aber doch den fremden Jungen in seiner komischen Bekleidung neugierig zu betrachten. Kukuo zog Anton zu den Halbwüchsigen. Diese älteren Jungs standen mit verbissenen Gesichtern, denen man ansah, dass dieser Besuch für sie nur Unheil bedeuten konnte.

Auch als Anton sie anlächelte, zeigten sie keine Annäherungsbereitschaft. Ihre Bögen waren gespannt. Zwar zeigten die Pfeilspitzen zum Boden, aber in Sekundenschnelle konnten die Jungen die Pfeile treffsicher ins Ziel bringen. Kukuo gab es aber nicht auf, die Halbwüchsigen freundlicher zu stimmen. Er zeigte auf Anton und sprach: „Angtoon.“ Nun stellte er die Jungs vor. Alle ihre Namen besaßen ein „u“ oder ein „o“ oder beide Selbstlaute. Anton hörte „Tutou“ und „Moju“, „Lulo“ und „Iok“. Dieser Iok lächelte jetzt als Erster. Er hob seine rechte Hand, öffnete die Handfläche und zeigte damit an, dass er friedliche Absichten habe. So jedenfalls deutete dies auch Anton. Er tat es ihm gleich und hielt ihm anschließend die offene Hand zum Handschlag hin. Dies aber schienen die Menschen nicht zu kennen. Iok wich zurück, dann – Anton lächelte immer noch freundlich – streifte er vorsichtig Antons Handflächen. Als er die Wärme der fremden Hand spürte, war endgültig der Bann gebrochen. Er redete auf seine Kameraden ein und die traten jetzt zu Anton und jeder berührte vorsichtig Antons Hand. Von dem anschließenden Palaver verstand Anton sowieso nichts, aber, dass die Halbwüchsigen ihre Bogen über die Schulter streiften, war ein eindeutiger Beweis für das neue Vertrauen. Und jetzt begann das, was Martin schon seit geraumer Zeit ertragen musste: Man musterte ihn nicht nur, sondern befühlte Kleidung, Schuhe, Haare und begutachtete sogar das Gebiss.

Die Brüder waren froh, dass sie Kukuo und Luiki von den Frauen und Halbwüchsigen wegzogen. Als die Frauen den engen Ring um Martin nicht öffnen wollten, schimpfte Luiki und es fiel ein Namen, der auf die Frauen magisch wirkte: Zakaiku. Da Luiki wirklich sehr laut geschimpft hatte, hatten auch die Halbwüchsigen diesen Namen gehört. Sofort unterbrachen sie ihr Gespräch und erstarrten vor Ehrfurcht. Jetzt gingen Martin und Anton zwischen Luiki und Kukuo vom Dorfe weg. Luiki redete auf die Brüder ein und mehrfach fiel dieser Name „Zakaiku“.

„Was meinst du, wer das ist?“, fragte Martin seinen Brüder.

„Vielleicht der Chef des Dorfes, ein Stammesältester? Ich denke mir aber, dass es so was wie ein Medizinmann oder Schamane ist.“

„Was ist denn ein Schamane, Anton?“

„Ist nur ein anderes Wort für Medizinmann. Schamanen oder Medizinmänner sind die Wissenden bei den Naturvölkern. Sie heilen Krankheiten, beraten die Dorfbewohner und treten mit Geistern und Verstorbenen in Kontakt. Und unsere Steinzeitmenschen haben garantiert auch einen Schamanen. Hast du dir mal die Haare und das Gesicht von Luiki und Kukuo angeschaut, Martin?“ Martin nickte und Anton sprach weiter: „Das Bemalen der Gesichter und das Schmücken der Haare gehörte zu bestimmten Ritualen diese Völker. Denk mal an deine Indianer-Geschichten.“

„Aber die Indianer sind doch keine Steinzeitmenschen, Anton?!“

„Martin, welche Waffen hatten die Prärieindianer, ehe die Weißen kamen? Oder die Indianerstämme im brasilianischen Urwald, die selbst heute kaum Kontakt zu den Weißen haben?“ Und Anton gab die Antwort gleich selbst: „Keine Gewehre, sie benutzen Pfeil und Bogen, Blasrohre, Steinmesser und Steinäxte. Sie sind noch nicht in der Eisenzeit angekommen.“

Martin ließ ein „Aha!“ hören und schwieg.

Still hatten auch Luiki und Kukuo dem Zwiegespräch der Brüder zugehört. Es war, als würden sie die fremde Sprache „aufsaugen“. Luiki wiederholte sogar ganz leise einige Wörter.

Mittlerweile waren sie zu einer weit abseits stehenden Hütte gekommen. Bellend wurden Luiki und Kukuo von einem Hund begrüßt. Martin erkannte ihn sofort - es war der Hund, der ihm den Schlägel weggenommen hatte. Vielleicht kriege ich meinen Schlägel ja wieder, dachte Martin. Er hielt aber einen gebührend großen Abstand zu dem Kläffer, denn der winselte zwar um Luiki und Kukuo, aber die beiden Fremden knurrte und kläffte er nur an.

Die Hütte hatte keine Tür. Diese Funktion übernahm ein Vorhang, der aus verschiedensten Fellen kunstvoll zusammengenäht war. Luiki und Kukuo hielten den Vorhang auf und Anton und Martin begaben sich in die Hütte. Dunkel war es, nur mehrere flackernde Flämmchen verbreiteten ein gespenstisches Licht. Auf Fellen saß ein alter, ein sehr alter Mann. Dünnes weißes Haar hing ihm bis auf die Schultern, von Falten zerfurcht war sein Gesicht und als er den Mund zum Sprechen öffnete, sah man, dass er nur noch einen Zahn besaß. Dass, was er sagte, war mehr gemurmelt, als gesprochen. Kukuo ging aber in eine Ecke und holte zwei Felle, die er dem Alten gegenüber ausbreitete. Mit einer eindeutigen Handbewegung forderte er die Brüder zum Hinsetzen auf. Jetzt saßen Anton und Martin nur einen Meter vom Alten entfernt.

Der Schamane, denn ein solch Kundiger war der Alte wirklich, brabbelte vor sich hin. Seine Augen waren bei seinem Beschwörungsgemurmel geschlossen. Immer und immer wieder warf er zielsicher Kräuter in die Flämmchen, die Luiki und Kukuo vor ihn gestellt hatten. Prasselnd oder knisternd verbrannten die Kräuter und verbreiteten einen wohlriechenden betörenden Duft. Die Brüder starrten auf den Alten, dessen Gemurmel jetzt in einen Singsang überging. Dabei wiegte er sich mit dem Oberkörper. Den Jungs wurden die Augen schwer. Nur mühsam konnte Anton die Augen offen halten, Martin saß bereits mit geschlossenen Augen und stimmte leise in den Singsang ein. Anton, um nicht ebenfalls in Trance zu fallen, schüttelte sich und erhob sich schließlich. Er sah, dass Luiki und Kukuo an der Tür standen und dem Alten mit offenen Augen zusahen. Kukuo winkte Anton und der stellte sich neben die beiden. Hier war er jetzt nur Zuschauer, konnte aber nicht in diesen Vorgang eingreifen. Er sah, wie Martin in die Hosen- und Jackentaschen griff und vor sich die Utensilien ausbreitete. Anton erkannte das Taschenmesser, die kleine Lupe, Glasmurmeln, einen Bleistiftstummel und Papiertaschentücher. Beim Kramen und Herausnehmen der Sachen blieben Martins Augen geschlossen. Er summte leise den Singsang des Alten. Erst als ihn der Schamane mit dem Finger antippte, wurde er hellwach. Später erzählte er, dass der Alte zu ihm gesprochen hatte. Er habe zwar kein Wort verstanden, aber es war ihm, als wollte der Schamane wissen, woher sie kamen und wie diese Welt ist, die er nicht kannte. Und da habe er als Zeichen für diese andere Welt seine Taschen geleert. Niemals hatte er aber Angst vor dem Alten – nein, das Gegenteil war der Fall: Der Schamane gab ihm das Gefühl der Geborgenheit.

Kukuo schlug die Felldecken an der Tür zur Seite. Jetzt kam helles Sonnenlicht in den Raum. Außerdem konnte der betörende Duft besser nach draußen abziehen. Der Schamane begutachtete Martins „Schätze“. Jetzt sahen die Jungs, dass der Alte fast blind sein musste. Er befühlte jeden Gegenstand und hielt ihn so dicht vor die Augen, dass die Jungs sich sicher waren: Der Alte war so gut wie blind.

Seltsames geschah, als der Schamane die Lupe zum Auge führte. „Oi! Oi!“, rief er mit schriller Stimme. Er starrte durch die Lupe, hielt Gegenstände davor und kommentierte immer noch staunend mit „Oi!, Oi!“ Systematisch besah er sich seine Umgebung, die Lupe mal weiter, mal dichter am Auge haltend. Dann forderte er Martin auf, ihm die Funktion des Taschenmessers zu zeigen. Jetzt war es Kukuo, der laut „Oi!, Oi!“ rief, als Martin ein Stückchen Holz nahm und es mit dem Messer bearbeitete. Auch Luiki hatte etwas Besonderes bei Martins „Schätzen“ entdeckt: bunte Glaskugeln. Sie nahm sie in den Mund, ließ sie in der Hand kugeln und betrachtete das Farbenspiel im Licht. Die Funktion der Papiertaschentücher war schnell gezeigt. Aber bei der Demonstration des Bleistiftes musste Anton helfen. Er kramte in seinen Taschen und suchte einen Zeitungsausschnitt. Den fand er schließlich auch in der Gesäßtasche, glättete das Papier, um auf den weißen Rand mit dem Bleistift zu malen. Doch Kukuo`s „Oi!, Oi!“ unterbrach seinen Versuch. Kukuo zeigte mit weit aufgerissenen Augen auf die bunten Bilder. Zu sehen waren Tiere, Menschen, Häuser und Fahrzeuge. Kukuo zeigte mit staunenden Augen auf das Abbild einer Eule und sagte: „Ughu.“ Den Schäferhund hieß bei ihm „Wauh“ und eine Meise wurde von ihm mit „Zschizschi“ benannt. Da die drei Steinzeitmenschen die Fahrzeuge nicht deuten konnten, erhielten sie auch keine Namen. Das Zeichnen mit dem Bleistift erregte kein Erstaunen. Die vielen bunten Bilder waren viel aufregender und interessanter.

Anton und Martin mussten jetzt aber an die „Heimreise“ in ihre Welt denken. Die Sonne neigte sich am Firmament und Anton versuchte, dem Alten seinen Wunsch deutlich zu machen. Er zeigte auf seinen Schlägel und seine Trommel, dann auf Martins Trommel und auf den Hund, der friedlich in einer Ecke der Hütte lag. Ein leiser Pfiff des alten Schamanen und der Hund stand vor ihm. Ein Wink und zwei Worte und der Hund brachte Martins Knochenschlägel zum Alten. Jetzt übernahm der Schamane das Reden in Bildern. Er ließ sich ein Fell bringen, nahm ein verkohltes Holzstück und zeichnete Piktogramme auf die Rückseite. Deutlich waren zwei menschliche Wesen, Mond und Sonne zu erkennen. Auch die Trommeln und die Knochenschlägel zeichnete der Schamane mit geübten Strichen auf das gegerbte Fell. Dann trommelte er mit der Hand auf den Boden: bum, bum, bum, bum-bum-bum-bum, bum, bum, bum. Das war der Rhythmus, der die Brüder in die Welt der Steinzeitmenschen brachte. Zwischen den vier kurzen Schlägen machte der Alte: „Bing!“ Er deutete auf Martins Trommel und bekräftigte: „Bing!“ Die Zeichnungen des Schamanen und seine Trommeldemonstration konnten nichts anderes bedeuten, als dass er die beiden Jungs aufforderte, am nächsten Tag wiederzukommen. Anton nickte dem Schamanen verstehend zu. Der lächelte mit seinem zahnlosen Mund und gab Martin seine Utensilien wieder. Einer Eingebung folgend, gab der dem Alten die Lupe zurück, Kukuo erhielt das Taschenmesser und Luiki strahlte, als ihr Martin die Glaskugeln in die Hand legte.

Mühsam erhob sich der Schamane und schlurfte mit krummen Rücken ins Freie. Anton und Martin folgten ihm, ebenso Kukuo und Luiki. Draußen standen die Dorfbewohner und starrten in gebührend großem Abstand auf die fünf Menschen vor der Hütte. Martin schlug einmal kräftig auf seine Trommel. Das „Bing“ brachte die Jungs in die Gegenwart zurück. Sie standen mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung. Nach Hause waren es keine fünf Minuten. Das war genügend Zeit, sich über das Erlebte zu unterhalten.

„Anton“, meinte Martin, „Oma und Opa haben doch bestimmt noch alte Brillen irgendwo herumliegen, die sie nicht mehr benutzen können. Ob wir die dem Alten morgen mitnehmen? Was meinst du?“

„Prima Idee“, erwiderte Anton, „die Gläser sind zwar garantiert für die schlechten Augen des Alten zu schwach, aber etwas mehr sehen wird er schon können.“

Am nächsten Tag starteten sie gleich nach der Schule ihre Reise in die Vergangenheit. Drei nicht mehr benutzte Brillen hatten sie von den Großeltern ergattern können. Anton hatte noch drei extra geschärfte Küchenmesser in den Gürtel gesteckt und Martin meinte, dass Streichhölzer bestimmt für Steinzeitmenschen ein willkommenes Geschenk seien.

Sie begaben sich zu der Stelle, an der sie die Hütte des Alten zu wissen glaubten. Anton begann zu trommeln und Martin setzte an der richtigen Stelle sein „Bing“. Es war so wie immer, der lichte Nebel breitete sich aus und direkt vor ihnen erblickten die Jungs auch die Hütte des Alten. Sie hatten den Standort für ihre Zeitreise richtig gewählt.

„Weißt du noch, wie der Alte hieß?“, fragte Anton seinen Bruder.

„Ich glaube, er hieß Zakaiku – oder so ähnlich“, antwortete Martin.

„Nee, Zakaiku ist richtig! Ich rufe ihn mal!“

Und Anton schrie: „Zakaiku!“ Erst beim dritten Ruf öffnete sich der Fellvorhang und der alte Schamane trat vor die Tür. Bestimmt konnte er die Jungs nicht erkennen, aber Antons Stimme musste ihm bekannt vorkommen. Er winkte die Brüder zu sich und tapste langsam, sich am Vorhang festhaltend, zurück in die Hütte. Die Jungs folgten ihm.

Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckten sie Kukuo und Luiki. Sie waren in Trance gefallen und wiegten sich mit geschlossenen Augen hin und her.

“Sie haben Kontakt mit den Verstorbenen oder den Geistern der Steinzeit aufgenommen“, flüsterte Anton Martin zu.

„Der Alte bildet Kukuo und Luiki bestimmt zu Schamanen aus“, erwiderte leise Martin.

 Ehrfürchtig standen die Brüder und beobachteten das einzigartige Schauspiel. Sie sahen, wie sich Luiki erhob und mit mehreren Tanzschritten die Feuerstelle in der Mitte des Raumes umrundete. Kukuo`s Singsang wurde jetzt immer lauter und fordernder. Heftig wiegte er sich im Rhythmus, er verdrehte die Augen, Schaum bildete sich vor dem Mund und ein brüllender Schrei beendete seine Trance. Der Alte hatte ihn mit seinem Finger berührt. Kukuo stürzte schwer atmend zu Boden. Auch Luiki holte der alte Schamane in die Wirklichkeit zurück. Beide hatten bis jetzt die Brüder nicht wahrgenommen. Dagegen waren die Sinne des Alten aufs Äußerste gespannt. Im Gegensatz zu seinen Augen war sein Gehör noch bestens erhalten. Draußen waren jetzt immer lauter werdende Stimmen zu hören. Der Schamane stand wie erstarrt vor dem Eingang, Luiki und Kukuo hatten sich von ihrem „Geisterbesuch“ noch nicht erholt. „Kaiku“, rief eine Männerstimme, „Kaiku!“ der Vorhang wurde heftig zurückgeschlagen und eine sehr kräftige Männergestalt füllte die Türöffnung aus. „Kaiku!“, brüllte der Mann und blickte sich in der Hütte um. Jetzt erblickte er die Brüder und schritt zu ihnen. Der alte Schamane stellte sich ihm in den Weg und rief mit schriller Greisenstimme: „Zakaiku!“ Und immer wieder rief er seinen Namen und zeigte mit dem Finger auf sich. Doch das berührte den fremden Mann nicht. Er stieß den Alten heftig zur Seite und zerrte die beiden Jungs an den Armen nach draußen. Dort standen sie jetzt und wurden von mehreren Männern umringt. Keiner wagte aber, zu nahe an die Jungs heranzutreten. Nur die Halbwüchsigen kamen zu dem Mann, der wohl der Anführer oder der Chef der Dorfgemeinschaft war, und bestätigten mit „Kaiku“, dass dies die Fremden wären.

Jetzt ergriff der Mann Antons Arm. Anton schrie vor Schmerz laut auf und wehrte sich gegen den Grobian. Doch je mehr er zappelte und sich wehrte, umso heftiger wurde der Klammergriff. Wütend schlug jetzt Anton um sich und traf doch wirklich den Mann im Gesicht. Der holte mit der anderen Hand aus und haute sie voller Wucht Anton ins Gesicht. Der flog zur Seite und blieb bewusstlos im Gras liegen.

„Du hast meinen Bruder umgebracht!“, schrie Martin und sprang den Mann an, zerkratzte ihm das Gesicht und erhielt dafür einen heftigen Stoß, der ihn neben Anton beförderte. Der Anführer erteilte Befehle. Trommeln und Knochenschlägel der Jungs wurden vor die Hütte des Schamanen geworfen. Anton und Martin wurden von mehreren Männern ergriffen und in einen kleinen aber festgebauten Behälter gesperrt. Dieser Behälter war eine Art Käfig, geflochten aus den Zweigen der Waldreben und diente den Jägern zur sicheren Aufbewahrung gefangener Tiere. Diesen Käfig trugen zwei Männer in eine Hütte, deren Tür sie gut von außen verriegelten. Anton war immer noch bewusstlos. Martin untersuchte ihn so gut es in dem Dämmerlicht und der Enge des Käfigs ging und stellte fest, dass sein Bruder am Hinterkopf blutete. Als Martin vorsichtig die Wunde mit einem Taschentuch abtupfte, schlug Anton die Augen auf. „Wo ist der Kerl“, fragte er Martin. Und Martin erzählte.

„Wir müssen hier raus!“, sagte Anton und zerrte an dem Flechtwerk. Doch da bewegte sich nichts - die Steinzeitmenschen verstanden sich auf das Bauen solcher Käfige. Nur wenig Licht fiel in den Käfig. Es reichte aber aus, um zu erkennen, dass bereits ein Tier mit einem scharfen Gebiss an mehreren Stellen versucht hatte, die Reben durchzubeißen.

„Martin, wir haben doch die Messer. Das schaffen wir“, flüsterte Anton. Sie suchten sich die Stellen aus, wo das Tier schon gute Vorarbeit geleistet hatte. Dank der frisch geschärften Messer und ihrem Willen, sich zu befreien, krochen die Jungs schon nach wenigen Minuten aus dem Käfig, um festzustellen, dass sie noch ein weiteres Hindernis zu überwinden hatten. Dass der Käfig in einer Hütte stand, das hatten sie bereits aus ihrem Gefängnis sehen können. Da aber Licht zu ihnen kam, nahmen sie an, dass diese Hütte Fensteröffnungen hätte, durch die man fliehen könnte. Eine Öffnung war zwar vorhanden, aber die befand sich am Dachfirst und diente als Rauchabzug. Die Wände der Hütte waren mit ihren Messern nicht zu zerstören, die Tür war aus starken Bohlen gefertigt. Die Brüder beratschlagten.

„Wir können versuchen, uns unter der Hütte durchzugraben“, meinte Martin. „Oder über die Öffnung im Dach“, erwiderte Anton und betrachte die Dachöffnung. Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen. Draußen raschelte und kratzte es. Dann hörten die Brüder: „Angtoon?“ Kurze Pause, dann: „Maaartiiin?“ Das war eindeutig Kukuos Stimme. Anton rief: „Kukuo!“ Stille war. Eine Männerstimme schimpfte, dann war wieder Ruhe.

„Ich war wohl zu laut“, flüsterte Anton. „Ob Kukuo erwischt wurde?!“

Aber die Antwort gab Kukuo selbst. Auf dem Dach raschelte es, dann erschien Kukuos Gesicht in der Dachöffnung. Er ließ vorsichtig eine starke Waldrebe hinunter. Seine Absicht war damit klar, er wollte seine beiden Freunde über die Dachöffnung in die Freiheit holen. Anton band die Rebe um Martins Brust. Kukou zog und Anton schob. Die letzten 1 ½ Meter musste Kukuo allein Martin hochziehen. Dann, als Martin die Dachöffnung erreicht hatte, griffen zwei Mädchenhände nach seinen Händen. Luiki half Martin aufs Dach. Anton hochzuziehen war aufgrund seines größeren Gewichtes bedeutend schwieriger. Schon griff er mit den Händen nach der Dachkante, da löste sich der Knoten in der Rebe. Anton umklammerte hastig die Rebe, um nicht abzustürzen. Kukuo hielt diese verbissen, mit vor Anstrengung hochrotem Kopf. Martin und Luiki ergriffen Antons Arme und zogen ihn aufs rettende Dach. Das war geschafft! Vier Kinder lagen auf dem Dach und atmeten schwer. Der Rest der Flucht war dagegen einfach: Sie rutschten vorsichtig vom Dach auf die Erde und bewegten sich geduckt, teilweise auch kriechend, zur Hütte des Schamanen. Luiki, die die Gruppe anführte, nutzte jede Deckung aus. Kein Zweig zerbrach unter ihren Füßen. Anton und Martin eiferten ihr nach, ab und zu raschelte doch das Laub und zerbrach mit leisem Knacken ein Zweig. Kukou sicherte mehrere Meter dahinter die Flucht. Unentdeckt erreichten sie die Hütte auf der Waldlichtung. Der alte Schamane lag schwer atmend auf den Fellen. Der heftige Stoß, den er erhalten hatte, war wohl für seinen alten Körper zu viel gewesen. Luiki eilte zu ihm und gab ihm eine Tonschale, die sie von dem kleinen Feuer nahm. Vorsichtig schlürfte der Alte die dampfende Flüssigkeit. Sie schien seine Kräfte zu mobilisieren, denn er setzte sich jetzt aufrecht. Anton kramte in seinen Taschen und holte die drei Brillen hervor. Eine Fassung war zwar etwas verbogen, aber alle Gläser waren heil geblieben. Er demonstrierte dem Alten die Benutzung der Brille und setzte sie auf. Dann gab er sie dem Schamanen. Luiki half dem Alten und nach kurzer Zeit murmelte der: „Oi!“ Nacheinander setzte nun Luiki auch die beiden anderen Brillen auf. Bei der dritten Brille rief der Alte freudig: „Oi!, Oi!“ Er konnte sehen. Mit Gesten und Worten befahl er jetzt Kukuo, die Trommeln der Brüder zu holen. Doch wir erschrocken waren die, als sie sahen, dass ihre Trommelbespannung kaputt und die Schlägel zerbrochen waren.

„Jetzt müssen wir in der Steinzeit bleiben!“, rief erschrocken Martin aus und schaute ängstlich zu seinem älteren Bruder. Doch der starrte immer noch fassungslos auf die kaputten Trommeln und die zerbrochenen Knochenschlägel. Der Schamane hatte die Brüder beobachtet. Nun bestimmte er das Handeln. Luiki huschte aus der Hütte und kehrte mit zwei Fellen zurück, die der Alte prüfend vor die Brille hielt. Kukuo nahm Maß, indem er ein Fell über den Trommelrand spannte. Mit einem Stück Holzkohle malte er den Rand auf und begann nun mit einem sehr scharfen Steinmesser, das Fell zu beschneiden.

„Hier“, sagte Anton und zog ein Messer aus dem Gürtel. Da Kukuo nur verwundert aufblickte und mit dem glänzenden Ding nichts anzufangen wusste, schnitt Anton vorsichtig das Fell weiter zu. „Oi!“, sagte Kukuo und übernahm vorsichtig das Messer und schnitt damit. „Oi!, Oi!“, rief Kukuo begeistert und zeigte dem Schamanen und Luiki das Messer. Jetzt übergab Anton auch den beiden ein Küchenmesser aus bestem Stahl. „Oi!“ hörte Anton und sagte leise zu Martin: „Das `Oi!´ steht wohl für alles, auch für `Danke!´!“

Schnell waren die beiden Felle zugeschnitten. Der Schamane prüfte und nickte. Kukuo spannte ein Fell und Luiki zurrte eine starke Sehne fest. Der Alte prüfte den Klang und spannte das Fell geschickt nach. Erst nach wiederholtem Versuch war er mit dem Ergebnis zufrieden. Auch die zweite Trommel wurde so repariert.

Jetzt war die Stunde des Abschieds gekommen. Der Schamane nahm Martins kaputten Knochenschlägel und haute scheinbar auf die Trommel. Sein „Bing“ war eindeutig – die Jungs konnten in ihre Zeit zurückkehren.

Martin nahm nun seine beiden Knochenhälften und wollte mit seinem Schlag auf die Trommel die Steinzeit wieder verlassen. Doch Antons „Warte!“ ließ seine erhobene Hand erstarren. „Martin, die Streichhölzer!“

Martin suchte in seinen Taschen und holte drei Streichholzschachteln hervor. Seine Demonstration erfüllte die Hütte mit sehr lautem „Oi!, Oi!“ Fast ängstlich nahm Kukuo ein Streichholz und rieb es an der Schachtel. Das Holz zündete und Kukuo warf es voller Furcht weit von sich. In der Ecke flog das Streichholz auf trockenes Heu und kleine Flammen züngelten hervor. Geistesgegenwärtig nahm Luiki eine Schale mit Wasser und löschte das Feuer.

„Martin, zeige noch einmal, wie man das Streichholz entzündet, und lass es in deiner Hand vorsichtig abbrennen.“ Und Martin tat dies betont langsam. „Oi!, Oi!“ war der Kommentar der drei Steinzeitmenschen für diese Demonstration. Martin gab jedem eine Streichholzschachtel, aber nur Luiki wiederholte vorsichtig Martins Demonstration.

Jetzt stand dem Abschied nichts mehr im Wege, ja –, wenn der Schlägel auf Martins Trommel nur sein „Bing!“ erklingen lassen würde. So oft auch Martin mit dem einen Teil des zerbrochenen Schlägels auf die Trommel haute, ein „Bing!“ gab sie nicht her. Er nahm den anderen Teil, hielt beide Teile zusammen und haute dann – auch kein Ergebnis.

Eindeutige Gesten des Alten ließen Martin mit seinen Versuchen aufhören. Er gab dem Schamanen die beiden Hälften und der befahl etwas Kukuo und Luiki. Geschäftiges Treiben, Fragen und Antworten erfüllte die Hütte. Anton und Martin saßen und schauten nur. Kukuo machte über dem Feuer Bienenwachs flüssig, Luiki schnitt mit einem Steinsplitter, der in einem Knochen befestigt war, feine Sehnen zu dünnen Fäden, die sie dann in das flüssige Wachs tat. Die Schüssel erhielt der Alte. Er griff in das heiße Wachs und unter vielen Beschwörungen umwickelte er den kaputten Knochen, sodass er wieder fast wie ganz aussah. Dann schwenkte er den Schlägel, wahrscheinlich um das Wachs abzukühlen, in der Luft hin und her und mit lautem „Bing!“ übergab er Martin den Knochen.

„Ich hoffe, es klappt“, murmelte Martin.

„Los, hau schon drauf! Es klappt bestimmt!“ Anton machte Martin Mut. Der hob den Schlägel und haute auf die Trommel. „Bing“, ertönte es. Nebel bildete sich und die Brüder sahen, wie ihre Freunde aus der Steinzeit die rechte geöffnete Hand hoben und sich mit diesem Gruß von den Menschen aus einer anderen Zeit verabschiedeten. Anton und Martin taten es ihnen nach. So saßen sich fünf Menschen mehrere Augenblicke gegenüber, bis der Nebel alles Steinzeitliche verschwinden ließ.

Die Brüder saßen dort, wo sie ihre Zeitreise angetreten hatten. Ihre Trommeln waren defekt, Martins Knochenschlägel lag zerbrochen in seiner Hand.

„Das zu reparieren kostet viel Taschengeld“, kommentierte Anton den Zustand der Trommeln.

„Aber wir sind wieder zu Hause!“, hielt Martin dagegen.

„Hast ja recht, kleiner Bruder“, grinste Anton. „Zu Hause ist es doch am schönsten, stimmst?!“

Martin hielt seine beiden Knochenhälften wurfbereit in seinen Händen. „Soll ich?“, fragte er.

„Mach‘s, hau sie weit weg. Ich habe auch genug von diesem Abenteuer!“

Und Martin machte den wohl weitesten Wurf seines jungen Lebens. Die Knochen flogen in den Wald und auch als die Brüder viel später einmal danach suchten, die Knochen fanden sie nicht wieder. Es sollte wohl nicht sein!