Kinderseite Nr. 3: "Jakob von Winburg"

"Jakob von Winburg"

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von Joachim Größer (2007)

 

Wandertag war angesagt. Die Schüler der 4. Klasse hatten sich gut auf diesen Tag vorbereitet. Sie nähten mittelalterliche Kostüme, bastelten Waffen aus dieser Zeit und wussten so allerhand, über das Leben der Menschen auf einer mittelalterlichen Burg auszusagen. Doch das Besondere an dieser Burgbesichtigung war: Diese Burg gehörte ihnen für fünf Stunden und alle Räume – selbst Folterkammer und Verlies – konnten besucht werden.

Am frühen Morgen stand die gesamte Klasse 4, gekleidet in mittelalterlichen Kostümen, bereit, die Winburg zu erobern. Die festen Mauern kündeten von dem Schutz, den die Burg ihrer damaligen Herrschaft geben sollte. Heute bestand die Herrschaft aus der Wirtsfamilie, die in prächtigen Kostümen die 19 Mädchen und Jungen willkommen hießen. Der Wirt, fast 2 Meter groß und bestimmt 2 ½ Zentner schwer, verkündete mit grollender Stimme: „Willkommen, ihr tapferen Ritter, ihr hübschen Burgfräuleins, ihr fleißigen Bediensteten! Die Burg gehört euch!“ Dann griff er nach einer riesigen Papierrolle, öffnete sie und las das Tagesprogramm vor. „Von 9 bis 10 Uhr freie Besichtigung. Ein jeder gehe dorthin, wohin es ihm gefällt. Meine Knechte und Mägde stehen bereit, euch zu dienen!“ Und er zeigte auf vier junge, ebenfalls kostümierte Bedienungskräfte. „Mein holdes Weib, die liebliche Burgherrin, bereitet für euch in der Küche die Speisen. Wer bereits Hunger verspürt, ist auch zwischendurch bei ihr willkommen!“ Seine liebliche Herrin wog bestimmt zwei Zentner und sah eigentlich so aus, wie man sich eine gute Köchin vorstellt.

Der Wirt holte tief Luft und grollte weiter: „Von 10 bis 11 Uhr wird eure Aufseherin, Frau Claus, alle befragen, wird euer Wissen prüfen und wer nichts weiß ..., der kommt ins Verlies! Dort wird er dann von Mäusen besucht und darf nicht am legendären Rittermahl, das pünktlich – ich wiederhole - das pünktlich um ¾ 12 bereitsteht, teilnehmen!“

Der Wirt schaute sich seine Gäste an. „Noch Fragen?“, brummte er.

„Ja, was ist zwischen 11 und ¾ 12?“, fragte die Kleinste der 4. Klasse.

„Gute Frage! Du erhältst bei meiner Burgherrin das größte Stück Fleisch als Belohnung. Also - in dieser Zeit seht ihr den furchtbaren Kampf zwischen dem Ritter Balduin und seinem Herausforderer Ritter Fridolin. Es geht um Leben und Tod! Die Mutigsten unter euch erhalten eine Anleitung zum Kämpfen und streiten dann mit Schwert und Schild, mit Spieß und Axt!“

„Cool!“, rief Yannick. „Wer will mit mir kämpfen?“

Am liebsten wäre aber jetzt Yannick ein Mäuschen geworden und hätte sich im Mauseloch verkrochen. Ein Mann, gerüstet wie ein Held aus einem mittelalterlichen Abenteuerfilm, betrat nämlich den Burgplatz. „Ich werde mit dir kämpfen!“, rief er und schlug mit dem Schwert gegen seinen Schild, dass es nur so krachte. „Als Herausforderer bestimmst du die Waffen und alle der hier Anwesenden sollen Zeugen eines mächtigen Kampfes werden.“ Und wieder ließ er es krachen. Und ein zweiter Recke betrat den Platz. „Und wer kämpft mit mir? Auch du?“, rief er und musterte Yannick von oben bis unten. Und Yannick antwortete schnell: „Nein danke, mir reicht ein Kampf, aber mein Freund will best...!“

Antons Puff in die Seite ließ ihn verstummen. „Wer ist dein Freund?“, wollte nun der Ritter wissen. Und alle Mitschüler zeigten auf Anton. So war Anton zum Kampf mit dem Ritter Fridolin verdonnert.

Der Wirt hatte alles Wichtige verkündet und damit war jetzt Burgbesichtigung angesagt.

Achtzehn Kinder, geputzt und in mittelalterlicher Tracht geschmückt, stürzten zuerst in das Verlies. Anton blieb allein auf dem Burgplatz zurück. „Na, hat dich der Kampf mit dem Ritter Fridolin so erschreckt?“, fragte ihn lächelnd der Wirt. „Nee“, erwiderte Anton, „erschreckt nicht. Nur ist jetzt da unten solch Gedrängel, dass man sich nichts in Ruhe anschauen kann. Wenn alle oben sind, gehe ich nach unten.“

„Gar nicht schlecht, deine Überlegungen“, meinte der Wirt. „Komm, ich zeige dir etwas. Das werden die anderen nicht zu Gesicht bekommen.“

Der Wirt ging zum kleinen Turm, dessen Eingang mal gerade ein Meter in der Höhe maß. Verschlossen war er mit einem schmiedeeisernen Gitter. Der Wirt zog einen mächtigen Schlüssel vom Schlüsselbund und gab ihn Anton. „Geh von hier aus den unterirdischen Gang entlang. Du kommst dann zu einer Pforte, die du auch mit diesem Schlüssel öffnen kannst. Gleich neben der Pforte liegen mehrere alte weiße Tücher. Damit kannst du dich als Gespenst verkleiden und deine Klassenkameraden erschrecken. Diesen Gang kennt nur meine Familie. Früher haben meine Söhne, sie waren damals noch Kinder, die Gäste erschreckt. Aber heute ...“ Der Wirt grinste, als er weitersprach: „... heute haben sie meine Statur und würden garantiert im Gang stecken bleiben.“

„Dann sind die beiden Ritter Ihre Söhne?!“

„Pst! Nicht weitersagen!“, feixte der Wirt. „Sie sind Studenten und schwänzen heute die Vorlesung, um mit euch zu kämpfen.“

Anton drehte den schweren Schlüssel im Schloss. Das knirschte und klackte und knackte und quietschend öffnete Anton die kleine Pforte. Einen finsteren, dunklen Gang bekam Anton zu Gesicht. Er drehte sich zum Wirt um, der die gesamte Öffnung mit seiner Leibesfülle verdeckte.

„Hätten Sie eine Lampe für mich?“, fragte Anton.

„Lampe? Lampe?“, antwortete der Wirt und begann, in seinen Taschen zu kramen. Dabei richtete er sich auf und ein fürchterliches Gebrüll erschreckte jetzt Anton. Der Wirt hatte sich am Kopf gestoßen und dabei vor Schmerz aufgeheult. „Klingt doch schauderhaft schön?“, sagte er grinsend. „Ich werde noch öfters so heulen. Der Gang überträgt nämlich das Geräusch bis zur Folterkammer. Deine Mitschüler werden einen schönen Bammel kriegen!“ Anton glaubte, selbst im Halbdunkel das breite Grinsen des Wirtes zu erkennen. „Hier!“, sagte der und zog eine kleine Taschenlampe aus einer Hosentasche. „Die ist zwar ein bisschen zu hell für ein Gespenst. Du kannst sie ja mit weißem Tuch umhüllen.“

So ausgestattet kroch Anton durch den Gang. Nie war dieser Gang so hoch, dass er hätte aufrecht gehen können. Auch war er aus dem anstehenden Gestein geschlagen und viele spitze Vorsprünge rieten zur Vorsicht. Dann erreichte er die Zwischenpforte. Obwohl der Wirt ihm gesagt hatte, dass er noch mehrmals brüllen werde, erschrak Anton jetzt. Ein furchtbares „Huuuuiiieeee!“ erfüllte den gesamten Gang. Und es war so laut, dass man glauben konnte, der Wirt stände hinter Anton. Anton nahm sich ein weißes Tuch, das neben der Pforte lag. Aber hatte der Wirt nicht von mehreren Tüchern gesprochen? Anton drehte sich, so gut es in dem schmalen Gang ging, um und erschrak fürchterlich. Hinter ihm stand ein weißes Gespenst. Eine Gestalt, kleiner als Anton, war in weißes Tuch gehüllt. „He, wer bist du denn?“, rief Anton erschrocken und der Gang trug seine Stimme weiter und die Mitschüler hörten in der Folterkammer „... bist du denn?,... bist du denn?“

„Ich wohne hier und heiße Jakob“, antwortete die weiße Gestalt. Nur wurde seine Stimme nicht durch den Gang weitergeleitet.

„Wie, du wohnst hier? Bei dem Wirt? Auf der Burg?“

„Auf der Burg, denn ich bin der Besitzer!“ Stolz klang die Antwort.

„Aber, der Wirt ...“ Hier wurde Anton von einem Mark und Bein durchdringenden Geheul des Wirtes unterbrochen. Doch die Antwort auf seine Frage gab die weiße Gestalt: „Der da so brüllt ist mein Vasall! Ich bin der Herr - ich, Jakob von Winburg! Meine Familie gehört einem uralten Geschlecht an, die einst sogar zu Königen und Kaiser gekrönt wurden!“

„Übertreibst du da nicht ein wenig?“, erwiderte Anton. „Soviel ich weiß sind die Winburgs schon seit mehr als 500 Jahren ausgestorben.“

„Lüge!“, brüllte die kleine weiße Gestalt und warf den Umhang zur Seite. Vor Anton stand im Licht der Taschenlampe ein Junge, nicht älter als er selbst, gekleidet in Samt und Seide. „Sieh her, du menschlicher Wurm, sieht so ein Nichts aus? Ich bin es, ich – Jakob von Winburg, Herr über drei Städte und 15 Dörfer! Vor 500 Jahren schwor ich, dass ich nicht sterben werde, ohne mich an meinen Feinden zu rächen. So warte ich nun auf die Mörder meiner Familie, um sie zu richten. Doch keiner kommt, um mit mir zu kämpfen.“

Richtig traurig sah der Jakob von Winburg jetzt aus. Doch dann schreckte er hoch: „Oder - bist du ein Graf von Katzenbuckel?“

„Ich und ein Graf?“ Anton lachte und die Mauern verstärkten sein Lachen zum Gedröhn. „Ich bin Anton, Schüler der 4. Klasse und zu Besuch auf der Winburg.“

„Ach, das wäre auch zu schön gewesen“, seufzte Jakob.

Dem Anton kam das alles schon längst sonderbar vor. Er vermutete, dass der Wirt ihm den kleinen Jakob hinterhergeschickt hätte, damit er sich erschrecken solle. „Hör mal, Jakob“, sagte er deshalb, „ich will meine Klassenkameraden erschrecken. Machst du mit?“

„Oh“, erwiderte Jakob, „im Gespenstern bin ich gut!“

„Dann nimm dein weißes Tuch wieder“, antwortete Anton und wollte dem Jakob beim Umlegen behilflich sein. Doch jetzt erlebte Anton eine böse Überraschung. Er konnte durch den Jakob von Winburg hindurchfassen. Anton wurde blass – so blass, wie der weiße Umhang, den er trug.

„Du, du ...“, stammelte er, „du bist, du bist ja wirklich ein Gespenst!“

„Ja, hast du das nicht gewusst?“, fragte ihn lächelnd Jakob. „Ich sagte doch, dass ich nicht sterben werde, ohne mich an meinen Feinden gerächt zu haben! Also muss ich seit 500 Jahren leben! Ist das so komisch, dass du dich so verändert hast? Du siehst ja fast so weiß aus, wie ein Gespenst!“

Und jetzt lachte Jakob, das Gespenst, und dieses Lachen übertrugen die Mauern zu den Mädchen und Jungen im Verlies und der Folterkammer.

Die Ängstlichsten hatten schon lange die Flucht ergriffen. Dieses Geheul, dieses Lachen, das durch Mark und Bein drang, war aber auch zum Fürchten. Trotzdem standen noch zehn Mädchen und Jungen und erwarteten etwas Besonderes – was das sein könnte, das wusste keiner.

Und so erlebten diese zehn Mutigen der 4. Klasse etwas Unglaubliches. Mit lautem Knarren und Quietschen kündigten sich die beiden Gespenster an. Dann, unverhofft für alle, krochen aus einer schmalen Maueröffnung zwei in weiße Tücher gehüllte Gestalten. In dem Dämmerlicht des Verlieses leuchtete das eine Gespenst. Das andere schwebte um die Mädchen und Jungen und heulte dabei schauderhaft. Nur das Kreischen und die Hilfeschreie der jetzt Flüchtenden übertönten das kleine Gespenst. Zurück blieben im Verlies nur Yannick und Robin. Yannick glaubte nämlich, in dem einen Gespenst seinen Freund Anton erkannt zu haben. Also schrie er: „Kämpfe mit mir, Verruchter!“ Er zog sein Holzschwert und stellte sich zum Kampf. Doch nicht der vermeintliche Anton, sondern dieses andere, scheinbar schwebende Gespenst war bereit zum Kampf. Es warf den weißen Umhang ab und brüllte: „Ich, Jakob von Winburg, stelle mich jedem Kampf!“ Er zog aus der ledernen Scheide ein Schwert, das ebenfalls aus Holz gefertigt war. Nur hatte die Zeit das Holz ganz dunkel gefärbt. Und Yannick griff das Gespenst, das sich Jakob von Winburg nannte, an. Robin, auch als Ritter verkleidet, zog sein Holzschwert und stürzte sich auf Anton. Der hatte seinen weißen Umhang nicht abgetan, sondern parierte Robins Attacke geschickt, indem er ihr auswich. Yannick gelang es, dem Jakob nicht nur Paroli zu bieten, sondern hieb gekonnt auf ihn ein und traf den Jakob. Yannick erstarrte und wurde so blass, wie es sein Gegenüber war. Er - Yannick, Schüler der Klasse 4, hatte seinen Gegner mit dem Holzschwert durchbohrt! Yannick sah, wie sein Schwert aus dem Rücken des Gespenstes austrat. Er ließ sein Schwert los. Aber das Schwert blieb nicht im Körper des anderen stecken, es fiel es polternd zu Boden. Sein Gegenüber, der Jakob von Winburg, verzog sein Gesicht zuerst zu einem breiten Grinsen und dann lachte er und lachte und lachte ... Dieses Lachen hallte an den Wänden wider und es war, als wollten die alten Mauern bersten.

Jetzt gab es für Yannick kein Halten mehr. Schreiend lief er zum Ausgang, gefolgt von Robin, der dieses Schauspiel beobachtet hatte.

Auf dem Burghof empfing sie lachend der Wirt. „Na, habt ihr mit dem Gespenst gekämpft?“, rief er fröhlich. „Ich, ich habe es durchbohrt!“, keuchte Yannick, immer noch kreidebleich vom Schreck und Robin bestätigte dies. „Mitten durch den Körper hat Yannick sein Schwert gestoßen – mittendurch!“

Der Wirt, der glaubte, die Fantasie geht mit den beiden Jungs durch, antwortete lachend: „Ja, ja, unsere Gespenster sind berühmt!“

Anton hatte sich inzwischen wieder zurück in den unterirdischen Gang begeben.

„Willst du schon wieder gehen?“, fragte Jakob. Traurig sah Jakob aus. „Wie lange muss ich jetzt wohl wieder warten, ehe mich jemand besucht.“ Und Anton glaubte, eine Träne aus dem linken Auge des Gespenstes herausrollen zu sehen.

Und da dieses Gespenst, das nun schon 500 Jahre auf den Kampf mit dem Mörder seiner Familie wartet, dem Anton leidtat, sagte er: „Jakob, ich komme wieder – das verspreche ich dir. Und ein Versprechen habe ich immer gehalten!“

„Hier, nimm den Schlüssel für die Pforte“, sagte Jakob freudig. „Komme, so oft du kannst! Ich lehre dir auch Geheimnisvolles, und wenn du magst, erfährst du auch Unheimliches!“

„Jakob, kann ich auch meinen kleinen Bruder Martin mitbringen?“

Jakob von Winburg runzelte die Stirn. „Na ja, er muss aber älter als 7 Jahre sein“, sagte er dann. Schmunzelnd fügte er hinzu: „Du sagst aber nichts von mir, abgemacht? Ich erschrecke doch so gerne kleine Kinder!“

„Abgemacht, Jakob! Jetzt muss ich aber gehen, sonst fällt es auf, dass ich fehle. Tschüss, Jakob!“

„Anton“, flüsterte das Gespenst, „du erlebst heute noch eine Überraschung!“

„Was für eine Überraschung?“, fragte Anton und versuchte, sich in dem engen Gang zu Jakob zu drehen. Doch der schwebte davon und Anton hörte ihn nur wispern: „Überraschung, Überraschung, Überraschung!“

Antons Mitschüler hatten seine Abwesenheit noch gar nicht bemerkt. Alle standen um Yannick und Robin herum und die erzählten zum x-ten Male die Geschichte vom Kampf mit dem Burggespenst.

Abseits stand der Wirt und begrüßte Anton: „Du musst ja gut gewesen sein, mein Freund. Der Junge da ist ja hellauf begeistert.“ Der Wirt zeigte auf Yannick, der den Kampf nachgestaltete.

„Na ja“, erwiderte Anton, „der Yannick übertreibt wohl etwas.“

Jetzt war für Anton klar, dass der Wirt von der Existenz des Jakob von Winburg nichts wusste. So schlenderte er zu seinen Mitschülern. Yannick sah ihn und rief: „Anton, warst du nun im Verlies? Warst du eines der Gespenster? Hast du gekämpft?“

Anton protestierte heftig: „Nee, ich habe nicht mit dir gekämpft.“ Dann machte er, dass er schnell außer Reichweite der Fragen seines Freundes kam.

Er hatte nun genügend Zeit zu grübeln, welche Überraschung er heute noch erleben würde. Die Stunde der Überraschung kam und sie brachte Anton neue Freunde. Pünktlich um 11 Uhr erklang eine Fanfare. Der Wirt schrie mit donnernder Stimme: „Empfangt die heldenhaften Ritter! Mutig und unerschrocken besiegten sie bisher jeden Feind! Empfangt den Ritter Balduin!“ Und mit Geschrei und Gegröle empfingen die Schüler der 4. Klasse den „Ritter“. Der verbeugte sich artig und schlug mit dem Schwert mehrmals auf seinen Schild.

„Nun empfangt den Ritter Fridolin! Er fordert heute Ritter Balduin zum Kampf! Zuerst wird mit dem Schwert gekämpft, dann greifen die beiden Recken zum Spieß und zur Streitaxt! Feuert sie mit euren Rufen an!“ Und noch einmal ertönte die Fanfare.

Die beiden Kämpfer hatten die Statur ihres Vaters und in ihrer Rüstung, die in der hellen Sonne nur so funkelte, sahen sie den Recken des Mittelalters sehr ähnlich. Und hauen und stechen konnten sie wie echte Ritter. Sie zeigten den Schülern ihre Kunst und ernteten dafür großen Applaus.

Dann kam Yannicks Kampf. Der Ritter Balduin legte seine Rüstung ab und nahm nun statt des Eisenschwertes ein kurzes Holzschwert. Auch der Schild wurde ausgetauscht. So wie er vor den Kindern stand, sah es doch recht komisch aus: ein Zweimetermann mit Kinderspielzeug. So war denn auch der Kampf zwischen ihm und Yannick ein Spiel, indem der Ritter selbst wieder zum Kind wurde. Ritter Balduin zeigte Yannick, wie man schlagen und stechen musste, lehrte ihn, sich mit dem Schild zu schützen und trotzdem den Schild zum Angriff zu nutzen. Anton passte gut auf, denn sein Gegner stand bereits bereit. Yannick erntete viel Applaus von seinen Klassenkameraden. Nun kam Antons Kampf.

Ritter Fridolin sah seinem Vater noch ähnlicher als sein Bruder. Nach einer Begrüßung, wie es sich für Ritter geziemt, schlug Fridolin mit seinem Holzschwert auf den Holzschild. Anton tat es ihm nach und nun standen sich die ungleichen Gegner gegenüber. Anton hatte beim vorhergehenden Kampf wirklich gut aufgepasst. Geschickt parierte er die Angriffe seines Gegenübers und erntete dafür auch den wohlverdienten Beifall. Er wurde immer besser, und immer besser fand er die Schwachpunkte seines Gegners und brachte den Ritter Fridolin in arge Bedrängnis. Zum Erstaunen seiner Mitschüler bestimmte jetzt Anton das Geschehen im Zweikampf. Anton wunderte sich sehr, wie geschickt er Schläge parieren konnte, wie er zum Angriff überging und wie der Ritter Fridolin zurückwich. Er hörte jetzt den Ritter flüstern: „Jakob? Jakob? Führst du die Klinge?“ Und dann lauter, aber nicht ärgerlich: „Jakob, willst du einen richtigen Kampf?“ Und die Mitschüler, die seine Worte hörten, riefen: „Das ist Anton, nicht Jakob!“ Und ein Junge brüllte: „Ja, einen richtigen Kampf!“

Die Klassenlehrerin, Frau Claus, fragte jetzt etwas ängstlich den Wirt: „Kann auch wirklich nichts passieren?“

Und der Wirt beruhigte sie lächelnd: „Mein Junge tut ihrem Anton bestimmt nicht weh.“

„Na, dann ist es ja gut! Ich kann gar nicht hinsehen!“

Aber sehenswert war dieser Kampf - und es wurde ein „richtiger“ Kampf! Anton wirbelte mit dem kurzen Holzschwert nur so und traf den Fridolin, so oft er wollte. Der gab zwar sein Bestes, aber er war in der Schlagkraft gehemmt, da er Anton nicht verletzen wollte. Also beschränkte er sich vor allem auf die Verteidigung. Als Anton wieder heftig angriff, wich Fridolin zurück, stolperte über eine Wurzel und fiel hin. Dort lag er nun, zwei Meter lang und über ihm stand Anton. „Ich ergebe mich, Jakob!“, rief Fridolin. „Ich ergebe mich!“ Und wieder rief die Klasse: „Das ist Anton, nicht Jakob!“

Jetzt rief auch Fridolin: „Ich ergebe mich, Anton!“

Anton erntete donnernden Applaus. Seine Klassenlehrerin strahlte und klatschte heftig mit. Auch der Wirt war zufrieden - seine Söhne verstanden es, mit Kindern umzugehen.

Als Anton zu seinen Mitschülern gehen wollte, sagte Fridolin: „Warte Anton!“ Dann rief er seinen Bruder herbei. „So, Anton“, sprach er schmunzelnd, „du hast also den Jakob kennengelernt? Richtig!“

Anton nickte: „Ja, vorhin im Gang. Als wir uns verabschiedet haben, sprach er von einer Überraschung. Jetzt weiß ich, was er mit dieser Überraschung meinte.“

„Das ist typisch für Jakob!“, grinste Ritter Balduin. „Wir haben Jakob von Winburg auch als Kinder getroffen und sind Freunde geworden. Er zeigt sich aber nur Kindern. Seid wir erwachsen sind, ist dies die erste Begegnung mit ihm. Zwar war er unsichtbar, aber seine `Handschrift´ beim Angriff war unverkennbar. Hat er dir auch den Schlüssel für die Pforte gegeben und dich um ein Wiedersehen gebeten?“

Als Anton bejahte, antwortete Fridolin: „Besuche ihn nur! Er tut niemandem etwas, kann dir aber eine Menge beibringen. Uns hat er das Fechten beigebracht.“

„Fridolin“, sagte Anton, „kann ich denn ...“ Fridolin unterbrach ihn. „Anton, Fridolin ist nicht mein richtiger Name. Ich heiße Frank und mein Bruder, der fürchterliche Ritter Balduin, ist Berthold. So, nun zu deiner Frage, denn du wolltest doch etwas erfragen?“

„Ja, ich wollte nur wissen, wie ich unbemerkt von Besuchern oder eurem Vater in den schmalen Gang gelangen kann“, erwiderte Anton.

„Das hat dir der Schlawiner Jakob nicht gesagt!?“, meinte grinsend Berthold. „Er neckt uns mal wieder, Frank!“

Da Anton verständnislos dreinschaute, klärte ihn Berthold auf: „Es gibt einen unterirdischen Gang, den kennen nur wir und natürlich der Jakob. Von dort kannst du ungehindert vor fremden Blicken in die Burg gelangen. Der Gang liegt unterhalb der Burg und war früher der Fluchtweg für die Bewohner bei einer Belagerung. Und der Schlüssel, den dir Jakob gab, passt nur zu dieser Pforte. Jakob von Winburg wollte also, dass wir dir diesen Weg zeigen.“

„Berthold, wir sollten Anton nicht nur den Gang zeigen, nein ich glaube ...“ Frank machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ja, bestimmt habe ich recht - ich glaube, der Jakob hat Sehnsucht nach uns und will uns wiedersehen. Was meinst du, Berthold?“

„Kannst schon recht haben, obwohl er sich immer nur Kindern zeigt“, antwortete ihm sein Bruder. „Wir zeigen jetzt Anton den Gang, dann werden wir ja sehen, ob wir zu ihm kommen dürfen!“

So holte sich Anton ganz schnell von seiner Lehrerin die Erlaubnis, mit den beiden Brüdern die Burg für kurze Zeit verlassen zu können. In wenigen Minuten standen die Drei mitten im Wald vor einem schmalen Felsspalt. „Da ist der Eingang ins Reich des Jakobs“, sagte Frank. Er drehte sich zu seinem Bruder um und meinte feixend: „Na, Bruderherz? Kommst du da durch?“

„Also will oder darf uns Jakob nicht sehen“, erwiderte Berthold. „Anton, krauch mal rein. Der Gang ist schmal, aber begehbar. Nach etwa 10 Metern kommt eine alte Pforte. Für diese passt der Schlüssel des Jakob. Öffne sie aber nicht, denn dann will auch Jakob mit dir spielen und dafür hast du heute keine Zeit mehr. Dein Rittermahl wartet doch oben in der Burg.“

Und Anton kroch durch den schmalen Felsspalt und fand die Pforte, die verschlossen war.

Auf dem Weg zur Burg fragte er die Brüder: „Warum habt ihr geglaubt, der Jakob wolle euch sehen? Hattet ihr vergessen, wie schmal die Felsspalte ist?“

„Ach, Anton“, klärte ihn Frank auf, „mit dieser Felsspalte hat es eine besondere Bewandtnis: Jakob kann sie vergrößern oder verkleinern! Ja, da staunst du! Es ist wie Zauberei! Wir haben Jakob kennengelernt, da war ich so alt wie du. Ich durfte meinen jüngeren Bruder mitbringen und wir beide konnten Jakob besuchen - aber nur bis ich 14 wurde. Danach verkleinerte Jakob die Spalte und selbst Berthold passte nicht mehr hindurch. Ja, so ist es. Hinterher fiel uns ein, dass er bei unserem letzten Besuch sehr traurig war und von der Kraft des Zaubers sprach. Das verstanden wir erst, als die Felsspalte sich verkleinert hatte. “

„Dann wird es bei mir wohl auch so werden. Ich darf meinen jüngeren Bruder Martin auch mitbringen und Jakob will, dass wir ihn oft besuchen.“

„Besucht ihn nur, so oft ihr könnt“, sagte Frank ernst. „Euch wird es bestimmt gefallen. Mit uns trieb Jakob zuerst Schabernack, dann jedoch ...“

Frank und Berthold erzählten auf dem Weg zur Burg von ihren Abenteuern mit Jakob von Winburg und Anton lauschte ihrem Bericht. Er freute sich schon mächtig auf das Wiedersehen mit seinem Gespensterfreund!