Geschichten für Erwachsene: Von Ethik und Moral

Übersicht:

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Mein zweites Ich

Die unbefleckte Empfängnis

Der Reiter

- Frankensteins Schöpfung

- Der Prozess

 

Bitte beachten Sie!

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Sie dürfen meine Kurzgeschichten kopieren und für den privaten Gebrauch nutzen. Änderungen dürfen nicht vorgenommen werden. Eine Vervielfältigung und Veröffentlichung, auch auszugsweise, bedarf immer meiner schriftlichen Zustimmung.

Mein zweites Ich

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von Joachim Größer (2010)

 

Es ist schon wahrlich eine verrückte Geschichte, von der ich erzählen möchte. Doch bitte halten Sie mich nicht für verblödet, nicht für schizophren! Ich bin keine „gespaltene Persönlichkeit“, obwohl sich mein Ich verdoppelt hat. Doch alles der Reihe nach.

Alles begann mit einem Einkaufsbummel. Meine Freundin, die Wilma, hat nämlich bald ihren 25. Geburtstag. Und nun suchte ich ein passendes Geschenk, und da ich mich zu ihrem Geburtstag auch verloben wollte, brauchte ich einen Verlobungsring.

Das Geburtstagsgeschenk besaß ich schon, jetzt stand ich vor dem Schaufenster eines Juweliers und begutachtete die Ringe und die Preise. Und dann kam der Augenblick, der mein ganzes weiteres Leben beeinflussen sollte. Ich sah nämlich in der Scheibe mein zweites Ich. Ich sah mich!!! Gut, das ist nichts Besonderes, Sie sehen in den Spiegel und sehen sich selbst. Ich schaute in das Fenster und sah mein Spiegelbild: doppelt. Ich drehte mich um und dann sah ich mich leibhaftig: meine blonden leicht gelockten Haare, blaue Augen, das typische Grübchen im Kinn, auch die Größe stimmte. Mein Ich war so gekleidet, wie ein Mann mit 25 Jahren sich kleidet: Jeans, Pullover, leichte Jacke. Die Zusammenstellung der Kleidung, auch der Farben, entsprach meinem Geschmack. Wären nicht die etwas längeren Haare, meine hatte ich mir erst vor einer Woche abschneiden lassen, ich wäre mein perfektes Ich gewesen.  So aber standen sich zwei verschiedene Wesen, die doch gleich waren, gegenüber und starrten sich verwundert und entgeistert an.

„Du …, du …“, stotterte mein Gegenüber. Und ich bekam selbst das „Du“ nicht über die Lippen.

Nach mehreren Minuten des Betrachtens brach mein zweites Ich die Sprachlosigkeit. „Ich glaube, wir sind Zwillinge!“, sagte er leise. Und ich bemerkte, dass seine Stimmlage der meinigen entsprach.

„Das muss wohl so sein – eineiige Zwillinge! Nur ich habe keinen Zwilling!“

„Ich auch nicht! Aber vielleicht wissen deine und meine Eltern etwas …“

Mein zweites Ich stockte.

„Wir müssen fragen“, erwiderte ich. „Aber wie heißt du überhaupt? Ich heiße Benjamin, Ben Holler.“

„Georg Schmidt! Meine Freunde rufen mich Schorsch.“

„Als dein Zwilling werde ich dich auch Schorsch rufen!“

„Und ich dich Ben!“

So stellten wir uns vor und seit diesem Augenblick waren wir fast unzertrennlich. Jede freie Minute hockten wir zusammen und tauschten uns aus. Erstaunt waren wir beide, dass wir zu vielen Dingen des Lebens und der Zukunft die gleichen Gedanken und Vorstellungen hatten. Auch unser Geschmack ähnelte sich. Dies bemerkte ich – zum Leidwesen – als ich beschloss, meine Freundin und nun seit einer Woche meine Verlobte mit meinem Zwilling bekannt zu machen. Zuerst ging mein Zwilling ins Zimmer und Wilma herzte und scherzte, dass mir draußen vor der Tür ganz mulmig wurde. Dann betrat ich das Zimmer. Wilma erstarrte zur Salzsäule, Schorsch feixte übers ganze Gesicht. Eigentlich wollte ich diese Situation so richtig auskosten, aber dann tat mir Wilma leid. Sie war kreidebleich und schaute immer nur zu meinem Doppel-Ich.  Sie brauchte lange, diese Situation zu verdauen. Dann, als sie den einzig echten Ben herausfinden sollte, versagte sie kläglich. Schorsch hätte am liebsten das Spiel fortgeführt, doch ich erlöste meine Wilma und gab mich zu erkennen.

Da meine Wilma mein doppeltes Ich so schwer aufgenommen und selbst eine Woche später immer noch nicht fassen konnte, dass ihr Zukünftiger, also ich – Benjamin Holler, sich verdoppelt hatte, befürchteten wir, dass unsere Eltern, die bereits im Rentenalter waren, sich mit ihren sich verdoppelten Söhnen noch schwerer tun würden.

Da nach Schorschs Schilderung seine Mutter gesundheitlich etwas angeschlagen war, testeten wir die Vorstellung meines doppelten Ichs mit meinen Eltern.

Schorsch ging klopfenden Herzens an einem Sonntagmittag ins Wohnzimmer, wo bereits meine Eltern und auch Wilma saßen. Er begrüßte meine Mam so, wie ich es immer tat, mit einem Wangenküsschen. Mein Vater bekam den obligatorischen Schulterschlag und ein lautes, fröhliches: „Tach, Vadder!“

Sie aßen den Sonntagsbraten und dann sollte meinen Eltern der Bissen im Munde stecken bleiben. Meiner Mutter fiel ihre Kartoffel von der Gabel auf den Teller und von da auf den Teppich, mein Vater verschluckte sich. Nach Luft schnappend, krächzte er: „Ben! Benjamin!“

Ich verzichtete schnell auf den Spaß, meine Eltern den richtigen Sohn finden zu lassen. Zu angeschlagen waren meine beiden Erzeuger. Bleich und wortlos, aber gefasst, saßen sie vor uns.

Erst nach Minuten brachte meine Mutter den Satz heraus: „Was ist hier los?!“

Nun war es an mir zu erzählen. Das Essen wurde kalt und wurde von Wilma herausgetragen. Meine Eltern hörten nur zu und schauten ständig zu uns „Zwillingen“. Dann sagte mein Vater einen schwerwiegenden Satz: „Man kann euch nicht auseinanderhalten! Ihr seid mehr als eineiige Zwillinge!“

Erst Wochen später wusste ich, wie recht er hatte. Aber der Reihe nach!

Jetzt ging es an die Einzelheiten: Geburtstag, Geburtsort, Eltern, Krankheiten, Ausbildung und, und, und!

Schorsch war 14 Tage jünger, war im gleichen Ort geboren – auch im gleichen Krankenhaus, hatte die gleichen Kinderkrankheiten und  …, aber das wissen Sie ja bereits, fast den gleichen Geschmack und die gleichen Ansichten zum Leben.

Dann schlug mein Vater vor, dass wir unsere DNA untersuchen lassen sollten. „Dann wisst ihr, dann wissen wir, ob ihr die gleichen Gene habt!“

Vier Wochen mussten wir warten. Mein Vater gab uns mit zitternder Hand das Schreiben des Labors. „Euch gibt es nur einmal!“

Ja, in dem Schreiben stand, dass die Proben völlig identisch seien, dass es wohl eine Verwechslung, ein Versehen sei und dass sie gern noch einmal die richtigen Proben analysieren wollten.

Zum ersten Male stieg jetzt in mir ein furchtbarer Verdacht auf. Aber darüber sprach ich mit niemandem – auch nicht mit meinem zweiten Ich. Erst wollte ich noch die Eltern des Schorschs kennenlernen. Und auch Schorsch und meine Eltern drängten jetzt auf diesen Besuch. Deichseln wollten wir das so, dass Schorsch seine Eltern „liebe neue Freunde“ vorstellen wolle und dass er seine Eltern um einen Besuchstag bat. Doch seine Eltern baten darum, dass die neuen Freunde zu ihnen nach Hause kommen sollte. Uns war dies sogar recht. Bekanntlich, so glaubten wir wenigsten, nimmt man schlechte Botschaften in heimischer, vertrauter Atmosphäre besser auf. Aber ist das eigentlich eine „schlechte Botschaft“, wenn Schorsch sein zweites Ich seinen Eltern vorstellt?

Am nächsten Sonntag zur besten Kaffee-Kuchen-Zeit wussten wir es. Schorsch öffnete uns, zu viert betraten wir das Wohnzimmer, das schwanger war vom Kaffeegeruch. Ich hielt mich mit Wilma zuerst im Hintergrund und schob meine Erzeuger vor. Die tauschten höflich einige Nettigkeiten aus und präsentierten dann ihren Sohn mit seiner Verlobten.

Wir hätten Schorschs Mutter dies gerne erspart, aber wie sollten wir sonst erfahren, warum es uns doppelt gibt. Da sie auch während der Begrüßung wegen ihres Rückenleidens saß, konnte sie zum Glück nur noch in die Kissen des Sofas fallen. Schorschs Vater rannte ins Bad und kam mit einer Pille wieder. Schorsch schaute verlegen, wir bedauerten, blieben aber tapfer stehen. Langsam erholte sich Schorschs Mutter wieder und auch Schorschs Vater musterte jetzt zum ersten Mal lang und gründlich seine „beiden“ Söhne.

„Das gibt es doch nicht! Das kann es doch nicht geben!“, murmelte er. „Anna, unser Schorsch hat wirklich einen Zwilling!“

Seine Anna, Schorschs Mutter, war trotz ihrer Krankheiten eine resolute Frau. „Zufälle gibt es! Zufälle!“ Das war ihre Antwort.

„Aber sehr eigenartige, Mutter“, sagte jetzt Schorsch und erzählte, nachdem wir uns an den Kaffeetisch gesetzt hatten, wie wir uns gefunden hatten und was wir bereits voneinander wissen.

Aus dem Besuch zum Kaffee wurde ein Abendessen, dann eine gute Weinverkostung, und als wir weit nach Mitternacht mit einem Taxi Schorschs Elternhaus verließen, waren sich alle einig, dass wir diesem Zufall der Verdopplung meines Ichs auf den Grund gehen mussten.

Unsere Mütter erinnerten sich, dass sie beide in der Klinik vom Chefarzt untersucht und persönlich betreut wurden. Auch danach bestand dieser Professor darauf, dass er alle Untersuchungen an den Kindern persönlich vornahm. Auch war absonderlich, dass er die Mütter gebeten hatte, vierteljährlich die Kinder ins Klinikum zur Beobachtung und Kontrolle ihrer Entwicklung zu bringen. Dieser Mediziner war an allem interessiert, was uns betraf. Als wir in die Schule kamen, interessierten ihn unsere Zensuren genauso, wie unsere Schrift. Ja, er ließ uns sogar, als wir in der dritten Klasse waren, eine Niederschrift schreiben.

„Forschungsprogramm! International angelegt!“, antwortete er einmal, als Schorschs Mutter wegen dieser Tests sich erlaubte, die Frage nach dem Sinn dieser Untersuchungen zu stellen.

Erst mit dem Tod des Professors endete die „Testreihe“. Und um den plötzlichen Tod des Herrn Professors rankten sich damals, so erinnerten sich unsere Eltern, viele Gerüchte. „Selbstmord!“ sollen die einen gemeint haben. „Erschlagen wurde er!“, tuschelten andere. Na ja, diesen Mann konnten wir nicht mehr befragen, aber seine ehemaligen Mitarbeiter.

Aber das war auch eine Sackgasse. Die damals engsten Mitarbeiter des Chefarztes hatten ein solch schlechtes Gedächtnis, dass man schon zweifeln konnte, dass solche Leute überhaupt ein Medizinstudium hatten aufnehmen können.

Als wir beide das Zimmer des damaligen Oberarztes und jetzigen Chefarztes verließen, spürten wir den bohrenden Blick in unserem Rücken. Wir ahnten den Seufzer der Erleichterung, der dem Chefarzt entwich, als wir die Tür schlossen.

Noch einen Versuch hatten wir: die Witwe des Arztes.

Im nobelsten Viertel der Stadt stand die Villa. Geöffnet wurde uns von einer Person, die wohl eine Bedienstete der Frau Professor war – leider dass sie nur gebrochen Deutsch sprach.

„Ich nur wenig sprechen deitsch! Frau Professor krank. Sie nicht empfangen euch! Die ist Demenz!“

Also war uns auch dieser Weg der Erkenntnis versperrt!

Eine Woche später kam die Aufklärung mit der Post. Ein Schreiben, eine Kopie einer handschriftlichen Aufzeichnung, war der einzige Inhalt. Mühsam versuchte ich, diese Kritzelschrift zu entziffern. Doch ich bekam Hilfe. Mein zweites Ich, Schorsch erschien und schwenkte schon an der Tür das gleiche Schreiben. Er hatte die gleiche Kopie erhalten. Einen ganzen Abend entzifferten wir diese Schrift. So manches Wort mussten wir aus dem Sinn heraus erahnen, aber wir wussten jetzt, warum es uns doppelt gab. Unseren Eltern und meiner Wilma gaben wir am nächsten Tag die Auflösung und dies sind die Fakten:

1. Da der Kinderwunsch für Schorschs Eltern lange nicht erfüllt wurde, gab es jetzt eine Möglichkeit zum Kinderwunsch: die künstliche Befruchtung.

2.  Der Professor nutzte diesen Wunsch, um mit einer geklonte Eizelle zu experimentieren.

3. Niemand, auch seine engsten Mitarbeiter wussten nichts von dem Experiment.

4. Schorsch und ich sind im biologischen Sinne eineiige Zwillinge – nur bin ich echt und er ein Klon!

Es war einer der Tage, an dem der Mensch meint, an der Wahrheit zu zerbrechen. Besonders hart trafen diese Fakten mein doppeltes Ich und seine Eltern. Zeitlebens werde ich nicht den Blick vergessen, mit dem Schorschs Mutter ihren Sohn musterte, um dann in einen Weinkrampf zu fallen.

Eine Woche verging, ehe wir wieder etwas von Schorsch Eltern hörten. Sie besuchten uns, um herauszufinden, wie wir uns die Zukunft dachten. Immerhin hatten sie mit dieser anonymen Zusendung der geheimen Aufzeichnungen des Professors ein „Kind verloren“ und meine Eltern einen zweiten Sohn dazu erhalten. Aber da gab es nicht viel zu entscheiden. Schorsch und ich waren uns einig, dass wir jetzt zwei Mütter und zwei Väter hätten und dies akzeptierten auch die Elternpaare.

Meine Wilma allerdings akzeptierte es nicht, dass sie nicht wusste, wer ihr Ben sei. So fügte sie mir noch vor der Hochzeit eine Wunde im Gesicht zu und meinte nach meinem Aufschrei: „Hab dich nicht so! Schließlich will ich immer wissen, ob der richtige Mann in meinem Bett liegt!“

Ja, liebe Leser, das ist meine Geschichte und zugleich die Geschichte meines zweiten Ichs. Nun sagen Sie, haben wir richtig gehandelt, als wir uns entschlossen, keine Anzeige zu erstatten? Der Professor war tot, wir hätten die Klinik verklagen können! Worauf? Ein Mediziner verletzt die Grundnormen menschlicher Ethik. Aus Forscherdrang? Aus persönlicher Geltungssucht? Er handelte wie ein moderner Frankenstein! Und deswegen verdient er auch über den Tod hinaus unsere Verachtung.

Aber wir haben bei dieser Entscheidung auch an uns gedacht. Ein Prozess hätte zwei Familien ins Rampenlicht gezogen. Die Presse, das Fernsehen – wir wären berühmt geworden: Ich und mein Klon! Kein Schritt mehr ohne Beobachtung! Mediziner hätten uns gebeten, Untersuchungen an uns vornehmen zu können – natürlich nur, um der Wissenschaft zu dienen! Immerhin ist Schorsch der erste menschliche Klon! Jeden Tag eine neue Geschichte, ein neues Bild von uns in einer der Zeitschriften der Regenbogenpresse. Wäre es das wert?

Wir haben doch richtig gehandelt – oder?

Aber was wäre, wenn mich der „ehrenwerte“ Herr Professor verdreifacht, vervierfacht hätte? Was wäre …