Geschichten für Erwachsene: Vom Wandern

Verirrt!

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von Joachim Größer 2013

 

„Na, dann los!“, sagte der 35-jährige Frank zu seiner Ehefrau. Beide waren passionierte Wanderer und nutzten das „kinderfreie“ Wochenende für ihr Hobby. Ziel war heute eine schöne Rundstrecke mit einigen Höhenunterschieden und vielen Abwechslungen auf der Strecke. Eine Karte brauchte Frank nicht, denn dieser Weg wurde von ihnen schon mehrfach begangen. Simone vertraute voll und ganz auf den guten Orientierungssinn ihres Mannes und trabte brav - wie sie zu sagen pflegte – hinter ihrem Frank hinterher.

Der einzige Unterschied zu sonstigen Touren bestand darin, dass heute Nebel aufgezogen war und den gesamten Berg in Watte hüllte. Keinen der beiden Wanderer schien dieses Wetter zu stören, keiner würdigte den Wanderzeichen an den Bäumen einen Blick – denn man kannte den Weg ja sehr genau. Angeregt unterhielten sich Simone und Frank über die kleinen und größeren Probleme. Und als sie das Thema Hausaufgaben ihrer beiden Sprösslinge erörterten, da konzentrierte man sich nur noch auf das Gespräch und nicht auf den Weg – man kannte ja schließlich diesen Berg mit seinen Wanderwegen sehr genau.

Der Erste, der dann den Weg genauer betrachte, war Frank. Zufällig streifte sein Blick eine alte Buche, auf der als Wanderweg-Zeichen eine „1“ prangte. Auf einem Wanderweg Nr. 1 waren sie hier aber noch nie gelaufen – also schaute Frank jetzt genauer auf die Wegmarkierungen, aber es gab keine mehr. Noch wurde er nicht unruhig, denn man konnte ja den Weg einfach zurückgehen. Seiner Simone sagte er noch nichts von seiner Vermutung, sondern marschierte jetzt auf dem ebenen Weg forsch voran. Sie waren wohl die einzigen Besucher in diesem Nebel-Wald, denn kein menschlicher Laut, kein Rufen, kein Lachen waren zu hören. Vielleicht lag das aber auch nur an dem immer dichter werdenden Nebel. Fünfzig Meter, so schätzte Frank die Sichtweite ein, als sie auf dem Parkplatz losmarschierten. Jetzt, so stellte er erschrocken fest, betrug die Sichtweite höchstens noch 15 Meter.

„Ich schlag mich mal in die Büsche“, rief Simone ihrem Mann zu und verschwand auch zugleich auf einem kleinen schmalen Tierpfad in den Wald. Frank nutzte diese Gelegenheit, um die Gegend zu erkunden. Dieser Weg muss doch auch Abzweigungen haben, auf denen vielleicht Hinweise angebracht sein könnten. Also rannte er los, ohne seiner Simone Bescheid zu geben, denn schließlich war sie mit anderen Dingen beschäftigt. 100 Meter war er wohl gerannt, aber dieser verdammte Weg hatte keine Nebenwege. Also – zurück! Nur, wo war seine Frau? War er nun schon zu weit gelaufen, hatte er den schmalen Tierpfad übersehen? Frank lief wieder zurück – keine Simone, kein Rascheln, das ihre Anwesenheit verraten konnte. „Simone!!!“, schrie er jetzt so laut er konnte. „Simone!!!“

Doch seine Simone blieb im Nebel verschwunden. Angst stieg dem Frank zum Herzen auf. Wo ist Simone? Ist sie gefallen? Hat sie sich verletzt? Ist sie vielleicht bewusstlos? Hat sie sich vielleicht ein Bein gebrochen?

Er rannte den Weg auf und ab, immer wieder nach seiner Frau rufend. Dann stürzte er mehr, als dass er ging, in den Wald, glaubte er doch, den schmalen Tierpfad gefunden zu haben. Er folgte dem Pfad und schrie seine Angst um seine Frau in den Wald: „Simone!!! Simone, antworte!“

Endlich, nach vielen qualvollen Minuten glaubte er, seine Frau zu hören. „…rank!“, hörte er. Der Nebel verschluckte das „F“. Nein, er täuschte sich nicht, er hatte richtig gehört – das muss Simones Rufen sein. Also schrie er weiter ihren Namen und lauschte auf Antwort. Jetzt, ja – das war deutlich: „Hier Frank, hier!“

Frank rannte durch das niedrige Holz, stolperte über einen morschen Baumstumpf, fiel, raffte sich hoch und schrie: „Rufe, Simone! Rufe weiter!“

Und Simone rief und Frank folgte der Stimme. Dann sah er seine Simone direkt vor sich. Sie stand und Tränen rannten ihr über die Wangen. Frank umarmte sie glücklich und küsste ihr die Tränen von den Wangen. „Hab ich dich gefunden!“, flüsterte Frank erleichtert.

Nachdem sich beide beruhigt hatten, erzählte Simone: „Ich wusste mit einem Male nicht mehr, welche Richtung ich auf dem Tierpfad einschlagen musste. Also habe ich nach dir gerufen. Da ich keine Antwort erhielt, bin ich in die Richtung gegangen, von der ich annahm, es sei die richtige. Aber es war genau die falsche! Weißt du, wie froh ich war, als ich deine Stimme hörte. Ich habe es mehr geahnt, dass du meinen Namen rufst. Vielleicht wollte ich auch, dass ich meinen Namen rufen hörte. Ich hatte mir schon ausgemalt, wie ich mich tiefer und tiefer im Nebel verlaufe. Mir fiel die Meldung über eine Frau ein, die mehrere Tage im Wald umherirrte und nach Wochen erst tot aufgefunden wurde.“ Simone seufzte. „Aber jetzt bist du da! Komm, gehen wir zum Auto!“

Frank druckste. „Simone, ich weiß nicht, wo der Parkplatz ist. Ich habe keine Orientierung mehr.“

Mit großen Augen blickte Simone ihren Frank an, dann sagte sie gefasst: „Na ja, wenn nicht rufen wir mit dem Handy um Hilfe.“

Erschrocken griff Frank in die Seitentasche. Ja – Handy war da, wo es immer ist! Erleichtert holte er das Handy aus der Tasche und will wählen. „Ich hab vergessen, die Batterie aufzuladen.“ Diesen Blick seiner Simone wird Frank so schnell nicht vergessen.

„Macht nichts, Simone! Wir gehen jetzt mitten durch den Wald, irgendwo kommen wir auf einen Weg und dem folgen wir. Wir leben in einem dicht besiedelten Gebiet, überall gibt es Ortschaften. Also los!“

Und so gingen die beiden Wanderer mitten durch den Wald. Die Sichtweite im Nebel betrug jetzt 10 Meter und alles schien im Nebel sich zu verwandeln. Schemenhaft nahmen sie Büsche und Bäume wahr. Manchmal stolperten sie über an Boden liegende Äste, dann ließ sie ein mächtiges Krachen erstarren. Keine drei Meter vor ihnen war eine stattliche Buche umgestürzt – einfach so vor ihre Füße.

„Haben wir ein Glück! Wäre er in die andere Richtung gefallen, hätte er uns erschlagen.“ Frank schaute in das ängstliche Gesicht seiner Frau.

„Ja, wir müssen raus aus diesem verdammten Wald! Komm!“ Und energisch bahnte sich Frank einen Weg durchs Gebüsch, seine Frau an der Hand hinter sich herziehen.

Nach hundert Metern erkannte Frank einen schmalen Waldweg, der kaum noch befahren wurde. Aber es war ein Weg und der musste zu einem anderen Weg führen. Also folgten sie ihm. Dann lichtete sich der Wald und ließ den Blick ins Nichts schweifen. Sie mussten am Waldrand angekommen sein. Jetzt sahen sie auch einen Holzpavillon. Es war ein Ausblick – das stand jedenfalls fest. Sehen konnten sie zwar nichts, aber hören. Ganz leise vernahm man die typischen Geräusche einer viel befahrenen Straße. Nur leise – sehr leise, aber da waren sich beide einig, das war eine Bundesstraße oder die Autobahn.

Frank stellte sich in Gedanken die Wanderkarte vor. Er war sich sicher. Vor ihnen lag das Tal mit der Autobahn und der Parkplatz liegt in der entgegengesetzten Richtung. Also müssen sie nach Osten, denn im Westen liegt dieses Tal, vor dem sie jetzt stehen.

So erklärte er das der Simone. Doch die meinte: „Wollen wir nicht ins Tal gehen und dann von dort zum Auto?!“

„Simone, dann müssten wir 15 Kilometer marschieren. Wir gehen jetzt auf diesem Waldweg und versuchen, die Ostrichtung beizubehalten.“ Frank wagte sogar einen Blick zum Himmel. Aber über ihm wallte nur der graue Nebel.

Er marschierte los, Simone verharrte noch. „Komm Simone! Wir werden den Parkplatz schon wieder finden!“

Frank strahlte Optimismus aus. Der war aber auch notwendig, denn Simones Augen zeigten ihrem Mann die Angst, die sie vor dem Verirren hatte. „Komm, Simone. Wir werden diesen verdammten Parkplatz schon finden. Irgendwann sehen wir ein bekanntes Merkmal und dann haben wir auch wieder die Orientierung.“

Simone wollte ihrem Frank glauben. Damit sie aber nicht noch einmal in diesem Nebel alleine war, fasste sie seine Hand. Und Frank drückte sie kräftig.

„Hast du gesehen?“, schrie Frank und zeigte in den Nebel. „Dort war eine menschliche Gestalt!“ Und Frank schrie „Hallo!“ und Simone stimmte ein. Doch der Mensch gab keinen Laut – war einfach verschwunden.

„Muss mich getäuscht haben“, murmelte Frank und betrachtete sorgenvoll das Gesicht seiner Simone. Sie war dem Weinen nahe - zu groß die Angst, völlig allein in diesem Wald zu sein.

Doch da war ein leises Geräusch, das den Nebel durchdrang: „Klack – klack – klack.“

„Hast du das gehört, Simone?!“ Frank zog seine Frau hinter sich her. Mit großen Schritten wollten sie dieses „Klack- klack“ einholen. Dann rannten beide, weil sie glaubten, dass das „Klacken“ verschwand. Sie standen auf einer Wegekreuzung, aber einen Sportler, der Nordic Walking auch bei diesem Nebel frönte, den sahen sie nicht. Aber dafür entdeckte Frank ein Wegzeichen.

„Simone, schau die ‚Nr. 3‘! Das Zeichen kenn ich! Jetzt müssen wir nur noch die Richtung bestimmen!“

Nur – in welche Richtung? Nach links oder rechts? Frank entschied sich für den rechten Weg. Trotz des dichten Nebels glaubte er zu erkennen, dass der Weg bergauf führte.

„Und wenn wir auf dem Berg sind, könnte man vielleicht über diesem verdammten Nebel sein.“ So dachte Frank, ließ aber Simone in dem Glauben, er habe den richtigen Weg gefunden. Ja, der Weg führte nach oben, aber lichter wurde diese Nebelbrühe nicht.

Urplötzlich lichtete sich der Nebel und beide standen im prallen Sonnenlicht.

„Wir haben es geschafft!“ jubelte Simone und fiel ihren Frank dankbar um den Hals. Sie stellten sich auf die Bergspitze und betrachten die graue wabernde Nebelmasse. Zwei Figuren zeichneten sich jetzt auf der Nebelmasse ab. Unwirklich und unheimlich sahen sie aus. Dreifache Menschengröße und sie bewegten sich! Simone fasste erneut Franks Hand. „Was ist denn das?“, fragte sie erschrocken.

„Der Bergdämon! Simone, wir haben das Berggespenst aufgescheucht! Und gleich zwei von ihnen!“ Frank strahlte über das ganze Gesicht. Vergessen war die Anspannung der letzten Stunde. Solch ein Naturereignis sieht man nicht häufig. „Komm, wir lassen die Bergdämonen tanzen!“ Und Frank hüpfte und schmiss die Beine, drehte seine Simone und die starrte verwundert auf die diffusen Nebelfiguren, die all ihre Bewegungen nachvollzogen. „Tanze, Simone! Schön langsam und ausdrucksvoll! Ich mache ein kurzes Video!“ Er holte die Kamera aus dem Rucksack und filmte seine Frau, die einer Elfe gleich auf dem Berg tanzte.

Leichter Wind kam auf und verzerrte den Nebelschatten. „Das reicht Simone!“, rief Frank und verstaute die Kamera. „Komm auf die Bank. Wir genießen noch etwas diese Nebellandschaft.“

Genießen wollte Frank nicht - dass der Windhauch die Nebelbrühe davon weht, das hoffte er. Denn – ja, diesen Berg kannte er, aber in welcher Richtung liegt der Parkplatz?!

Während Frank im Rucksack etwas Essbares und das Trinken suchte, sagte Simone: „Weißt du Frank, jetzt versteh ich, warum in vielen Märchen sich Menschen im tiefen, dunklen Wald verlaufen haben. Ich kann ihre Angst nachvollziehen. Und ich kann mir vorstellen, wie es ist, wenn sie dann Menschen, die ihnen helfen konnten, getroffen haben.“

Und als wäre das das Stichwort, erklomm ein alter Mann leicht schnaubend, sich auf zwei Stöcken stützend, das Bergplateau. Er grüßte und setzte sich zu ihnen.

„Dieser verflixte Nebel“, sagte er zu den beiden. „Fasst hätte ich doch den falschen Abzweig genommen. Man sieht ja die Hand vor Augen nicht. Solch eine Nebelbrühe habe ich hier noch nicht erlebt. Heute macht der Berg seinem Namen alle Ehre. Na ja, jetzt weiß ich wieder, wo ich bin.“

„Wie heißt denn der Berg?“, fragte Simone.

„Eigentlich heißt er der Kählberg, aber die alten Leute, einschließlich meiner Person, kennen ihn nur unter dem Namen ‚Geisterbuckel‘. Hier sollen schon komische Sachen geschehen sein. Man erzählt sich gruslige Begebenheiten. Aber die meisten dieser Begebenheiten entstammen nur den Sagen. So – aber jetzt muss ich weiter. Wenn ich zu spät zu Hause bin, wird mein Irmchen sich nur wieder Sorgen machen.“

Er grüßte und wollte wieder den Berg hinunter, als ihn Frank aufhielt. „Sagen Sie, in welcher Richtung liegt der Parkplatz. Ist der Wanderweg Nr. 3 richtig?“

„Ach, das ist dann Ihr Auto, das so einsam auf dem Platz stand?! Ja, folgen Sie der ‚3‘! Keine 15 Minuten und Sie stoßen direkt auf Ihr Auto.“

Er zeigte noch in die Richtung, die sie gehen sollten und war dann bereits in der grauen Nebelmasse untergetaucht. Frank sah nicht mehr sein Schmunzeln, hörte auch nicht die leisen Worte: „Verlaufen haben sie sich! Verlaufen!“

Exakt brauchten Frank und Simone noch 12 Minuten und sie saßen im Auto. „Bin ich froh!“, sagte Simone und gab ihrem Mann einen Kuss. „Diesen Berg streichen wir aus unserem Wanderprogramm. Hier bekommst du mich nicht mehr her! Der Berg ist wirklich ein Geisterberg.“

„Simone, das ist doch Quatsch, Geisterberg!? Alles ist doch erklärbar. Im Nebel kann man schon mal die Orientierung verlieren.“

„Und dieser Baum, der uns fast erschlagen hätte?“

„Pilze, die den Stamm oder die Wurzeln befallen und so den Baum zum Stürzen bringen.“

„Und das genau vor unserer Nase? Nee Frank, streiche diese Route!“

„Aber Simone, wir haben den Bergdämon gesehen. Weißt du, wie viele Menschen solch ein Glück haben, solch Naturschauspiel je zu sehen?!“

„Bergdämon hin oder her! Streiche diese Tour! Ich bin glücklich, wieder im Auto zu sitzen. Nun fahr aber auch schon los!“

Und Frank fuhr fast Schrittgeschwindigkeit. Nach 10 Minuten hielt er an.

„Was ist, Frank?“, fragte Simone verwundert.

 

„Ich weiß nicht, wo wir sind. Ich habe die Orientierung verloren!“ Und Simone schaute mit großen ängstlichen Augen zu ihrem Frank und …