Kinderseite Nr. 3: "Der Museumsbesuch"
"Der Museumsbesuch"
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von Joachim Größer (2007)
Martin hatte sich schon lange einen Museumsbesuch gewünscht. Jetzt endlich saß er mit seinem Bruder und den Großeltern im Auto. Nun fuhren sie zu den Römern - so jedenfalls hatte es der Großvater verkündet. Anton, eigentlich wäre er viel lieber in ein Museum mit altägyptischen Ausstellungsstücken gefahren, kramte in seinem Gedächtnis nach, was er über das Alte Rom noch wusste. Limes, Badehäuser, herrliche Bildstatuetten, Götter, Legionäre, Schlacht im Teutoburger Wald – all das fiel ihm ein. Martin, drei Jahre jünger als Anton, betrachtete versonnen die vorbeifliegende Landschaft und lauschte dem Hörspiel von der CD. Zapplig wurde er, als sie bereits auf der Landstraße fuhren und Großmutter meinte, dass weit vorn mehrere Oldtimer zu sehen seien. Ach, was waren das für herrliche Autos. Martin geriet ins Schwärmen. „Ein alter Benz! Und dort der Sportzweisitzer – bestimmt schon 80 Jahre alt!“ Ein Jubelschrei löste den anderen ab.
Allerdings blieben jetzt Jubelschreie aus, nachdem sie bereits eine Stunde durch die Ausstellungshallen des Museums spaziert waren.
„Wir haben doch nun schon alles gesehen“, maulte Martin als der Großvater erklärte, dass nur noch zwei Hallen zu besichtigen seien.
„Ooch, Opa, können wir nicht jetzt eine Pause machen?“ Martin versuchte erneut, den Museumsbesuch abzukürzen.
„Also gut“, mischte sich die Großmutter ein, „machen wir jetzt die Pause.“
Eine Bank war schnell in dem weiträumigen Gelände gefunden, Essen und Trinken ausgepackt. Martins Stimmung besserte sich zusehends. Anton hatte sich die ganze Zeit zurückgehalten, hatte er doch solch ein eigenartiges Gefühl, dass man weder beschreiben noch erklären kann.
Kaum hatte er einige Bissen gegessen, da sagte er: „Ich geh mal in die erste Halle. Bin gleich wieder da!“
Großvater freute sich über den Wissenseifer seines ältesten Enkels, nur - den trieb nicht der „Hunger“ nach neuem Wissen, sondern dieses merkwürdige Gefühl. Und dem folgte er jetzt.
Er öffnete die riesige Tür und stand in einer großen, leeren Halle. Nur zwei Statuen standen und schauten zu dem Eintretenden. Anton stellte sich vor den als Legionär in voller Montur dargestellten Römer und betrachtete das Kunstwerk.
„Salve, Antonius!“, hörte er eine Stimme. Er fuhr herum, aber niemand außer ihm war im Saale. „Salve! Du hast aber lange gebraucht, um mich zu besuchen. Sag, warum fehlt Martinius? Kommt er auch? Mein Freund erwartet ihn schon.“
„Ja, wo ist Martinius?“, vernahm jetzt Anton eine zweite Stimme. „Hole ihn doch, damit wir euch eine Botschaft anvertrauen können!“
Anton stand kreidebleich und schaute sich um. Aber niemand außer ihm war in der riesigen Halle. „Ich bin verrückt!“, schrie er laut. Seine Stimme widerhallte. Erneut wurde Anton aufgefordert, seinen Bruder zu holen. „Geh, Antonuis! Geh!“, bat die zweite Stimme. „Bringe Martinius zu uns und ihr beide erfahrt die Gnade des allmächtigen Jupiters. Nur zwei Brüdern gewährt er sie, die Antonius und Martinius heißen. Lange haben wir auf euch gewartet. Nun beeil dich, hole deinen Bruder, damit durch uns der große Jupiter sprechen kann!“
Anton rannte nach draußen. Dumpf fiel die mächtige Tür ins Schloss. Glaubte er mit dem Zuschlagen der Tür seien die geheimnisvollen Stimmen verschwunden, so irrte er. Sie waren in ihm und er konnte sich nicht wehren. So rannte er zu den Großeltern und suchte dort vergeblich Martin.
„Wo ist denn Martin?“, fragte er aufgeregt.
„Auf der Toilette“, erhielt er zur Antwort.
„Ich muss auch!“ Anton verschwand in Richtung Toiletten und dort erwischte er seinen Bruder.
„Martin, du musst unbedingt mitkommen! Zwei Römer verlangen nach uns! Los komm!“
„Was, zwei Römer? Anton du spinnst doch!“ Martin grinste und tippte sich an die Stirn.
„Nee, nee – glaube es mir! Zwei Römer wollen uns beide sprechen und uns etwas Wichtiges anvertrauen. Also komm!“
Für wichtige Dinge, die dazu noch so geheimnisvoll waren, war Martin immer zu haben - nur dass Anton zwei Römer erwähnte, machte ihn doch mächtig stutzig. Die Neugierde siegte aber. „Wo sind denn deine Römer?“, fragte er grienend.
„Dort in der großen Halle!“ Beide Jungs rannten zur Halle. Sie sahen, wie ein älteres Ehepaar die Tür öffnete und die Halle betrat.
Anton drückte zaghaft die eiserne Türklinke. Beide Jungs betraten die große Halle. Hatte Anton erwartet, dass er sofort wieder die Stimmen hören würde, so wurde er enttäuscht. Nur das leise Gemurmel der älteren Leute war zu vernehmen.
„Wo sind denn nun die Römer?“, flüsterte Martin.
„Ich weiß es nicht! Vorhin sprachen sie zu mir!“ Anton zuckte verlegen mit den Schultern.
„Ach, du bist wirklich verrückt!“ Martin lachte laut. Das ältere Ehepaar schaute sich nach den Jungs um und schritt dann zur Tür. Anton wollte ihnen nach, doch eine unsichtbare Kraft hielt ihn gefangen. „Warte! Warte!“, hörte er eine innere Stimme. Und auch Martin vernahm dieses „Warte!“ in sich.
Die große, schwere Tür fiel ins Schloss. „Salve Martinius!“, hörte Martin. Der so begrüßte fuhr herum und starrte zu der Statue. Doch mit der geschah etwas Seltsames – aus diesem kunstvoll geformten Stein wurde ein Mensch, ein römischer Legionär. Ein Mensch, der sich schüttelte, sich dehnte, sich streckte - so als wollte er die steifen Glieder beweglicher machen. Auch der zweite Legionär wurde zu einem Mensch aus Fleisch und Blut. Er zog Grimassen, um seine erstarrte Gesichtsmuskulatur zu massieren. Nun wusste Martin, dass sein Bruder weder gesponnen hatte noch verrückt sei. Erstarrt und mit offenen Mund blickte er auf dieses Schauspiel. Dann griff er hastig Antons Arm, als ob ihm sein älterer Bruder Schutz geben könnte. „Anton, siehst du auch was ich sehe“, flüsterte er. Anton nickte nur.
„Ach“, sagte der eine Legionär, „ist das eine Wohltat! Tausend Jahre mussten wir warten bis dass uns wieder zwei Brüder, die Antonius und Martinius heißen, über den Weg laufen.“ Er streckte und reckte sich und ging dann wiegenden Schrittes zu dem anderen Legionär.
Jetzt standen die beiden Römer den Brüdern gegenüber. „Ich bin Theodosius!“, tönte der etwas ältere Legionär. „Und mich nennt man Claudius!“, ergänzte der andere. Anton wollte sich jetzt auch vorstellen, doch da lachte Claudius nur. „Seit ihr das große Eingangstor durchschritten habt, kennen wir eure Namen - wir kennen eure Gedanken und Gefühle. Die Gnade des mächtigen Jupiters brachte wieder Leben in unseren Stein und über euch schüttet der mächtige Jupiter das Füllhorn des Glücks aus.“
Theodosius nickte zu den Wortes des Claudius: „Bald steht ihr vor Jupiter. Auf dem Olymp wird euch der Herrscher der Herrscher der Welt, der Göttervater Jupiter, empfangen. Alle Götter, alle Geister werden euch jeden Wunsch erfüllen. Dies ist die Botschaft des großen und mächtigen Jupiters. Und als besondere Gunst befahl Jupiter, dass Merkur, der Götterbote, euch persönlich zu ihm führen soll.“
„Aber wenn ich gar nicht zu Jupiter will?“, fragte Martin schüchtern.
Weder Claudius noch Theodosius gingen auf Martins Frage ein. Claudius formte die Hände zum Trichter vor dem Mund und rief mit Donnerstimme: „Merkur! Antonius und Martinius warten auf dich!“
Die ganze Halle erbebte unter diesem Ruf. Das Dach der Halle öffnete sich und laut schimpfend schwebte ein Mann mit seltsamen Aussehen hernieder. Das konnte nur Merkur, der Götterbote, sein. Flügelschuhe und Flügelhelm, in der Hand den Hermesstab – so stand Merkur, Sohn des Jupiters, vor ihnen.
„Ja glaubst du, Claudius, mit deinem Gebrüll mich zur Eile antreiben zu können. Schließlich habe ich noch andere Aufgaben. Ich bin nicht nur Götterbote, ich bin auch der Gott der Diebe, der Reisenden und des Handels! Und somit habe ich wahrlich genug zu tun!“ Während er redete betrachtete er die Brüder.
„Verzeih Merkur! Verzeih!“, erwiderte Claudius. „Der große Jupiter hat uns befohlen, alle Brüder, die Antonius und Martinius heißen, sofort zu ihm zu bringen. Tausend Jahre haben wir warten müssen, nun stehen wieder ein Antonius und ein Martinius vor uns und können die große Gnade des Jupiters empfangen.“
„Na ja, ob gerade heute Jupiter darüber erfreut sein wird? Ihr wisst ja, seine Frau, die Juno, setzt ihm wieder mal gehörig zu. Aber vielleicht ist dann die Abwechslung gerade recht.“ Das sprach der Götterbote und umkreiste dabei die beiden Jungs. „Machen wir uns auf den Weg! Auf zum Olymp! Jupiter erwartet uns!“
Anton und Martin standen nur und waren hilflos dem Gott ausgeliefert. Merkur fasste sie an die Hände und auf ging es zu dritt in den Götterhimmel. Merkur bewegte sich durch so die Lüfte, als würde er auf der Erde einen Dauerlauf durchführen. Je schneller er die Beine bewegte, desto schneller ging es durch die Lüfte. Den Jungs pfiff der Wind nur so um die Ohren. „Tretet“, rief ihnen Merkur zu, „tretet! Umso schneller können wir eilen!“ Und die Jungs traten die Luft und noch schneller ging ihr Lauf durch die Lüfte.
„Dort, auf dieser Wolke ruhen wir uns aus!“, verkündete Merkur und zeigte auf eine kleine helle Wolke weit vor ihnen. Und so traten die Brüder fleißig und erreichten erschöpft mit Merkur das Wölkchen.
„Fallen wir da nicht wieder runter?“, fragte ängstlich Martin.
„Ja“, pflichtete ihm Anton bei, „ich habe auch Angst, auf die Erde zurückzufallen!“
„Nur Mut, Antonius und Martinius! Nur Mut! Mit solchen Namen, wie ihr sie tragt, hat man immer Mut!“
„Warum sollen unsere Namen einem Mut machen?“, fragte Anton.
Merkur klopfte das Wölkchen zurecht, nahm Platz und forderte die Jungs, die immer noch eifrig beim Lufttreten waren, auf, sich neben ihn zu setzen.
Kaum saßen die Brüder, antwortete Merkur mit einer Frage: „Ja, wisst ihr denn nicht, nach welchen Berühmtheiten ihr beide benannt seid?“
Da die Jungs verneinten, schaute sie Merkur verständnislos an, schüttelte den Kopf und murmelte – aber recht laut: „Nein, Menschen gibt es?! Haben berühmte Namen und wissen nichts darüber! O, Jupiter und du willst ihnen deine große Gnade gewähren?!“
Dann stellte er sich auf die Wolke und das geschah so heftig, dass das Wölkchen bedrohlich zu schwanken begann. Merkur hob den Hermesstab und schrie mit gewaltiger Stimme: „Aeolus, Gott der Winde! Helfer der Reisenden – hilf mir jetzt! Blase und treibe unsere Wolke zu dem Olymp! Der mächtige Jupiter erwartet seinen Sohn! Mit mir reisen Antonius und Martinius! Menschen, die berühmte Namen tragen! Jupiter erwartet uns!“
Merkur setzte sich zu den Brüdern. Da aber nichts geschah, sprang er wütend auf und schrie: „Aeolus! Ich, Merkur befehle dir: Blaaaase!!!“
Und ein Ruck ging durch die Wolke. Merkur stürzte hin und in einem Gelächter war zu hören: „Ha,ha,ha! Reicht das, du großer Merkur? Ha,ha, ha!“
„Manchmal ärgert er ganz schön, dieser Aeolus“, knurrte Merkur. Das Wölkchen bewegte sich zunehmend schneller und ab und zu sahen Anton und Martin ein mächtiges, pausbäckiges Gesicht. Aelus, den Mund gespitzt, blies die Wolke vor sich her. Er zwinkerte mit dem linken Auge den Jungs zu und schien mit größtem Vergnügen seine Arbeit zu verrichten.
Merkur schaute nach unten und sagte: „Ach, wir sind erst über den Alpen. Noch haben wir einen weiten Weg. Hört mir zu, damit ihr, wenn ihr vor dem Göttervater Jupiter tretet, wisst, nach welchen Berühmtheiten ihr benannt seid.“
Er räusperte sich, setzte sich gerade hin, zückte seinen Hermesstab und mit kreisenden Bewegungen zeichnete er das Bild eines Legionärs in den blauen Himmel. „Das ist mein Bruder Mars. Schwert, Schild und Helm sind die äußeren Zeichen seiner Macht. Ihr Menschen zeigt ihn auch mit einer Fackel und einem Hund als Begleiter. Jupiter verlieh ihm die Macht eines Gottes, der die Schlachten lenkt. Mars nennt sich selbst Gott des zerstörerischen Krieges. Bleiben auf dem Kriegsschauplatz die Toten zurück, so haben die Geier ein Festmahl. Deshalb gehört auch dieser Vogel mit Recht zu seinem Symbol. Er, der stolze Kriegsgott, mag dieses Symbol aber gar nicht. Deshalb, Martinius, erwähne es nicht in seiner Anwesenheit. Du Martinius wirst sein Gast sein, denn Martinius bedeutet nichts anderes als `Sohn des Mars´. “
Martin machte zuerst große Augen. Er war der Sohn eines Gottes? So`n Quatsch, dachte er und sagte dann aber grinsend: „Habe ich dann auch göttliche Macht?“
„Göttliche Macht kann nur Jupiter verleihen“, erwiderte ärgerlich Merkur. „Seid ihr Menschen aber unwissend.“
„Merkur, weißt du auch woher mein Name kommt? Bin ich auch ein `Sohn eines Gottes´?“, fragte Anton.
„Nein, du unwissender Antonius. Dein Namensgeber ist ein Mensch, ein berühmter Mensch! Marcus Antonius gehörte der einflussreichen und mächtigen Sippe der Antonier an. Er war dein Namenspatron. Marcus Antonius war berühmt als Feldherr und Staatsmann. Einst beherrschte er den gesamten Osten des mächtigen Römischen Reiches. Er verlor seine letzte Schlacht gegen Octavian und starb mit seiner geliebten Kleopatra im fernen Ägypten.“
„Schön und gut, Merkur. Jetzt wissen wir, woher unsere Namen kommen. Nur, warum will uns deshalb Jupiter seine göttliche Gnade erweisen?“, fragte Anton.
„Das müsste euch eigentlich der Göttervater selbst beantworten. Aber, wie ich meinen Vater kenne, macht er es bestimmt nicht. Also hört!“ Merkur holte tief Luft und fuhr in seiner Erklärung fort: „Jupiter befahl Mars, Marcus Antonius in seiner letzten Schlacht hilfreich zur Seite zu stehen. Jupiter wollte, dass Antonius die Schlacht gegen seinen Rivalen Octavian gewänne. Doch Mars hatte Tage zuvor mit Bacchus, dem Gott des Weines, gezecht. Der Wein soll nur so in die durstigen Kehlen geflossen sein. Betrunken, wie Mars war, verwechselte er Freund und Feind und verhalf so Octavian zum Sieg. Octavian wurde später der Kaiser Augustus. Und Marcus Antonius? Ja, dieser Feldherr stürzte sich in sein eigenes Schwert.“
„Das ist aber traurig ausgegangen“, sagte Martin. Und Anton wollte wissen: „Aber warum tötet sich Antonius selbst?“
„Ach, ihr Unwissenden!“ Man merkte es dem Götterboten an, dass es ihm noch unangenehmer war, diese Frage zu beantworten. „Octavian fiel mit seinen Truppen in Ägypten ein. Antonius erhielt Kunde, dass Kleopatra tot sei. Daraufhin stürzte er sich in sein Schwert. Kleopatra aber lebte und so starb Antonius in ihren Armen. Sie, die Herrscherin Ägyptens, ließ sich nun eine Giftschlange bringen und starb neben ihrem geliebten Marcus Antonius am tödlichen Biss der Natter. Jupiter sah diesem Drama vom Olymp aus zu. Wütend über diese Ereignisse schleuderte er Blitze auf die Erde und der Donner war sein Wutgeschrei: `Ich wollte, dass mein Sohn Mars und Marcus Antonius wie Brüder zueinander stehen! So höret: Gibt es auf der Erde zwei Brüder, die Antonius und Martinius heißen, so bringt sie zu mir! Mars soll sehen, wie Brüder zueinander stehen!“ Merkur machte ein sehr nachdenkliches Gesicht: „O, wenn ich daran denke – selten habe ich Jupiter so wütend gesehen.“ Dann schaute er sich um und zeigte auf die Silhouette fern am Horizont.
„Seht dort, das ist der Sitz der Götter – der Olymp!“ Man konnte es dem Merkur ansehen, dass er froh war, keine weiteren Erklärungen geben zu müssen.
Merkur hob den Hermesstab und rief: „Hab Dank, guter Freund Aeolus!“ Und der Gott der Winde pustete ein letztes Mal und trieb das Wölkchen zum Olymp.
Die Jungs sahen den Berggipfel näher kommen. Die Wolke stieß am Berge an und mit einem Sprung begab sich Merkur auf festen Boden. „Kommt!“, rief er ungeduldig. „Jupiter erwartet euch schon!“
So blieb den Brüdern nichts anderes übrig, als auch den Sprung von der Wolke zu wagen. Und sie taten einen gewaltigen Satz. Es war, als würde die Schwerkraft der Erde hier auf dem Olymp, dem Göttersitz, nicht wirksam sein.
„Wau!“, rief Martin nach seinem Riesensatz. Aber sein Ruf „Wau!“ widerhallte, verstärkte sich und donnerte von allen Seiten zurück: „Wau! Wau!, Wau!“ Es war fürchterlich.
„Oh, Martinius, was hast du nur gemacht?!“, jammerte Merkur und griff sich an die Stirn. „Martinius, du erzeugst Donner, den nur Jupiter erzeugen darf! Ich ahne Unheil! Unheil!“
Merkur jammerte, Martin schaute verängstigt und Anton versuchte, seinen jüngeren Bruder zu trösten: „Mach dir nichts draus, Martin. Woher sollst du wissen, dass dein `Wau!´ zum Donner wird! Weißt du was, wir teilen uns das Unheil!“ Und Anton bildete mit seinen Händen ein Sprachrohr und brüllte: „Wau!, Wau!, Wau!“
Und sein „Wau!“ schallte noch gewaltiger als Donnergrollen. Mächtige dunkle Wolken schoben sich zusammen, Blitze zuckten und fuhren zur Erde. Es zischte und brodelte rings um die Jungs. Sie kamen sich vor wie in der Hölle, aber nicht wie im Götterhimmel. Dann riss die Wolkendecke auf und ein mächtige Gestalt wurde sichtbar. Sie fuhr hinab zum Olymp und wurde dabei zusehends kleiner. Schließlich stand ein würdiger älterer Mann vor den Jungs. Sein lockiges Haar war schlohweiß, ein mächtiger weißgelockter Bart umrahmte ein gütiges Gesicht.
„Jupiter“, flüsterte Anton seinem Bruder zu. Der fasste Antons Hand. So standen sie vor Jupiter und erwarteten die Strafe für ihr Wau-Gebrüll.
„Seid willkommen!“, brüllte Jupiter. Kaum hatte er den Willkommenssatz gerufen, fuhr eine ältere Frau aus dem Himmelsgewölbe herab. „Jupiter“, sagte sie sehr energisch, „beherrsche dich! Empfängt man so Gäste, die man selbst eingeladen hat?!“ Sie wandte sich zu den Brüdern und säuselte: „Willkommen Martinius! Willkommen Antonius! Wir freuen uns über euren Besuch. Ich heiße Juno und dies ist mein Gemahl Jupiter.“
Jupiter räusperte sich und flüsterte dann: „Seid willkommen, Martinius und Antonius! Lange mussten wir wieder auf zwei Brüder mit euren Namen warten. Nun seid ihr bei uns. Mögt ihr eine kleine Stärkung von eurer langen Reise?“
Er wartete keine Antwort ab, schnipste mit den Fingern und seine Gemahlin reichte ihm einen Krug. „Nehmt und trinkt! Es wird euch munden!“
Anton nahm den Krug und setzte ihn an die Lippen. „Nur einen Schluck, Antonius“, hörte er Juno sagen, „sonst werdet ihr göttergleich unsterblich!“
Hastig setzte Anton den Krug ab. „Ich will aber kein Gott werden!“, rief er. Und wieder grollte es verdächtig. Doch Jupiter beschwichtigte: „Das ist Ambrosia, Nahrung der Götter. Nur, wenn du sie regelmäßig trinken würdest, könntest du ein Gott werden. Und da hätte ich ja auch noch ein Wörtchen mitzureden!“ Beim letzten Satz blitzten und funkelten seine Augen. Juno, die widersprechen wollte, schloss den bereits geöffneten Mund.
Jetzt nahm Anton einen winzigen Schluck. Das war ein Genuss! Dieser Nektar, denn das ist Ambrosia, die Götterspeise, war süß und aromatisch. Seine Zunge und der Gaumen verlangten nach mehr - sein Verstand sagte: Halt, es droht Unsterblichkeit!
„Nur einen winzigen Schluck, Martin“, flüsterte Anton und reichte seinem Bruder den Krug. Martin trank und murmelte: „Herrlich! Ich nehme noch einen winzigen Schluck!“
„Nein!“ Anton entriss Martin den Krug und gab ihn Juno. Die lächelte ihm freundlich zu.
„Jetzt habt ihr die Kraft, um in unser Reich zu kommen“, sagte Jupiter. Und obwohl er dies nicht brüllte, war es doch wie ein Donnergrollen. „Folgt mir in den Himmel!“
Jupiter fuhr aufrecht nach oben und Juno folgte ihm, freundlich den Brüdern zuwinkend.
Merkur, der die ganze Zeit abseits stand, kam jetzt zu den Brüdern. „Seht“, sagte er und stieß sich mit den Füßen vom Berge ab, „seht, so steigt ihr in den Himmel auf!“
Martin tat es ihm gleich und erhob sich, als wäre er eine Feder. Doch Anton hatte Mühe, sich vom Boden zu lösen. So oft er es auch versuchte, immer wurde es nur ein gewaltiger Hüpfer.
„Anton, mit beiden Beinen gleichzeitig!“, rief ihm Martin zu. Obwohl Martin sehr laut gerufen hatte, blieb das Donnergrollen aus. Es ist schon eigenartig mit diesen Göttern, dachte Anton und stieß sich mit beiden Beinen gleichzeitig ab. Jetzt war es kein Hüpfer mehr, jetzt flog er neben Martin und Merkur hinauf in den Götterhimmel.
„Jupiter wird begeistert sein!“, rief Merkur den Brüder zu. „Auch die dritte Prüfung habt ihr bestanden!“
Nur, was für Prüfungen das gewesen sein sollten, das verstanden weder Anton noch Martin.
Der Aufstieg in den Götterhimmel erfolgte ohne jede Anstrengung. Dass die Jungs flogen, sahen sie nur daran, dass die Erde sich immer weiter entfernte.
„Jupiter hat alle Götter zur Sitzung verpflichtet. Seid also nicht erschrocken, wenn viele euch bestaunen wollen.“ Merkur lächelte.
Die Brüder verstanden weder sein Lächeln noch seine Worte – überhaupt waren diese Götter für die Jungs eigenartige Wesen. Plötzlich tat sich eine grüne Wiese auf, weiße kleine Wölkchen schwirrten umher und viele Menschen – oder waren das die Götter – spazierten auf schmalen Wegen.
„Sieht so der Götterhimmel aus?“, fragte Anton Merkur erstaunt.
„Nein, extra für euch Menschenkinder hat Jupiter dies geschaffen. Der Götterhimmel ist überall.“
Darüber nachzudenken hatte Anton keine Zeit mehr. „Hosianna!“ riefen die Götter. Martin, der mit diesem Ruf nichts anzufangen wusste, fragte Merkur schüchtern: „Was heißt denn das?“
„Das ist ein Freudenruf! Euch zu Ehren rufen dies die Götter. Extra für euch haben sie dieses Wort aus einer fremden Sprache gelernt. Hört, sogar singen tun sie es für euch!“
Und wahrlich, die Götter, große und kleine, mächtige und weniger mächtige, männliche und weibliche – alle sangen vielstimmig: „Hosianna! Hosianna!“
„Die Götter sind ganz schön verrückt“, bemerkte Martin leise. Und Anton bekräftigte: „Ganz gehörig verrückt!“
Der Hosianna-Gesang hörte auf. Drei Stühle, Thronen gleich, standen auf der grünen Wiese. Jupiter setzte sich in die Mitte, links neben ihm saß Neptun, unschwer an seinem Dreizack zu erkennen. Auf der rechten Seite saß Pluto, der göttliche Herrscher der Unterwelt. Alle anderen Götter und göttlichen Wesen standen entsprechend ihres Ranges im Halbkreis um die drei Herrscher.
Merkur half jetzt den Brüdern. „Jetzt geht es förmlich zu“, sagte er. „Jupiter beherrscht den Himmel, Neptun die Meere und das Land und Pluto die Unterwelt. Sie sind Brüder und die mächtigsten Götter. Verneigt euch vor den Gottheiten!“
So aufgefordert, taten dies die Jungs. Damit war der offizielle Teil aber auch schon beendet. Jetzt aber wussten Anton und Martin, was Merkur mit dem Bestaunen meinte und warum er so hintergründig gelächelt hatte. Die Götter schwirrten um sie herum, betrachteten ihre Gesichter, griffen nach den Sachen, durchstrichen die Haare und schwatzten, lachten, wisperte und flüsterten dabei – je nach Temperament und Geschlecht. Nur die drei göttlichen Herrscher blieben sitzen. Und noch einer hielt sich abseits: Mars. Er beäugte die Menschenkinder von weitem, und ganz besonders betrachtete er Martin.
Schlagartig trat Ruhe ein. Jupiter hatte mit Donnergrollen alle Götter wieder im Halbkreis versammelt. „Antonius und Martinius haben alle drei Prüfungen für Brüder glänzend bestanden!“, verkündete er nun aber mit normaler Stimme. Sie haben sich würdig erwiesen, dass ich mein Versprechen, dass ich einstmals gab, auch halten kann. Mars, mein Sohn, welche Wohltaten hältst du für Martinius bereit?“
Mars trat vor, zückte sein Schwert und zeichnete in den blauen Himmel. Augenblicklich entstanden Bilder, wie sie die Brüder aus dem Fernsehen kannten. Panzer rollten mit lautem Getöse, Hunderte Flugzeuge warfen Bomben, Soldaten schossen aus tausenden Geschützrohren, Häuser brannten, Frauen, Kinder und Greise liefen angstvoll schreiend durcheinander – dann trat Ruhe ein. Man sah eine zerstörte Stadt, überall lagen Tote und Verwundete, weinend zog ein verletztes Mädchen ihren kleinen Bruder an der Hand.
Mars zeichnete das nächste Bild: Ein Mann in Generalsuniform ging begleitet von mehreren Offizieren über das Schlachtfeld. „Ein glorreicher Sieg, Herr General!“, hörte man einen Offizier sagen. Der General lächelte zufrieden. Jetzt konnte man die Gesichtszüge erkennen – es waren Martins!
„Das, mein mein mächtiger Jupiter, das ist mein Geschenk für Martinius! Möge er ein großer Feldherr werden!“
„Ich will kein Feldherr werden! Ich will keine Kriege! Ich will, dass alle Menschen Frieden haben!“
Martin schrie diese Worte angstvoll heraus. Erstaunt schauten die Götter. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Lehnt sich doch ein kleines Menschenkind gegen die Wohltaten der Götter auf?!
Ein Raunen ging durch die versammelte Götterschar. Jupiter räusperte sich und augenblicklich trat Ruhe ein. „Antonius, dein Namenspatron war ein großer Feldherr und Staatsmann. Willst du ein großer Kriegsheld werden?“
Da Anton energisch mit dem Kopf verneinte, meinte Jupiter: „Dachte ich es mir. Na gut, schau, das wäre mein göttliches Geschenk für dich.“
Und Jupiter zeichnete einen Mann, der fein gekleidet vor vielen Menschen eine Rede hielt. Er sprach von Wohltaten, die seine Regierung für das Volk bereithält. Für seine flammende Rede erhielt er donnernden Applaus. Sichtlich zufrieden ging er mit seiner Begleitung in ein großes Haus. Dort legte ihm sein Sekretär ein Schriftstück zur Unterschrift vor. Man hörte den Sekretär sagen: „Dass ist das neue Gesetz für Steuererhöhungen.“ Schwungvoll setzte der Staatsmann, er trug Antons Gesichtszüge, seinen Namen unter das Schriftstück.
„Solch ein großer Staatsmann kannst du werden, Antonius!“, verkündete Jupiter. „Er beherrscht sein Volk und ist der erste Mann im Staate!“
„O, großer und mächtiger Jupiter!“ Anton wählte absichtlich diese schmeichelnde Anrede. „Dieser Mann beschwindelt ja die Menschen! So will ich nicht werden!“
„Ja, was willst du dann werden?!“, zornig entfuhr dieser Satz dem Jupiter. Seine Augen blitzten und die Stimme hatte wieder dieses mächtige Donnergrollen.
„Archäologe, möchte ich werden!“ Mutig stand Anton vor Jupiter und wiederholte: „Archäologe für die altägyptische Zeit!“
„Davon habe ich ja noch nie etwas gehört!“, donnerte Jupiter. Anton wollte ihm antworten, doch Jupiter fauchte ihn an: „Ruhe!“ Dann brüllte er mit seiner mächtigen Stimme: „Wer von euch kennt dieses, dieses Archäologe?“
Betretenes Schweigen herrschte unter den Göttern. Von ganz hinten hörte man ein feines Stimmchen: „Ich habe davon gehört, mächtiger Jupiter.“ Es trat eine alte, weißhaarige, schlanke Frau nach vorn.
„Du, Aeternitas? Bist du nicht für die Ewigkeit zuständig?“ Jupiter zeigte seine Verwunderung sehr deutlich.
„Ich habe davon gehört, göttlicher Jupiter“, erwiderte Aeternitas. „Die Menschen nennen so die Leute, die im Boden nach Spuren vergangener Zeiten suchen. Sie graben in der Erde und freuen sich über alte Tonscherben, kaputte Statuen und alten Schmuck. Sie bezeichnen dies als Schätze.“
„Das bezeichnen sie als Schätze?“ Jupiter war sehr erstaunt.
„Ja, mein Jupiter, die Menschen nennen das Schätze. Sie erforschen damit, wie ihre Vorfahren früher gelebt haben.“
„Warum fragen sie nicht uns? Wir könnten ihnen alles sagen! Ach, diese Menschen!“ Jupiter schüttelte sein weißes Haupt. „Diese Menschen!“
Aeternitas war wieder in die hintere Reihe getreten. Jupiter schien immer noch mit den Menschen und ganz besonders mit den beiden Menschenkindern zu hadern. „Sag Martinius, willst du auch so etwas Seltsames werden?“ Er blickte Martin scharf in die Augen, kleine Blitze zeigten in seinen Augen, dass er ungeduldig und immer noch verärgert war.
„Nein, Jupiter! Ich möchte später, wenn ich groß bin, Geschichten und Erzählungen schreiben. Vielleicht kann ich ein berühmter Schriftsteller werden.“
„Würdest du auch aufschreiben, was du im Götterhimmel erlebt hast?“, fragte ihn Jupiter und wieder blitzten seine Augen.
„Ja, das würde ich, großer Jupiter!“
„Was würdest du denn da schreiben, Martinius?“
„O, großer Jupiter, ich würde von eurer Weisheit, eurer Klugheit und eurer Gerechtigkeit berichten!“, schmeichelte Martin, Jupiter dabei aus den Augenwinkeln beobachtend.
„Würdest du!“ Jupiters Gesicht hellte sich zusehends auf. „Ja, mein Martinius! Diese Eigenschaften besitzt wahrlich der große Jupiter!“ Und die versammelte Götterschar pflichtete ihm bei: „Ja, die besitzt der große Jupiter!“
Ein strahlender Göttervater rief freudig aus: „Wer von den Göttern könnte unseren Brüdern Segenswünsche für ihr weiteres Leben mitgeben?“
Aus der ersten Reihe trat eine stolze Frau heraus. „Ich, Minerva, die Göttin der Wissenschaften und der Künste, die Göttin der Weisheit und des Friedens gebe ihnen meinen Segen mit auf den Weg!“ Sie breitete die Arme aus und murmelte lange viele Segenswünsche. Anton und Martin wurde es ganz warm ums Herz.
Damit schien die Audienz beim Göttervater Jupiter beendet. Jupiter schaute nämlich nach unten. Auch Anton und Martin riskierten einen Blick auf die Erde. Was sie zu sehen bekamen, erstaunte sie. Deutlich sahen sie die vielen Gebäude des Museums, die mächtigen Mauern und die Eingangstore. Mitten in der Grünanlage saßen auf einer Bank die Großeltern. Jupiter erhob seine mächtige Stimme: „He, Claudius! He, Theodosius! Bringt Antonius und Martinius zurück auf die Erde!“
Die Jungs sahen, wie sich das Dach eines Museumsgebäudes öffnete und die beiden steinernen Legionäre zu Menschen wurden. Sie wuchsen und wuchsen und bald waren ihre Köpfe in der Höhe der Kinder. Claudius nahm Martin auf die Schulter und Theodosius Anton. Ganz allmählich schrumpften die beiden Römer. Anton und Martin hörten die Götter rufen: „Viel Glück auf all euren Wegen!“
Als die Legionäre ihre natürliche Größe erreicht hatten, setzten sie die Kinder auf den Steinboden und sie kletterten auf den Sockel. Die Brüder sahen, wie sie von den Füßen beginnend, wieder zu Stein wurden. „Jupiter war sehr beeindruckt von euch! `So sollen Brüder sein!´, hat er vor allen Göttern verkündet!“, sagte Claudius. „Ja, und er hat zu den Segenswünschen der Minerva noch scharfen Verstand und viel Standhaftigkeit dazugelegt!“ „Und Juno schenkt euch Familiensinn! Von Apollo, dem Gott der Poesie, erhaltet ihr...“ Hier konnte Theodosius nicht weiter sprechen. Die Versteinerung hatte sein Gesicht erreicht. Nun war es so, wie es in einem Museum zu sein hat: Ausstellungsstücke stehen aus Stein gefertigt und können von Menschen besichtigt werden!
Anton und Martin verließen die Halle.
„Na, das hat ja nicht lange gedauert!“, sagte Großvater. „Auf, jetzt schauen wir uns noch die beiden letzten Hallen an!“ Großvater packte die Sachen in den Rucksack. Die Großeltern vorneweg, Anton und Martin hinterher – so betraten sie die Halle, die die Brüder vor wenigen Minuten verlassen hatten. Aber nichts verriet ihnen, dass sie hier Seltsames erlebt hatten. Nur als Anton die große mächtige Tür schloss, glaubte er, dass Claudius ihm zugeblinzelt habe. Aber sicher, ja sicher war er sich nicht!