"Mühlengespenster" Teil II

2.Teil:

 

... Zwei Tage später, pünktlich 10 Minuten vor 24 Uhr, öffnete Anton mit dem Spaten erneut das Loch zum Keller und damit zur Wohnung der beiden Mühlengespenster. Martin leuchtete ihm mit der Taschenlampe. Kaum war die Öffnung so groß, dass ein Menschenkopf hindurchpasste, lag Anton auch schon auf dem Boden und starrte in den dunklen Keller. Nichts sah er. Auch als er mit der Taschenlampe hineinleuchtete, erblickten sie keinen Hermann und Adalbert mehr.

„Verflucht!“, schimpfte Anton. „Hat uns doch dieser Banause Adalbert an der Nase herumgeführt. Wir hätten ihm nicht trauen dürfen! Jetzt können wir unsere Wünsche vergessen!“

„Wer ist hier ein Banause!“, kreischte es hinter den beiden Jungs. Sie fuhren herum und erblickten Adalbert in einer Kleidung, die dem frühen Mittelalter entsprach. Prachtvoll sah sein Mantel aus, gefertigt aus edlem Stoff und purpurn gefärbt.

„He!“, entfuhr es Martin. „Sieht der aber toll aus. So ein Kostüm könnte ich zum Fasching gebrauchen.“

„Wenn das dein Wunsch ist, so kann ihn unser `Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´ erfüllen“, sagte leise aber bestimmt `Hermann von der Alten Wassermühle´ hinter Martin.

„Halt! Das ist nicht mein Wunsch!“, schrie Martin seinen Ärger über diese Unterstellung in die dunkle Nacht. „Ich habe mir einen besonderen Wunsch überlegt. Aber den sage ich erst eurem `Allmächtigen´, klar! Los, führe uns zu ihm!“

„Aber gern, mein lieber Martin“, säuselte Hermännchen eifrig und flog, ebenfalls auf das Prächtigste ausstaffiert, geräuschlos durch die Luft und um die beiden Jungen herum.

Adalbert knurrte nur: „Wir kommen wegen euch noch zu spät. Das hat es bei uns noch nie gegeben! Also sputet euch! Marsch! Marsch! Auf nach Meisenburg! Auf zum `Großen Fest´!“

Bereits beim letzten Wort bewegten sich die beiden Gespenster in einem atemberaubenden Tempo nach Westen. Die Richtung war klar: Wasserschloss Meisenburg lag 20 Kilometer westlich von hier.

„Die spinnen wohl!“ Jetzt war es Anton, der seinen Ärger herausschrie. Martin steckte die beiden Finger in den Mund und pfiff so laut er konnte.

„Hast du mich gerufen, mein lieber Martin?“, fragte Hermännchen äußerst höflich. „Allerdings!“, antwortete ihm Martin. „Was glaubt ihr wohl, wie wir diese 20 Kilometer zurücklegen sollen?“

„Zu Fuß, du dummer Kerl!“ Adalbert war auch wieder erschienen. Er stand abseits und feixte. „Wenn ihr nicht beim letzten Schlag der Turmuhr im Wasserschloss seid, erlischt euer Wunsch!“

Ein schauderhaftes Lachen folgte dieser Mitteilung. Voller Wut nahm jetzt Anton seinen Spaten und hieb nach Adalbert. Er traf ihn und spaltete ihn in zwei Hälften.

In diesem Moment begann, die Turmuhr zu schlagen. Anton fasste Adalbert an seinem Umhang, der den abgetrennten unteren Körper verdeckte, und schrie sein Gespenst an: „Sofort bringt ihr uns zum Schloss!“

Kläglich wimmerte jetzt Adalbert: „Aber nicht ohne meine zweite Hälfte, lieber Anton.“

Die beiden Jungs trauten ihren Augen nicht. Die untere Hälfte des Adalbert, also seine Beine mit seinem Bauch, bewegte sich zum Oberteil und beide fügten sich nahtlos zusammen. „Jetzt heißt es sich sputen, Hermännchen“, sagte Adalbert. „Nimm dir deinen Martin.“

Er selbst fasste Anton an eine Hand und hob ihn in die Luft, als wäre Anton selbst nur aus Luft gemacht. Dem Anton schwanden fasst die Sinne von dieser Reise. Adalbert setzte ihn unmittelbar vor dem Haupteingang des altehrwürdigen Wasserschlosses ab. Er war noch so benommen von dieser Luftreise, dass er gar nicht mitbekam, dass sein Bruder mit Hermännchen direkt neben ihm landete.

„Oh, Hermännchen! Das war herrlich! Du bist der größte Geist!“, jubelte Martin. Und an die Rückreise denkend, fügte er hinzu: „Du bringst mich doch wieder zurück, oder?“

Während Hermännchen sich über das Lob eines Menschen ob seiner Gespensterkunst sehr freute und Martins Frage bejahend nickend beantwortete, knurrte Adalbert: „Das müssen wir uns noch dreimal überlegen. Erst wollen wir sehen, wie ihr euch bei unserem Fest aufführt!“

„Ach, sei doch nicht so grob. Es sind doch zwei nette Jungs!“, meinte Hermännchen. Durch Martins Lob war er so freudig gestimmt, dass er es sogar wagte, sich gegen Adalbert, den er immer wegen der Konsequenz in seinen Handlungen beneidete, auflehnte.

Die Antwort kam stehenden Fußes. „Nun mucke du nicht auf!“, schalt Adalbert seinen Gespensterfreund. „Deine lieben Jungs müssen erst einmal beweisen, dass sie es wert sind, bevorzugt behandelt zu werden!“

Hermann drehte sich jetzt zu den Jungs um und sprach mit säuselnder Stimme: „Lieber Martin, lieber Anton! Mein Freund Adalbert meint es nicht so. Er ist ein gutes Gespenst. Aber recht hat er in einem: Ihr müsst vor der Vollversammlung der Gespenster und Geister euch ordentlich benehmen.“ Er machte eine Pause. Martin fand diese viel zu lang und fragte deswegen nach: „Wie müssen wir uns benehmen, Hermännchen?“

„Erste Regel: Verneigt euch dreimal vor dem `Allmächtigen´! Zweite Regel: Widersprecht nicht, wenn der `Allmächtige´ euch belehrt. Dritte Regel: Der `Allmächtige´ wird euch einladen, natürlich nur bei entsprechender Eignung, dem Bund der Gespenster beizutreten. Das wäre eine große Ehre für euch. Nehmt sie an und wir könnten mit euch herrliche Spiele machen, die Menschen necken. Wir hätten viel Spaß miteinander!“

„Also Hermann, die dritte Regel schlage dir gleich aus dem Kopf! Da machen wir nicht mit! Wir bleiben Menschen und ihr könnt ja Gespenster bleiben! Klar!!“ Anton war sehr überzeugend, denn Adalbert meinte umgehend: „Die dritte Regel muss auch nicht befolgt werden. Aber unser `Allmächtiger´ sucht ständig nach gutem Nachwuchs, denn auch ein Gespensterleben ist manchmal begrenzt.“

„Also, ich habe auch nicht die Absicht, als Gespenst herumzugeistern“, bemerkte Martin. Und da ihm der gesamte Aufenthalt vor dem Wasserschloss viel zu lange dauerte, fragte er nach: „Wann sehen wir denn endlich euer Obergespenst. Wir müssen morgen früh wieder im Bett liegen, sonst kriegen wir tüchtigen Ärger mit unserer Mam.“

„Keine Sorge deswegen“, versicherte Hermännchen. „Seit wir das Wasserschloss betreten haben, ist die Zeit stehen geblieben. Jetzt ist es nach Menschenzeit nur wenige Turmuhrschläge nach Mitternacht. Wir gehen ...“

Hermann wurde von Adalbert unwirsch unterbrochen. „Nenne unseren `Allmächtigen Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´ nie wieder Obergespenst. Dann könnt ihr eure Wünsche gleich vergessen. So nun gehen wir! Macht alles uns nach, dann verhaltet ihr euch schon richtig.“

„Warte Adalbert“, bat Hermann. „Wir müssen Vorsorge treffen, dass unsere netten und freundlichen Jungen keinen Schaden nehmen. Denke doch an den letzten Besuch von Menschen. Du weißt doch noch – im Jahre 1836!“

Hermännchen machte sein freundlichstes Gesicht, zückte aus einer unergründlichen Tasche einen glitzernden Ring, spukte dreimal darauf und übergab ihn Martin: „Jetzt ist er dein und zwar für die Zeit, in welcher ihr mit uns Mühlengespenster leben werdet. Kommst du während der Zeit deines Aufenthaltes bei uns in Not, dann drehe den Ring und wünsche dich nach Hause. Dieser Wunsch wird erfüllt werden. Nur versprechen musst du mir, lieber Martin ...“ Er machte eine längere Pause und schaute Martin durchdringend an. Dem kroch bei diesem Blick die Kälte den Rücken hinauf. „Versprechen musst du mir, dass du danach den Ring wieder in unsere Behausung zurückwirfst. Kaum ist der Ring an meinem Finger, vergisst du, dass es uns gibt.“

„Wenn ich dich aber nicht vergessen will!“ Mit dieser Antwort hatte Hermännchen nicht gerechnet. Er stotterte: „Dann ..., dann ..., ja dann können wir euch nicht zum `Allmächtigen´ mitnehmen.“

„Gut! Gut! Ich verspreche es!“ Martin wollte auf keinen Fall den Besuch beim `Allmächtigen´ verpassen und außerdem hatte er sich einen Wunsch ausgesucht, den er auch erfüllt haben wollte.

„Dann aufgepasst, lieber Martin! Spreche mir nach: Ich gelobe bei meinen Gebeinen, bei meinem Haupte, bei meiner Seele! Ich gelobe, meinem Freunde ` Hermann von der Alten Wassermühle´ seinen einzigartigen Ring, den einst der `Große Geist´ mit gewaltiger Macht versah, zurückzugeben. Breche ich diesen Schwur, so wird meine Seele verdorren, mein Haupt abgeschlagen und meine Gebeine sich kreuzen.“

Brav sprach Martin diesen gewaltigen Schwur nach. Hermännchen drückte ihm den Ring in die Hand und flüsterte: „Vergiss nicht, nur bei Gefahr für dein Leben anwenden. Nur bei Gefahr, Martin!“ Laut sagte er zu Adalbert: „Jetzt du, lieber Adalbert.“

Der zückte sehr unwillig einen Ring, der im Glanz und Feuer der Steine Hermännchens Ring in keiner Weise nachstand, und er verlangte auch von Anton diesen Schwur. Nur ließ er „meinem Freunde“ weg und knurrte hinterher verdrießlich: „Hältst du den Schwur nicht, wirst du alle Qualen der Hölle und des Himmels erleiden! Denke immer daran!“

Hermännchen strahlte jetzt seine beiden Menschenfreunde an. „Machen wir uns bereit – für unseren Auftritt“, rief er voller Freude. „Die Versammelten werden staunen! Hei – das wird ein Fest!“

„Na, ja“, griente Adalbert. Ein Lächeln konnte er sich nicht abringen. Er stellte sich in Positur, blähte sich auf die doppelte Größe auf und stolzierte zum Hauptportal. Auch Hermännchen veränderte sein Aussehen. Während Adalbert sowohl in der Höhe als in der Breite tüchtig zugelegt hatte, wurde das kleine Hermännchen ein spindeldürres übergroßes Gespenst. Mit großen Schritten, die etwas Feierliches und doch dabei Komisches ausdrückten, führte Adalbert den Zug an. Hermännchen sah so würdevoll aus, dass ihn bestimmt keiner mehr `Hermännchen´ nannte. Martin stolzierte nach Hermännchen, den Schluss bildete Anton. Das große Hauptportal war festlich mit vielen Fahnen und Wappen geschmückt. Türen, schwer aus Eichenholz und mit Eisen beschlagen öffneten sich wie von Zauberhand vor Adalbert. Er und Hermännchen hatten eine Größe angenommen, wo selbst diese mächtigen Schlosstüren zu niedrig für die Gespenster waren. Weder Anton noch Martin konnten sagen, ob sich die Türen selbstständig vergrößerten oder ob die Geister sich verkleinerten. Die letzte Tür war erreicht. Adalbert hielt mit einem Male einen mächtigen gewundenen Eichenstock, der mit Gold und Silber beschlagen war, in der Hand. Damit schlug er gegen die Tür, die von den gewaltigen Schlägen aufsprang. Eine Fanfare erklang und ein Herold, Martin meinte hinterher, dass er aussah, wie ein Clown aus dem Märchenbuch, rief mit markerschütternder Stimme: „Willkommen, `Seine erhabene Gepensterhaftigkeit Adalbert, der II´! Willkommen, `Hermann von der Alten Wassermühle´! Willkommen ...!“

Hier brach er ab. Er schwebte zu Martin und Anton, betrachtete beide und dann, sehr gefasst, rief er: „Willkommen, ihr Gäste aus der Menschenwelt! Nennt eure Namen, laut und deutlich.“

Martin und Anton schrien ihre Namen in den Saal. Wie ein Echo hörten sie jetzt ihre Namen, die von den Gespenstern und Geistern gerufen wurden. Ein „Oh!“ und „Ah!“ drückte auch die Verwunderung der Anwesenden aus. Der Herold, es war übrigens das jüngste Gespenst in diesem Raume – nur 350 Jahre alt - flüsterte den Jungs zu: „ Mit diesem Namen wird euch unser `Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´ nicht empfangen wollen. Unser guter Herrscher ist heute unpässlich. Ihr könnt ihn mit diesen Namen nicht begrüßen. Ihr müsst doch noch gewaltige Namen haben. Etikette, meine jungen Herren! Etikette!“

Während alle anwesenden Geister und Gespenster die beiden Jungs umschwirrten und begutachteten, flüsterte Hermännchen den Jungs zu: „O, weh! Das haben wir nicht bedacht! Schnell, überlegt euch gewaltige Namen!“

Viel Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Fanfaren dröhnten, dass der Kopf schmerzte. Die gesamte hintere Wand öffnete sich und ein mächtiges Gespenst schritt erhaben in den Saal. Jetzt konnte man erkennen, welchen Rang die Mühlengespenster und die Gäste einnahmen. Während Adalbert nur leicht den Kopf nickte, vollführte Hermännchen eine vollendete Verbeugung. Der „Rodensteiner“ schlug mit der eisernen Faust gegen seine Rüstung, dass es nur so schepperte. Der Rangniedrigste, es war der Herold, warf sich auf den Boden und krümmte sich wie ein Wurm. Anton wählte schnell die Verbeugung als Ehrenbezeigung und Martin tat es ihm nach. Noch während sie sich verbeugten, hörten sie Hermännchen zischen: „Erste Regel: Dreimal verbeugen!“

So taten es die Jungen. Der „Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle“ stolzierte zu den Jungs, dabei berührten seine Füße nur scheinbar den Boden. Er fasste Martin am Kinn. Der spürte einen eisigen Hauch. Viele Minuten war sein Kinn nach dieser Berührung wie betäubt.

„Oh, wir haben neue Gäste! Wie schön! Gäste aus dem Menschenreich! Nennt eure Namen!“

Da er immer noch direkt vor Martin stand, fühlte sich derselbe auch zuerst angesprochen. Er schrie seinen schnell überlegten Fantasienamen in den Saal: „Jung-Martin, von und zu der Hemgesbergburg!“

„Oh!“ Der „Allmächtige“ war begeistert. „Oh, ein Herr mit einer Burg! Sehr schön, mein lieber Jung-Martin!“ Dann drehte er sich zu Anton um, betrachtete ihn und fragte: „Auch du bist ein Burgherr, mein Freund?“

Anton hatte sich ebenfalls einen Namen in aller Eile ausgedacht. So konnte er schreiend verkünden: „Jawohl, mein `Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´! Mein Name kennt die gesamte Menschheit. Mich heißt man `Ritter Anton, Herr des Adlersteines und Herrscher über den goldenen Drachen´!“  Dabei vollführte er eine galante Verbeugung, die „Seine Allmächtigkeit“ sichtlich beeindruckte. „Welch eine Ehre für uns, Herr Ritter!“, tönte er. Dann drehte er sich um und setzte sich in einen goldenen Sessel. Jetzt hatten die Jungs Gelegenheit, dieses Herrschergespenst zu begutachten. Die edelsten Stoffe, durchwirkt mit Gold- und Silberfäden, schmückten seinen gewaltigen Körper. Sein Haupt bedeckte ein Zwischending zwischen Königskrone und Papsthut, natürlich aus gediegenem Gold, mit erlesenen Edelsteinen besetzt. Seine Finger waren so mit gewaltigen Ringen bestückt, dass man sie selbst kaum sah. Dieser „Allmächtige“ regierte also die Geister- und Gespensterwelt!“

Und dieser „Allmächtige“ erhob seine Stimme, die so gewaltig war, dass die Scheiben in den Fenstern klirrten, die Gläser auf der Festtafel zersprangen und die Brüder sich die Ohren zuhielten. „Hermann von der Alten Wassermühle!“, schrie der „Allmächtige“. „Walte deines hohen Amtes und eröffne unser 41. Fest! Wir werden es als das Fest der jungen Burgherren in Erinnerung behalten!“

Kaum war die Stimme des „Allmächtigen“ verklungen, setzten sich die zersprungenen Gläser wieder von allein zusammen, schwappte der Wein wieder zurück in die Gläser.

Hermann trat vor. Er blähte sich so gewaltig auf, dass selbst seine Gespensterkollegen ihm unverhohlen für diese Leistung Beifall zollten. Grollender Bass ertönte aus seinem gewaltigen Wanst: „Das 41. Fest, das Fest der Wünsche und Freude, das Fest der Gäste und der Gastgeber ist eröffnet. Seid willkommen `Jung-Martin, von und zu der Hemgesbergburg´! Willkommen auch du, `Ritter Anton, Herr des Adlersteines und Herrscher über den goldenen Drachen´!“

Als wäre seine Kraft mit dem Aufblähen und der grollenden Bassstimme verbraucht, schnurrte der „Hermann von der Alten Wassermühle“ auf die Größe des kleinen Hermännchens zusammen. Piepsend rief er: „Das Fest ist eröffnet!“

Kaum war die letzte Silbe verklungen, geschah zuerst gar nichts. Dann, bestimmt war eine Minute in der Gespensterzeit vergangen, gab es ein Gekreische und Gejohle im riesigen Festsaal. Jedes Gespenst nahm seine normale Gestalt an. Sie stürzten sich zuerst auf Martin dann auf Anton, zupften sie an den Haaren, befühlten Nasen, Ohren und betrachteten mit Entzücken die Kleidung der beiden Kinder. Am verrücktesten bei diesen Aktionen gebärdete sich der `Allmächtige´. Er konnte es sich sogar nicht verkneifen, durch die Jungs hindurchzufahren. Nachdem er genug von den Kindern gesehen und sie auch ausgiebig befühlt hatte, rief er fast mit normaler Stimme: „Zu Tisch! Zu Tisch, meine lieben Freunde!“ Als sich der grobschlächtige Rodensteiner und der Bachgeist „Seine erhabene Wässrigkeit“ sich entsprechend der Rangordnung neben den „Allmächtigen“ setzen wollte, schnipste der mit dem Finger. Martin und Anton spürten, wie sie durch die Luft segelten und sanft auf den herrlichen Stühlen neben dem „Allmächtigen“ landeten. Bereits kurz zuvor waren der Rodensteiner und der Bachgeist mit einem ebensolchen Schnips, nur mit der anderen Hand, am Hinsetzen gehindert worden.

„Esst und trinkt, meine jungen Burgherren! Schon lange hatten wir nicht mehr solch vornehmen Besuch bei uns, und noch dazu aus dem Menschenreich! Alle eure Wünsche sollen erfüllt werden. Was wollt ihr essen und trinken, ihr jungen Herren?“

„Ja, `Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´ wir haben einen Wunsch“, antwortete ihm Anton. „Da wir Adalbert und Hermann berührt haben, wünschen wir uns ...“

Unwirsch wurde Anton mit einer Handbewegung am Weiterreden gehindert. Zuerst ziemlich grob, dann gesäuselt sprach der „Allmächtige“: „Langsam! Langsam! Diese Wünsche werden erst um eins ausgesprochen, um eins! Denkt daran, wenn die alte Schlossuhr zu schlagen beginnt. Beim 13. Schlag nennt den Wunsch. Aber bis dahin wird unser Fest zu euren Ehren gefeiert, meine lieben jungen Burgherren.“

 Ohne weiteres Nachfragen schnipste der „Allmächtige“ wieder mit seinen Fingern, sofort eilten zwei liebliche Mädchen zu den beiden Jungs und häuften auf ihren Tellern alle Köstlichkeiten einer feudalen Küche. Die Elfen, denn solche waren es, stellten sich als Lucia, blutiges Tautröpfelein und Elfi, stachliger Sonnentau vor.

Erschrocken fuhr Anton hoch, als er hinter seinem Rücken Adalberts Stimme leise vernahm: „Denke an die zweite Regel und die heißt: Widersprecht nicht, wenn der `Allmächtige´ euch belehrt. Es kann euch sonst schlimm ergehen.“

Adalbert saß entsprechend seines Ranges drei Stühle weiter. Um Anton dies zuflüstern zu können, hatte er seinen Hals um bestimmt 10 Meter verlängert. Anton, etwas verwundert, nicht über die zweite Regel, denn die kannte er ja schon, nein es war Adalbert selbst, der bei ihm kein gutes Gefühl erweckte. Dieser Adalbert, den er als einen Giftzwerg von einem Gespenst bezeichnet hatte, führte garantiert nichts Gutes im Schilde. So flüsterte Anton seinem Bruder zu: „Aufpassen, Martin! Der olle Giftzwerg will uns schaden.“

Da dies hinter dem Rücken des „Allmächtigen“ geschah, glaubte Anton, dass sein Flüstern in diesem Geschrei und Gejohle, das hier im Festsaal herrschte, nicht gehört würde. Aber er hatte nicht die enormen Fähigkeiten der Gespenster einkalkuliert.

Mit einem Aufschrei „Wer ist hier ein Giftzwerg?“ verstummte sofort die gesamte Gesellschaft. Jetzt geriet Anton in Erklärungsnöte. Dann entschied er, auch die unwahrscheinlichen Fähigkeiten der Gespenster einkalkulierend, sich für die Wahrheit.

„Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle“, sagte er sehr ruhig. Um seine Ehrerbietung zu bekunden, erhob er sich dabei vom Stuhl und vollführte eine galante Verbeugung. „Nicht Ihr seid gemeint, sondern Adalbert. Ich meine, er will mir schaden!“

Der „Allmächtige“, angetan von dieser Anrede und der höfischen galanten Verbeugung, brach in schallendes Gelächter aus, sodass sämtliche Scheiben im Schloss zu klirren begannen.

„Brav gesprochen, mein lieber junger Burgherr! Hört, meine lieben Untertanen! Hört, was ich zu verkünden habe!“ Und wieder begann er, schallend zu lachen. Er ging auf Antons Beschuldigung gar nicht mehr ein. Dass Gespenster auch Menschen Schaden zufügen, war ja für ihn als Chefgespenst völlig normal. Er fand es eher lustig, andere Namen zu verwenden. „Heute Nacht heißt unser über alles geliebter Adalbert nur noch `Adalbert, der olle Giftzwerg´! Auch wir legen uns andere Namen zu.“ Er schwebte jetzt durch die Luft und blieb vor Anton in der Luft stehen. „Wie mein junger Burgherr würdest du mich nennen?“

Anton zauderte, denn mit diesem „Allmächtigen“ wollte er sich nicht anlegen. Martin hatte da keine Scheu. Er platzte heraus: „Wie wäre es mit `Euer Aufgeblasenheit´?“

„Fein! Das gefällt mir!“ Als Dankeschön blies er sich so gewaltig auf, dass er zerplatzte und anschließend sich aus Tausenden von Einzelteilen wieder zusammensetzte. Dabei hing nun sein Kopf unter den Beinen und die Arme baumelten an Brust und Rücken. Lachend schrie er, außer sich vor Freude: „Los, Jung- Martin, mein lieber junger Burgherr! Los, gib auch den anderen Gespenstern und Geistern schöne Namen!“

Und damit hatte nun Martin überhaupt keine Mühe. „Der Rodensteiner möge ´Verrostete Blechtrommel´ heißen!“, schrie er in den Saal. Die Gespenster jubelten. „Gib mir auch einen schönen Namen!“, bettelte das Wassergeistlein. Und flugs hieß er nun „Oller Wasserpanscher“. Den Hermann nannte er in Erinnerung an seine ungeheure Länge beim Betreten des Saales „Durchleuchtigste Riesen-Bohnenstange“. Die Gespenster standen Schlange, um einen Namen zu erhalten. Ja, man kostete den Spaß aus und ließ sich einen zweiten oder sogar dritten Namen geben. Längst war Anton wieder mit im Spiel. Besonders getroffen hatte er mit seiner Namensgebung das Gespenst „Seine Unerschrecklichkeit Fridolin“. Da dieser Fridolin das traurigste Gespenst war, welches man sich vorstellen konnte, nannte er ihn „Großmütiger und Edelster Trauerkloß“. Darüber war Fridolin so begeistert, dass er bei diesem Fest das lustigste und ausgelassenste Gespenst war. Immer und immer wieder umstrich er Anton, rief lachend seinen neuen Namen, vertauschte auch mal die Worte untereinander, setzte sich als Minigespenst auf Antons Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: „Junger Herr Anton, ich bin jetzt dein neuer Freund!“

Diese neue Freundschaft sollte sich für die beiden Jungs noch auszahlen.

Als den Brüdern keine Namen mehr einfielen, erhob der „Allmächtige“ seine Stimme und verkündete, dass für die Menschen in der anderen Welt nun das Fürchten und Erschrecken angesagt sei.

„Macht euch fertig, meine lieben Untertanen. Heute Nacht werden wir den Menschen in unserem Mühlental solch ein Schrecken einjagen, dass sie nur so aus unserem Tal fliehen werden. Aber unsere beiden jungen Burgherren müssen wir vorher zu Gespenstern machen.“

Sofort ergriff Anton das Wort: „Verzeiht, `Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´, verzeiht, `Euer Aufgeblasenheit´! Wir wollen keine Gespenster werden, wir möchten unwürdige und kleine Menschen bleiben.“

 

„Ach papperlapapp!“, gurgelte der sich mächtig aufgeblasene „Allmächtige“. „Ihr seid doch nur Gespenster für die Geisterstunde! Papperlapapp, nur für die Geisterstunde!“ Dann lachte er so gewaltig, dass es schon furchterregend war. Martin hörte ein feines, dünnes Stimmchen sagen: „Jetzt müsst ihr eure Wünsche nennen! Jetzt, sonst ...

 

Fortsetzung hier!