"Mühlengespenster" Teil VI (Ende)

Letzter Teil:

 

„Oh Hermann, was schwörst du da?!“, schrien gleich mehrere der Gespenster. Selbst Carli blickte nicht nur erstaunt, sondern erschrocken zu Hermann. Fridolin weihte Anton und Martin in ein besonderes Kapitel des Gespensterlebens ein. „Auch wir Gespenster können sterben. Unsere Seelen wandern zu neuen Gespenstern und damit erst sind wir unsterblich. Geht die Seele ins Nichts, dann ist unser Hermännchen ein Nichts. Oh, wie traurig wäre das! Solch einen Schwur hatte einst nur der Oberherrscher aller Gespenster und Geister dieser Erde geleistet. Dies war zur Zeit des großen Alexander, des Beherrschers dieser Welt. Er brach diesen Schwur, um Gespenster vor gewalttätigen Menschen zu schützen. Er war ein großer Herrscher!“ Dann klagte Fridolin wieder: „Oh weh, oh weh! Was hast du nur geschworen, Hermännchen!“ Martin glaubte sogar, eine Träne in Fridolins rechtem Auge zu erkennen.

Doch Hermann war jetzt ganz der neue Herrscher des Mühlentales. „Fridolin“, befahl er, „unser Freund Anton soll zum Menschen werden!“ Und Fridolin legte die linke Hand auf eine Glocke und murmelte: „Hinguckei, hingucknei, hinguckdei.“ Beim „Higuckdei“ merkte Anton, wie sein Körper von Wärme durchströmt wurde. Er ließ sich von Martin anfassen und erleichtert sagte er: „Habe dank, Fridolin. Auch dir Hermännchen herzlichen Dank. Ihr seid wirklich gute Gespenster!“

Jetzt kam die Stunde des Abschiedes. Martin und Anton wollten schon am Ring drehen, als Adalbert sich meldete: „Anton, vergiss bitte nicht, mir meinen Ring zurück zugeben. Du weißt doch: Nur in den Keller werfen!“

Adalbert, dieser Giftzwerg, der den beiden Jungs nur Schaden zufügen wollte, zeigte sich jetzt als liebenswertes und höfliches Gespenstlein. Auch Hermann bat für seinen Gespensterfreund: „Adalbert ist ein guter Freund, Anton. Ohne diesen Ring würde er fast seine gesamte Kraft verlieren. Das wäre sehr grausam.“

„Gut, gut!“, antwortete Anton. „Er bekommt ihn. Wieder wollte Anton am Ring drehen, als er von Martin daran gehindert wurde. Er wollte doch unbedingt noch etwas von Hermännchen wissen.

„Hermännchen, wenn ihr eure Ringe wieder am Finger habt, dann vergessen wir euch doch wieder. Gibt es nicht einen Trick oder eine Ausnahmeregelung in eurem Gespenstercodes, uns zu erlauben, auch weiterhin mit euch in Kontakt zu treten?“

Hermännchen wiegte den Kopf hin und her. Auch Fridolins Gesicht zeigte Spuren äußerster Konzentration und Grübelei. Dann offenbarten beide, dass ihnen solch eine Möglichkeit unbekannt sei.

„Also gut. Was nicht sein kann, dass nicht sein soll.“ Martin hatte sich damit abgefunden. Da meldete sich der ehemalige „Allmächtige“. Nun nicht mehr aufgeblasen, sondern in normaler Gestalt, wirkte er fast sympathisch. „Im großen Lehrbuch der Gespensterakademie habe ich einst vor einigen Hundert Jahren gelesen, dass das Kräutlein `Gespensterwurz´ getrocknet und zu Tee bereitet, dem Menschen, der einen Schluck von diesem äußerst giftigen Getränk zu sich nimmt, Gespenster sehen lässt.“

„Sag Carl Friedrich!“, rief Martin erfreut. „Wo finde ich dieses Kraut?“

„Das ist sehr, sehr selten. Wenn ich mich recht erinnere, wächst es nur aller 13 Jahre und muss im Mondschein gepflückt werden. Getrocknet wird es in einer Eselshaut, zubereitet in einem ungebrannten Tonkrug und trinken muss man es zu Mitternacht zum 12. Schlag.“

„Danke, Carl Friedrich! Danke Hermännchen und Fridolin! Danke euch allen für die tollen Erlebnisse!“, rief Martin und drehte am Ring. Anton folgte ihm und beide fanden sich im Flur der elterlichen Wohnung wieder. Martins Geburtstagsgäste saßen noch am gedeckten Tisch und stopften die letzten Kuchenreste in die bereits vollen Bäuche. Keiner erwähnte auch nur das Wort „Gespenst“. Auch Martin und Anton empfingen sie so, als wenn sie man gerade eben aus dem Zimmer gegangen wären.

Am nächsten Tag gingen die Brüder zu dem Gespensterkeller. Trotz der Schneedecke fanden sie die Stelle, wo Martin seinen Stiefel verloren hatte. Einige wenige Spatenstiche und die Jungs konnten, auf dem Bauche liegend, mithilfe des Lichtes der Taschenlampe in den Keller blicken. Sie sahen Hermann und Adalbert blass und durchscheinend in einer Ecke hocken. Das Licht erschreckte sie. Martin hörte ein Leises: „Bitte gebt uns unsere Ringe.“

„Hier habt ihr sie!“, rief Anton und warf seinen in den Keller. Martin tat es ihm nach. Die Jungs sahen ein Aufblitzen und vernahmen: „Danke, Anton! Danke, Martin!“

Sie erhoben sich und konnten zusehen, wie sich das Loch vor ihren Augen schloss. Selbst der Schnee legte ich wieder auf die Stelle. Kaum bedeckten die letzten Schneekristalle den Gespensterkeller, als auch sämtliche Erinnerungen an die Mühlengespenster in den Köpfen der Brüder gelöscht waren.

 

Die Menschen im Mühlental lebten auch weiterhin wie bisher. Allerdings sagte man ihnen nach, dass sie besonders eifrige und äußerst zuverlässige Schutzengel hätten. Als Beleg für solche Aussagen führte man gerne mehrere Beispiele an. So rutschte ein Dachdeckerlehrling unglücklich auf einer nassen Holzleiste aus und stürzte 5 Meter in die Tiefe. Doch wie ein Wunder landete er wie eine Katze unverletzt auf Händen und Füßen auf dem weichen Boden am Haus.

Einem kleinen Jungen wurden von einem Hund zwei Finger abgebissen. Kind und Hund brachte man zum Arzt. Der Arzt brachte den Hund zum Erbrechen der abgebissenen Finger und die nähte der Doktor wieder an die Hand des Jungen.

Und noch ein drittes Beispiel sei hier genannt: Beim letzten großen Sommergewitter schwoll der Mühlenbach so gewaltig und so rasch an, dass man sogar das heranrauschende Wasser hören konnte. Von dieser heranbrausenden Wasserflut wurde eine junge Frau mit ihrem Baby überrascht. Die Wucht des Wassers riss der Frau die Beine weg, sodass sie ins schäumende Wasser fiel und genauso hilflos, wie ihr Baby im Kinderwagen, im Bachwasser trieb. Ein tiefer Ast hielt sie auf und es gelang ihr, sich aufs Trockene zu retten. So rannte sie am Bachufer ihrem davontreibenden Baby nach. Keine fünfzig Meter weiter an einer leichten Biegung schwappte das Wasser den Kinderwagen aufs trockene Land. Dort stand er nun. Das Baby im Wagen hatte keinen Tropfen Wasser abbekommen, brabbelte leise vor sich hin und rasselte mit der Klapper.

Auch Martin und Anton lebten weiterhin im Mühlental. Martin hatte aber seit seinem 11. Geburtstag einen besonderen Tick: Er wollte ein Kraut finden, das Gespensterwurz heißen soll. Er selbst wusste nicht, wie er auf diese Idee gekommen war, aber sie hatte sich so verfestigt, dass er sogar Botanik studieren wollte, um dieses Kräutlein zu finden.

 

Ob er es gefunden hat, kann ich euch allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Wenn er es finden sollte, ja dann ..., dann ist es garantiert eine neue Geschichte wert!