"Mühlengespenster" Teil III

3. Teil:

 

„Jetzt müsst ihr eure Wünsche nennen! Jetzt, sonst verfallen sie! Lasst euch zu Gespenstern machen. Euch kann nichts geschehen. Ihr habt doch unsere Ringe. Ich bleibe in deiner Nähe, mein lieber Martin.“

Es war Hermännchen, der ihm dies ins Ohr flüsterte. Eine kleine weiße Rauchfahne entwich Martins linkem Ohr, schwebte in die äußerste Saalecke und verwandelte sich dort in Hermännchen.

„Anton, wir sollen jetzt unsere Wünsche nennen. Das ist Hermännchens Botschaft. Bezirze du den `Allmächtigen´!“

Anton gab sein Bestes. Er verlieh dem Obergespenst tolle Titel, machte eine galante Verbeugung nach der anderen und kam schließlich mit seinem Wunsch heraus. „Großmächtigster und Edelster aller Gespenster, Herrscher des Mühlentales, Verwalter der Macht und des Aberglaubens, Allmächtiger Fürst der Geisterwelt, Wissender des Lebens und des Todes – erfülle, bevor wir zu deinen Untertanen werden, erfülle uns beiden Menschenkindern unsere Wünsche. Sie sind so bescheiden und für `Eure Allwissenheit´ ist es ein Fingerschnips und Fingerschnaps sie zu erfüllen. `Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´, wir werden dann ewig in eurer Schuld sein!“

Völlig aufgelöst vor Rührung über diese Schmeicheleien, zerfloss der „Allmächtige“ vor ihren Augen. Noch als Wasserrinnsal gurgelte er: „Ach, was sind das doch für brave junge Burgherren. So nett! So gebildet! Natürlich werde ich eure Wünsche erfüllen!“

Kaum hatte er den letzten Satz gesagt, als auch schon Anton seinen Wunsch herausschmetterte: „Zeige mir den Ort, wo die drei silbernen Glocken versteckt sind!“

Schlagartig war Ruhe im Festsaal. Kein Lachen oder Kichern, kein Geschnatter oder Gejohle war zu vernehmen. Wie erstarrt standen die Gespenster und stierten zu ihrem Obergespenst. Doch der „Allmächtige“ nahm gelassen seine normale Gespenstergestalt an, schnipste mit den Fingern und verkündete wohlwollend, aber hintergründig lächelnd: „Gewährt! Der Wunsch sei dir gewährt! Wann möchtest du sie sehen?“

Schnell antwortete Anton: „Zu Martins Geburtstag, in zwei Tagen!“

„Gewährt! Gewährt!“, grunzte der „Allmächtige“. „Nun nenne deinen Wunsch, Jung-Martin!“

„Lieber `Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´, ich, `Jung-Martin, von und zu der Hemgesbergburg´, ich wünsche mir zu meinem Geburtstag in zwei Tagen, dass um 15 Uhr eine Dampflokomotive auf den Gleisen der ehemaligen Mühlentalbahn fährt und dass alle hier anwesenden Gespenster diese Bahn fahren und meine Gäste und natürlich mich auch auf das Auserlesenste bewirten.“

War bei Antons Wunsch absolute Ruhe im Saal, so wurde Martins Wunsch mit einem gewaltigen Aufschrei quittiert. Alle starrten den „Allmächtigen“ an. Man war überzeugt, dass er die beiden unverschämten Jungs sogleich in Stücke reißen würde. Doch das Obergespenst schnipste mit dem Finger und säuselte: „Ein außergewöhnlicher Wunsch! Alle meine Gespenster am helllichten Tage auf einer Dampflokomotive, auf diesem fauchenden, stinkenden und Feuer ausstoßendem Eisenungetüm! Also - das hatten wir noch nie! Trotzdem, mein herzallerliebster Jung-Martin ...“ Nach wenigen Sekunden der Gespensterzeit, in die große Stille hinein erschall mit gewaltigem grollenden Lachen: „Gewährt! Gewährt!“

Wieder war es Hermännchen, der als Rauchwölkchen Martin zuflüsterte: „Oh weh! Oh weh! Das sind sehr verwegene Wünsche! Pass gut auf, mein lieber Martin! Pass gut auf! Ich werde immer in deiner Nähe bleiben!“

Auch Anton hörte Flüstern im linken Ohr. Dort saß Fridolin als Mücke geschrumpft und schwirrte: „Du und dein Bruder, ihr habt großen Mut gezeigt. Solche Wünsche hat noch keiner ausgesprochen. Die silbernen Glocken sind die Machtzeichen des `Allmächtigen Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´. Wer sie besitzt, besitzt die Macht im Mühlental! Ich bleibe in deiner Nähe! Vertraue mir!“

„Nun, da ich unseren beiden jungen Gästen aus dem Menschenreich ihre, ich muss wirklich sagen – etwas ausgefallene Wünsche - gewährt habe, ist es an der Zeit, dass sie zu uns gehören.

„Jung-Martin und junger Burgherr Anton, stellt euch in die Mitte des Saales!“ Der „Allmächtige“ bat nicht mehr, er befahl. Erst als Martin protestierte und wissen wollte, was jetzt geschehen würde, zeigte das Chefgespenst wieder seinen scheinbar liebenswerten Charakter. „Ach Jung- Martin, verzeiht mir! Wie konnte ich die Contenance vergessen. Um Menschen zu Gespenstern zu machen, ist die Kraft aller anwesenden Gespenster notwendig. Wir bilden einen großen Kreis. Unsere spirituellen Fähigkeiten werden gebündelt und mit dieser ungeheuren Kraft verwandeln wir euch und euren Bruder in Gespenster. Ja, als besondere Zugabe für euch, mein lieber Martin, dürft ihr euch aussuchen, welche Gestalt ihr bevorzugt. Vielleicht so?“ Er schnipste und in der Luft bildete sich ein Monster. „Oder wie wäre dies?“ Ein zwergenähnliches Geschöpf mit riesiger Nase und gewaltigem Kopf, der auf den Schultern nur so hin und her wackelte. „Auch das wäre im Angebot?“ Wieder ein Schnips und ein Zentaur stand im Kreis.

„Ach `Allmächtiger Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´, verzeiht mir, aber ihr habt schon mit der Zusage für die Erfüllung unserer Wünsche sehr viel getan. Mein Bruder und auch ich sind des Lobes voll über eure Güte. Deswegen zürnt jetzt nicht, wenn wir als Gespenster unser jetziges Aussehen behalten wollen. Stellt euch vor, allmächtiger Fürst der Geister- und Gespensterwelt, Menschen, die uns kennen, sehen uns in dieser Nacht als Gespenster. Wäre das nicht ein Vergnügen?!“

„Wahrlich! Wahrlich, mein junger Ritter! Das ist ein guter Vorschlag. Ihr könnt ja später auf eine andere Gestalt umsatteln. Ha, ha, ha!“

Der Fürst der Gespensterwelt plusterte sich gewaltig auf und tönte mit seinem gesamten Körper: „Auf, auf! Der Rundtanz erwartet uns! Auf zum Rundtanz, auf eure Plätze, ihr lieben Untertanen. Ihr Gäste aus dem Menschenreich begebt euch in die Mitte!“ Er schnipste mit seinen dicken wurstigen Fingern und Anton und Martin sausten durch den Raum und fanden sich in einem Kreis aus Gespenstern und Geistern wieder, die sich alle anfassten. Als die beiden Elfen mit ihren kurzen Armen nicht die Nachbargespenster erreichten, fauchte der „Allmächtige“: „Los! Los! Verlängert euch! Der Kreis muss geschlossen sein, denn sonst bleiben unsere jungen Gäste Menschen!“ So verlängerten die Elfen ihre Arme und sahen wie Kraken in Elfenkostüm aus. Zufrieden musterte der Fürst den Kreis. Jedes Gespenst, jeder Geist hatte sich in diesen Kreis eingebracht. Manche hüpften am Boden, andere flatterten, wie die Elfen, in der Luft. Der Bachgeist plätscherte an seinen Armstümpfen Wasser heraus, welches die Hände des Hermännchens und des Fridolins umspülten. Dieses Wasser nahm seinen Weg zu den Füßen des Bachgeistes und wurde dort wieder zum Bachgeist.

„Ritter Rodenstein, übernimm das Zepter!“, brüllte der „Allmächtige“. Ein goldenes Zepter schwirrte durch die Luft. Der Ritter verließ seine Rüstung, die sich jetzt als eigenständiges Gespenst, mit Zepter und Schwert in den scheinbaren Händen, in die Mitte des Kreises begab. Der Rodensteiner selbst stand in prächtiger, edler Ausstattung weiterhin auf seinem Platz.

Die Rüstung begann jetzt, einen Rhythmus zu schlagen: bum – bum – bum, bum, bum, bum, bum! Das mannshohe Zepter wurde auf den Boden gestoßen. Mit dem Schwert schlug die Rüstung an den Brustschild, dass es nur so krachte. Es war ein gewaltiges Dröhnen im Festsaal. Die Gespenster und Geister wiegten oder schritten, manche hüpften auch im Takt, die die Rüstung vorgab. Dann brüllte die Rüstung „Ho, ho, ho!“ und die Gespenster antworteten „Wir sind so froh!“ Dieser Sing-Sang ging weiter:

Hei, hei, hei! – sie sind noch frei!

Hi, hi, hi – wir haben sie!

Hu, hu, hu – und dass im Nu!

Heu, heu, heu – wie uns das freut!

Hü, hü, hü – bis in die Früh!

Ha, ha, ha – Gespenster stehen da!

Kaum war das letzte Wort des Sing-Sangs verklungen, zuckten aus allen Gespensteraugen Blitze in den gleißenden Farben, die in der Spitze des Zepters gebündelt wurden. Dieses Zepter schwirrte durch Luft, berührte zuerst Martin und dann Anton. Am Kopf beginnend, veränderte sich der Körper der beiden Jungs, wurde blass und durchsichtig. Martin und Anton spürten eine ungeheure Hitze in ihrem Körper, die schlagartig in Eiseskälte umschlug.

„Die Umwandlung ist vollbracht! Dank euch, ihr lieben Untertanen! Ihr habt euer Bestes gegeben!“ Der „Allmächtige“ schwebte in seiner normalen Gespenstergestalt zu den Jungs und forderte sie auf, ihre Tauglichkeit als Gespenster zu testen.

Zuerst hieb er mit dem Schwert des Rodensteiners in die Jungs, die nichts davon merkten, dann zog er sie auseinander, sodass Martin bestimmt drei Meter maß und Anton musste sich sogar anschließend zu einem Kringel biegen.

„Bravo! Beste Arbeit! Unser Spaß in der Menschenwelt kann beginnen!“ Er brauste davon und alle Gespenster und Geister ihm nach. Anton und Martin wurden von einem gewaltigen Sog erfasst. Berauscht von dieser ungeheueren Geschwindigkeit, mit der sie sich in der Luft bewegten, jubelten sie laut. Sie glaubten, vor Freude über diese Unbeschwertheit zu jubeln, für Menschenohren aber ertönten diese Laute wie Heulen und Brausen.

Alle Gespenster trafen sich auf dem Adlerstein. Diese höchste Erhebung am Rande des Mühlentales hüllte sich in ein eigentümliches Strahlen. Menschen sagen dafür „gespenstisches Licht“.

Der „Allmächtige“ befahl seine gespenstischen Untertanen zu den verschiedensten Orten. Auch Martin und Anton wollte er, wie zuvor Hermännchen und Fridolin, zum allgemeinen Dienst an der Gespensterfront verdonnern. Ihre Aufgabe lautete: Die Menschen mit Krachen, Dröhnen und Lichterscheinungen zu erschrecken.

Aber das schmeckte Anton und Martin gar nicht. Hatten sie sich doch ausgemalt, wie sie ihnen bekannte Leute als Gespenster begegnen wollten. Anton begann, heftig zu protestieren. Doch urplötzlich veränderte sich sein barscher Ton und mit „Aber gern, großmütiger Fürst der Geister- und Gespensterwelt!“ schwebte er davon. Martin folgte ihm. Noch in Sichtweite des „Allmächtigen“ gingen sie ihrem Auftrag nach. Sie veranstalteten ein Himmelsleuchten, das für jeden Menschen ausgesprochen sehenswert war. Nachdem sich der Fürst über die gewissenhafte Arbeit seiner beiden neue Geister vergewissert hatte, gab er seinen letzten Befehl: „Wenn die Turmuhr das 12. Mal schlägt, dürft ihr euch in eurer menschlichen Gestalt den Menschen zeigen!“

„Gewiss, großer Fürst! Wir danken für eure unermessliche Güte!“, säuselte Anton. Martin war über seinen Bruder sehr erstaunt. Hatte der dicke aufgeblasene Carl Friedrich vielleicht den Anton total in seine Gewalt gebracht? Er brauchte nicht lange zu grübeln. Hermännchen und Fridolin tauchten in Gestalt zweier übergroßer Monster auf. „Danke, Fridolin!“, rief Anton. „Deine Warnung kam noch rechtzeitig. Von Hermann hörte jetzt Martin, was Fridolin seinem Bruder zugeflüstert hatte. Nämlich, dass der „Allmächtige“ alles tat, um die beiden Jungs nicht mehr ins Menschenreich zu lassen. Deshalb sollten Anton und Martin scheinbar dem Fürst zu Willen sein, denn nur so konnten sie seiner ständigen Aufsicht entkommen.

Dass Hermännchen und Fridolin den beiden Kindern sehr gewogen waren, zeigten sie auch jetzt. Hermännchen sprach: „Geht eurem Vergnügen nach! Wir machen für euch die uns vom `Allmächtigen´ aufgetragene Arbeit mit. Wenn die Turmuhr zu schlagen beginnt, dreht an euren Ring! Vergesst nicht, welches Geheimnis ich euch jetzt anvertraue! Schlägt die Uhr das 13. Mal und ihr seid immer noch Gespenster, dann seid ihr es für immer und ewig! Nicht vergessen: Vor dem 13. Schlag!“

Fridolin säuselte: „Amüsiert euch, ihr lieben Menschen!“ Dann sahen Martin und Anton wie sich ihre Gespensterfreunde zerteilten. Hermännchen wurde ein Hermann-Monster und die andere Hälfte wurde Martin. Ebenso nahm Fridolins eine Hälfte Antons Gestalt an. Sie schwebten mit einem riesigen Getöse durch die Lüfte davon, sicher, dass auch der „Allmächtige“ ihren Schwindel nicht bemerken würde.

„Ich habe noch eine Frage, Hermännchen!“, schrie Martin ihm nach. Seine Stimme schwoll zu einem solchen Getöse, dass das Echo sich sogar verschluckte. Hermännchen war wirklich ein gutes Gespenst. In seiner richtigen Gestalt erschien er und fragte: „Was ist, mein junger Freund?“

 „Hermännchen, geht nicht die Geisterstunde von 12 bis 1 Uhr? Wieso soll um eins die Uhr 13-mal schlagen?“

„Geisterstunde ist für die Menschen nur zur Mitternacht! Spukzeit ist von 12 bis 1 in der Geisterzeit! Der 13. Schlag der Geisteruhr beendet die Geisterstunde, lieber Martin! Nur Gespenster und Geister hören diese Turmuhr!“

Seine Stimme war mächtiges Grollen, dazu schuf er ein Wetterleuchten, dass alle Meteorologen über ein solches Himmelsschauspiel erfreut wären.

„Na, dann los!“, rief Anton und setzte sich mit einem elegant gebrausten Kreisbogen in Bewegung. Zischen und Sausen erfüllte die Atmosphäre. Martin starrte im Zick-Zack und ließ so ein Höhengewitter entstehen. „Auf zum Kirchturm! Dort treffen wir uns!“ Martin schrie dies aus voller Kehle hinaus. Anton probierte indessen alle möglichen und unmöglichen Bewegungen aus. Einmal kam er dabei fast bis zum Erdboden. Er sah zwei Menschen und hörte ihre Stimmen klar und deutlich, aber so fein, dass sie unwirklich klangen.

„Machen wir, dass wir nach Hause kommen. Solch ein Wetter hatten wir schon lange nicht mehr!“ Der zweite Mann lachte: „Weißt du Alfred, was mein Großvater bei solch einem Wetterleuchten und diesem ganzen atmosphärischen Spuk gesagt hätte?“ „Nee, Paul! Was hätte er gesagt?“ Paul lachte laut und verkündete: „Er hätte sorgenvoll zum Himmel geschaut, hätte an seiner Zigarre gezogen und dann allen Ernstes behauptet `Das ist der Rodensteiner mit seinem Gefolge! Das bedeutet nichts Gutes! Das bedeutet Krieg!´ Dann wäre er nach Hause zu seiner Erna getrabt und hätte ihr befohlen, einen großen Lebensmittelvorrat anzulegen.“ „Ja, ja!“, feixte Alfred. „Die Großeltern glaubten noch an solche Spukgeschichten. Also mein Großvater, der olle Wilhelm, der erzählte immer ...“

Anton ließ die beiden Alten ihren Erinnerungen nachhängen, und brauste zum Kirchturm. Dort kreiste bereits Martin um das alte Gemäuer, dass der Wind nur so pfiff. Als er Anton kommen sah, zeigte er auf die Turmuhr: „Verstehst du das, Anton? Um 12 Uhr, also um Mitternacht, sind wir mit Adalbert und Hermännchen zum Wasserschloss geflogen. Und jetzt ist das immer noch um 12!“

„Es ist jetzt Gespensterzeit, Martin! Wir sind Gespeeeeenster!!!!“ Er schrie so laut, dass alle Scheiben in der Umgebung zu klirren begannen. „Komm, lass uns Menschen erschrecken!“

Er sauste davon. Er wollte sich Menschen zeigen, die ihn kannten. Und dann wollte er ihre Gesichter sehen, wenn er als Gespenst wahrgenommen wird.

Da sie zu ihrem Heimatort gebraust waren, kannten sie jede Straße, jedes Gebäude. Anton hatte sich entschlossen, zuerst zur Schule zu fliegen. Dort sollte doch heute eine Feier der Lehrerschaft stattfinden. Und für ihren Gespensterspaß konnte er sich keine besseren Opfer vorstellen – als ihre Lehrer.

Sie hatten Glück. Ein Blick durch das linke Fenster im 2.Stock: Sie sahen im Lehrerzimmer alle ihre Lehrer in gehobener Stimmung. Auf jedem Platz stand ein gefülltes Weinglas und der Kasten mit den leeren Weinflaschen versprach eine Lehrerschaft, die dem kleinen Teufel Alkohol schon freudig zugesprochen hatte.

„Martin, jetzt zeige ich mich zuerst. Mal sehen, wie sie reagieren“, brubbelte Anton. Er schmiss seinen Gespensterkörper gegen das Fenster, um durch das Geräusch, die Aufmerksamkeit der Lehrer zu erhalten. Da das Fenster aber nur angelehnt war, sprang es auf.

Anton blies die Backen auf und pfiff die Luft in das Lehrerzimmer.

„Huch, ist das unangenehm!“, rief die Musiklehrerin und bat ihren Platznachbar, den Sportlehrer, das Fenster zu schließen. Obwohl der gerade heftig über das Thema „Profi-Fußball“ mit seinem anderen Platznachbar diskutierte, stand er auf und ging fast rückwärts zum offenen Fenster. Dort drehte er sich kurz zum Fenster um und blickte in zwei strahlende Jungengesichter. Er schüttelte den Kopf, stierte die beiden äußerst blassen Jungs an, schüttelte nochmals den Kopf, schloss die Augen und sah nun nichts mehr!

„Ich bin verrückt!“, schrie er in den Raum. „Oder der Wein ist vergiftet! Ich habe soeben die beiden G., den Großen und den Kleinen, auf dem Fenstersims sitzen gesehen!“

„In der `Krone´ wirst du einen haben! Wie sollen die beiden Jungs nachts um 12 Uhr auf dem Fenstersims im zweiten Stock sitzen? Verrat mir das einmal!“ Der, der das sagte, war der Mathelehrer. Aber das konnte der Sportlehrer nicht auf sich sitzen lassen. „Schau doch selber nach! Vielleicht siehst du sie noch! Beide saßen da und feixten mich an! So glaub mir doch, Bruno!“

Der laute Disput hatte das angeregte Gespräch der anderen Lehrer gestört. Erstaunt schaute man zu den beiden Streitenden und erkundigte sich nach der Ursache des lauten Zwiegespräches.

Der Schulleiter fasste das Ergebnis wie folgt zusammen: „Schluss für heute! Der Wein war gut, unsere Gespräche auch, also Schluss für heute!“

Dem Martin tat sein Sportlehrer leid. Hatte der ihm doch im letzten Jahr „mit Augenzwinkern“ noch eine Eins gegeben, obwohl die Ergebnisse beim Geräteturnen nicht dafür sprachen.

„Los, Anton! Dem `Schorsch´ helfen wir.“

Schorsch – das war sein Spitzname und fast die gesamte Schule, einschließlich der Lehrer, nannte den Sportlehrer so, obwohl er mit Vornamen eigentlich Günther hieß – also dieser Schorsch diskutierte beim Anziehen, beim Hinuntersteigen der Stufen und beim Betreten des Schulhofes. Gerade als er sagte: „Warum glaubt mir denn keiner. So wahr, wie ich hier stehe, so wahr habe ich ...“ Freudestrahlend stockte er. Dann rief er fröhlich: „Na, was habe ich gesagt?! Da stehen die beiden G.’s! He, Jungs, kommt mal her!“

Martin und Anton schwebten als Gespenster herbei. Jetzt glaubte nicht nur der „arme“ Schorsch, dass irgendetwas mit dem Wein nicht stimmen konnte. Alle Lehrer standen mit offenen Mündern, aufgerissenen Augen und starrten Martin und Anton an. Martin schwebte zum Mathelehrer, gab ihm die Hand, die dieser auch nehmen wollte. Doch er fasste ins Leere.

Anton schwebte zur Musiklehrerin, reichte auch ihr die Hand und ließ ein Gurgeln hören, das wie „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Frau Meyer“ klang. Eigentlich wollte er ihren Spitznamen, Frau Notenschlüssel, benutzen, aber das nächste Vorsingen wollte er sich nicht dadurch vermasseln.

Frau Meyer war auch so genug geschockt. Ihr Nachbar, der Biolehrer musste sie stützen, sonst wäre sie zusammengebrochen. „Das gibt es doch nicht! Das gibt es doch nicht!“, schrie sie, einem hysterischen Anfall nahe.

Anton spürte, dass er mit den Späßen nicht weitergehen durfte. Martin wollte sich aber unbedingt noch am Erdkundelehrer rächen. Hatte der ihm doch eine Fünf für sein topografisches Wissen an der Wandkarte verpasst, und das hielt Martin für total ungerecht. Mindestens eine Drei hätte er bekommen müssen, so meinte er. Also startete er einen Angriff durch den Erdkundelehrer hindurch. Dabei schrie er, was allerdings wie Donner klang: „Berlin liegt an der Spree! Der Odenwald liegt zwischen Main, Neckar und Rhein! München ist eine Millionenstadt!“

Dreimal hatte Martin seinen Lehrer „durchquert“, doch dann fasste Anton ihn an die Hand, zog Martins Arm bestimmt fünf Meter lang. Er stürmte mit seinem kleineren Bruder im Schlepptau davon. „Das war aber übertrieben!“, schimpfte er. „Einmal durchqueren des Lehrers hätte auch genügt!“

„Ja, weil Erdkunde dein Lieblingsfach ist“, antwortete ihm Martin. Dabei grinste er über sein ganzes Gespenstergesicht.

Zurückgelassen hatten die Jungs einen geschockten Lehrkörper. Man diskutierte nicht mehr, man verabschiedete sich nicht, jeder stob so schnell er konnte in Richtung Zuhause. Nur der Schulleiter murmelte leise vor sich hin. Es klang wie „Der Wein war doch schlecht!“

Anton hatte indessen das Wirtshaus ins Visier genommen, denn dort erkannte er ihren Nachbarn, den Herrn Stüble. Er hatte bestimmt nicht nur ein Glas zuviel getrunken. Kaum konnte er sich auf den Beinen halten. Er grölte seine Freude und den Grund seines Besäufnisses in die klare Nacht: „Jetzt bin ich Papa! Ich habe einen kleinen Sohn bekommen! Mein Söhnchen - ich komme!

Er stolperte mehr, als dass er ging. Martin und Anton schauten sich dieses Schauspiel an. Sie mochten ihren Nachbarn und so beschlossen sie, ihn nach Hause zu bringen. Als Herr Stüble die Abkürzung über den Holzsteg nehmen wollte, rutschte er auf dem schmalen Brett aus. In diesem Moment rissen Anton und Martin ihn hoch, sodass nur das Hinterteil des Herrn Stüble vom Bachwasser benetzt wurde. Sie nahmen ihren arg beschwipsten Herrn Stüble in die Mitte, brausten mit ihm durch die Lüfte und setzten ihn direkt vor der Haustür ab. (Später erzählte der Herr Stüble, dass zwei Schutzengel ihn sicher nach Hause gebracht hätten.)

 

Für Anton und Martin ging die Gespensterzeit damit zu Ende. Die Turmuhr begann, zu schlagen. „Los, drehen wir unsere Ringe!“, rief Anton. Martin erschrak. Sein Ring war weg. Er musste ihn verloren haben. „Anton, mein Ring!“ Dieser Angstschrei war ein neuer Donnerschlag. „Los! Suchen!“ Anton schrie so gewaltig, dass die Luft erneut zu grollen begann. Nur wenige Schläge der Turmuhr hatten sie Zeit. Zuerst ging es zum Wirtshaus. Dort lag kein Ring. „Zur Schule!“, schrie Anton und stürzte durch die Lüfte, Martin hinterher. Auf dem Schulhof fanden sie den Ring - allerdings in den Händen des „Allmächtigen“. Der schwebte, ungeheuer aufgeblasen, ganz langsam über den Hof und kommentierte jeden Schlag der Turmuhr: „Noch fünf Schläge und ihr gehört mir! Noch vier Schläge und ich habe Gewalt über euch! Noch drei Schläge und ich mache euch zu Monstern! Noch zwei Schläge und ihr werdet mir 1000 Jahre dienen! Noch ei ...“

 

Fortsetzung hier!