"Mühlengespenster" Teil V
Fortsetzung Teil 5:
... Der „Allmächtige“ überlegte nicht lange. Wahrscheinlich sagte er sich, lieber ein neues junges Gespenst sicher, als viele, die er vielleicht gar nicht zum Gespenstern zwingen kann.
„Gut! Gut!“, antwortete er mit betont freundlichem Gesichtsausdruck. „Wie du befiehlst, mein lieber junger Burgherr! Wie du befiehlst!“ Er machte schnips und schnaps mit seinen dicken Fingern und man konnte sehen, wie sich Martin und seine Geburtstagsgäste wieder zu Menschen wandelten. Zuerst begann die Veränderung am Kopf. Die bleichen gespenstischen Züge wichen einer gesunden durchbluteten jungen Haut. Der ganze Vorgang vollzog sich in Windeseile.
„So, ich habe deinen Wunsch erfüllt, mein junger Burgherr! Jetzt können wir beide ganz allein den größten Schatz weit und breit bewundern.“
„Halt, edler Fürst! Zuerst müssen diese Menschen zurück in die Wohnung!“ Anton zeigte auf Martins Geburtstagsgäste, die - nun wieder Menschen - überhaupt nichts mehr verstanden.
„Oh, mein lieber junger Burgherr, das ist nicht meine Sache! Dies ist nicht meine Sache!“ Der „Allmächtige“ feixte bei diesen Worten so unverschämt, dass Anton schon die Hand zum Schlag erhob. Doch im letzten Moment bekam er sich wieder in Gewalt. Martin, der seinen Bruder sehr genau kannte und wusste, was Antons gehobener Arm bedeutete, rief ihm zu: „Anton, die Heimreise übernehme ich!“ Er hielt Anton seine Hand hin und Anton sah den Ring des Hermännchens funkeln. Auch bemerkte er, wie eine kleine Rauchwolke, ganz blass und fast durchsichtig, aus Martins Ohr entwich. Er blickte dem Wölkchen hinterher und ahnte, wer da wieder mit gutem Rat zur Stelle war.
Martin drehte an seinem Ring und auf der Stelle waren alle Geburtstagsgäste verschwunden. Als Letzter, langsamer als die anderen Kinder, löste sich Martin auf. Anton glaubte ihn zu hören: “Ich komme wieder!“
„So, mein lieber junger Burgherr“, säuselte der „Allmächtige“, „jetzt kannst du die Silberglocken sehen. Merke aber: Du darfst sie nicht berühren, denn dann wirst du tot umfallen.“
Irgendwie hatte Anton den Eindruck, dass diese Aussage des Obergespenstes erstunken und erlogen war. Er schaute sich Hilfe suchend nach Hermännchen oder Fridolin um, aber beide fehlten in der Runde der Gespenster. So beschloss er, dem „Allmächtigen“ vorerst beizupflichten.
„Danke für deinen guten Rat, mein edler Fürst und Freund!“ Und er verbeugte sich mehrfach elegant vor dem Obergespenst, sodass der ganz gerührt über so viel Contenance und Ehrerbietung verkündete: „Ich danke dir, lieber junger Burgherr! Ich danke dir, dass ich dein Freund sein kann!“
Des „Allmächtigen“ Erwiderung war kaum beendet, als Anton Fridolins feine Fistelmückenstimme hörte: „Ja, Anton! Schmeichle ihm, dann ist er wie betrunken und dir fällt es leichter, wieder ein Mensch zu werden.“
Und noch ein Stimmchen hörte Anton im anderen Ohr: „Schön wäre es, wenn du statt des `Allmächtigen´ Herrscher des Mühlentales werden würdest. Überlege es dir, Anton.“
Aber da brauchte Anton nicht lange überlegen – er wollte Mensch bleiben. Aber die Worte des Hermännchens, denn kein anderer als er hatte ihm das zugeflüstert, brachten ihn auf eine Idee.
„Was geschieht wirklich, wenn ich die Glocken berühre?“, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand dem Hermännchen zu. Aber nicht Hermann, sondern Fridolin meldete sich mit feiner Stimme: „Du wirst der unumschränkte alleinige Herrscher des Mühlentales sein. Berührst du sie, kann dir keiner mehr die Macht nehmen. Nur dann verlierst du die Macht wieder, wenn du sie freiwillig abtrittst. Anton, alle müssen dir gehorchen, auch der `Carli´. Auch er, Anton! Bitte werde unser Herrscher!“
Zum ersten Mal vernahm Anton das verächtlich ausgesprochene `Carli´. Er ahnte, wie der „Allmächtige“ seine Herrschaft über die Gespenster für seine eigenen Interessen missbrauchte.
Herrscher und Gespensterfürst wollte er nicht werden, aber ...!
Diese Gedanken behielt er für sich. Mit freundlichem Lächeln verkündete er: „Großmütiger und edler Freund, Herrscher des Mühlentales und Beschützer der Silberglocken, ich, `Ritter Anton, Herr des Adlersteines und Herrscher über den goldenen Drachen´, bin bereit, die Glocken zu sehen!“
Dieser Rede folgte Verbeugung über Verbeugung, sodass der „Allmächtige“ fast vor scheinbarer Rührung davon floss. Er machte mit der linken Hand ein „Schnips“ und mit der rechten ein „Schnaps“ und sie befanden sich innerhalb des Wasserschlosses.
Sie standen am Brunnen des Schlosses. „Schau hinunter!“, befahl der „Allmächtige“. „Dort tief am Grunde des Brunnens siehst du die Glocken.“
Nichts Freundliches oder Nettes war mehr in der Stimme des Gespensterfürsten. Barsch fuhr er Anton an. Anton beugte sich tief über den Brunnen. Krampfhaft hielt er sich am Brunnenrand fest, um nicht beim Hinunterbeugen vom Obergespenst oder einem seiner Getreuen in den Brunnen geworfen zu werden. Aber keiner hegte diese Absicht, denn dann hätte ja Anton die Glocken berühren können. Anton stierte in das Wasser. Er glaubte, helles silbernes Glitzern zu erkennen, aber das reichte ihm nicht.
„Fürst!“, sagte er kurz und bündig auf alle Höflichkeitsfloskeln verzichtend, „Fürst, ich sehe nichts. Entweder willst du mir meinen Wunsch nicht erfüllen oder du bist ein übler Betrüger und nicht der mächtige Herrscher, für den du dich ausgibst! Zeige mir die Glocken - hier außerhalb des Brunnens!“ Anton zeigte auf den Boden vor ihm und stampfte zur Bekräftigung mit dem Fuße auf. „Hier, nur hier will ich sie sehen! Ansonsten verkünde ich, dass der `Allmächtige Carl Friedrich von und zu der Wasserschlossmühle´ nichts anderes als ein gemeiner Betrüger, ein übler Aufschneider und ein machtloses, kleines, stinkendes Gespenstlein ist!“
Das war zu viel für den „Allmächtigen“. Er blies sich zur gewaltigen Größe auf, befahl seinen Untertanen, Anton den Garaus zu machen. Diese stürzten sich auf Anton, zogen ihn an Armen und Beinen. Dabei wurde Anton richtiggehend zerstückelt. Seine linke Hand, an der sich der Ring des Adalbert befand, flog zum „Allmächtigen“. Der zog in Windeseile den Ring vom Finger. Jubelnd verkündete er: „Jetzt gehörst du mir, du kleines, freches, ungehobeltes, missratenes, großmäuliges Biest!“ Er streckte den Ring wie ein Siegeszeichen in die Höhe. Die anderen Gespenster jubelten mit ihm. Einige wohl aus vollem Herzen, andere nur, um sich selbst nicht als Gegner des „Allmächtigen“ bloßzustellen.
Die Freude des Obergespenstes wurde zäh unterbrochen. Ein ungeheuer starker Windhauch zischte durch die Gespensterschar. Der Ring in der Hand des „Allmächtigen“ fiel zu Boden, um von dort von Martin aufgehoben zu werden. Anton, der sich inzwischen aus seinen einzelnen Teilen wieder selbst zusammengesetzt hatte, sah, wie der Windstoß sich zu Fridolin wandelte. Überrascht, aber auch erfreut war er, seinen Bruder wieder bei sich zu haben.
„Zeige mir sofort die silbernen Glocken!“, brüllte Anton den „Allmächtigen“ an. Martin hatte ihm den Ring zurückgegeben. Anton drehte Adalberts Ring sichtbar vor den Augen des „Allmächtigen“. Diese Drohung, dass Anton nämlich wieder über mächtige Zauberkräfte verfüge, schien das Obergespenst nun doch dazu zu bewegen, die Silberglocken hinauf zu holen.
Er blies sich gewaltig auf, und kurz bevor er zu platzen drohte, stieß er die Luft in den Brunnen. Das Brunnenwasser und mit ihm drei silberne Glocken, fein gearbeitet und aus reinem Edelmetall, schwebten mit einem „Platsch“ vor Antons Füßen.
„Dein Wunsch ist erfüllt!“, brüllte der „Allmächtige“ mit solch gewaltiger Stimme, dass die beiden Jungs den Eindruck gewannen, taub zu sein. Schon wollte der Gespensterfürst die Glocken eigenhändig in den Brunnen versenken, als Anton etwas Fürchterliches tat: Er beugte sich zu den Glocken und berührte die erste. „Martin, komm!“, rief er. Und auch Martin berührte eine der drei Silberglocken. Ein „Oh weh!“ und anschließendes Gewinsel des jetzt sehr kleinen „Allmächtigen“ bewies, seine Macht über das Mühlental war vorbei. „Gnade! Gnade!“, schrie er wieder und immer wieder. Doch Anton scherte sich nicht um Carli. Immer noch ein Gespenst, blies er sich auf, hob eine Glocke empor und fragte die anwesenden erschrocken blickenden Gespenster: „Was muss ich tun, um wieder ein Mensch zu sein?“
„Gib die Macht zurück“, säuselte Carli. „Der die Glocken besitzt, kann alles!“
„Prima!“, rief Anton. “Das ist ein Wort!“ Er suchte Fridolin, der genauso wie die anderen Gespenster fassungslos über das Verhalten der beiden Jungs war und nun sehr verlegen drein blickte. „Fridolin, komm bitte zu mir!“ Fridolin kam dieser Aufforderung nach. Schüchtern stellte er sich neben Anton, ehrfürchtig zu ihm aufblickend. „Fridolin, dir übergebe ich die Silberglocken und damit die Macht über das Mühlental. Schwören musst du mir, dass du mich anschließend sofort wieder zum Menschen machst. Bist du einverstanden?“ Verlegen stand Fridolin und stammelte: „Gern, mein ... mein lie... lieber Freund.“
„So schwöre!“, redete ihm Anton freundlich zu. Und Fridolin leistete einen gewaltigen Schwur: „Ich, Frodolin der Gerechte (Diesen Namen hatte er sich selbst schnell gegeben!), Beherrscher der Macht und Freund der Menschen, schwöre beim Tod aller hier anwesenden Gespenster, dass ich Anton, meinem Menschenfreund, wieder Kraft der Glockenmacht zum Menschen werden lasse!“
Einen solch gewaltigen Schwur, der den Tod aller Gespenster bei Nichterfüllung zur Folge hätte, hatte bisher noch kein Mühlengespenst geleistet. Damit bewies Fridolin, dass er ein kluger neuer Herrscher war, denn nun würde kein Gespenst, auch nicht Carli, der ehemalige „Allmächtige“, versuchen, die Umwandlung zu verhindern.
Fridolin Hand strich sanft über die Glocke und fröhlich rief er: „Ich will ein guter Herrscher sein!“
„Halt, Fridolin!“ Martin machte sich bemerkbar. „Auch mir gehört ein Teil der Macht. Und auch ich möchte meine Macht an einen guten Freund abgeben.“
Martin winkte Hermännchen und rief ihm zu: „Hermännchen, du teilst dir in Zukunft die Macht über das Mühlental mit Fridolin! Aber auch du musst etwas versprechen!“
Hermännchen, mit einem Male im Mittelpunkt des Geschehens stehend, wollte sich am liebsten verstecken oder in ein gespenstisches Nichts auflösen. Doch Fridolin schien sehr angetan von Martins Vorschlag und Kraft seiner neuen Macht, befahl er Hermann zu den Glocken.
„Was soll ich denn versprechen, mein lieber Martin?“ Hermännchen konnte einem wirklich leidtun. Noch kleiner als er schon war, stand er neben Fridolin und bibberte vor Aufregung.
„Versprechen sollst du, dass in Zukunft alle Mühlengespenster und auch die anderen Gespenster – ich denke da besonders an den Ritter Rodenstein – die Menschen nicht mehr erschrecken, sondern den Menschen als Schutzengel, ihr könnt euch auch als Schutzgespenster bezeichnen, dienen werdet. Kannst du mir das versprechen, `Hermann von der Alten Wassermühle´?“
„Oh Martin!“, klagte Hermann, „das ist unmenschlich! Pardon, ich meine ungespenstisch. Wir müssen Menschen erschrecken! Wir müssen, denn sonst, oh mein lieber Freund Martin, denn sonst sterben wir!“
„Das wäre wirklich ungespenstisch, mein liebes Hermännchen“, erwiderte Martin. „Schließen wir einen Kompromiss: Ihr seid als `Schutzengel´ tätig und dafür dürft ihr aller sieben Jahre zur Geisterstunde die Menschen im Mühlental etwas ärgern. Aber kein Mensch darf dabei zu Schaden kommen!“
„Das ist mehr als wir jetzt gespenstern dürfen! Darauf leiste ich sofort einen Schwur.“ Und auch Hermann leistete einen gewaltigen Schwur und auch er gab sich einen neuen Namen: Hermann, der Freund und Helfer.
Hermann strich vorsichtig über eine der drei Silberglocken und schwor: „Ein guter Herrscher will ich Hermann, der Freund und Helfer, sein, gerecht zu jedermann und auch Freund und Helfer der Menschen. Soll ich diesen Schwur brechen, so soll ich sofort vernichtet und meine Überreste ins Nichts gehen.“
„Oh Hermann, was schwörst du da?!“, schrien gleich mehrere der Gespenster. Selbst Carli blickte nicht nur erstaunt, sondern erschrocken zu Hermann ...