Geschichten für Erwachsene: Fantastisches und Skurriles
Der Computer-Mensch
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von Joachim Größer (2009)
Maximilian Schulte war städtischer Beamter. Klein und drahtig von Gestalt, zurückhaltend und ehrlich. Dies waren seine wichtigsten äußeren und charakterlichen Eigenschaften. Fleißig erledigte er seine Arbeit, hatte auch immer ein offenes Ohr für die Nöte und Sorgen der anderen. Nur über seine eigenen sprach er nie. Wurde es danach gefragt, antwortete er nur lächelnd: „Sorgen, was ist das? Ich bin glücklich verheiratet, habe zwei prachtvolle Kinder, leiste mir jedes Jahr eine Urlaubsreise.“ So wussten seine Arbeitskollegen und Vorgesetzten nur wenig über ihn. Auch verstand er es, seine Hobbys und Vorlieben zu verbergen. So galt er als ein Mensch, der mit sich und der Welt zufrieden war und als Arbeitskollege geschätzt und geachtet wurde.
Dieses Bild von Maximilian Schulte war so auch richtig gezeichnet, allerdings nur bis zu seiner Haustür. Er betrat das Haus und keine Frau und keine Kinder begrüßten ihn. Seit einem Jahr lebte er in dem großen Haus, dass er von seinen Eltern geerbt hatte, allein. Seine Frau nahm eines Tages die beiden Kinder an die Hand, stellte sich vor Maximilian auf und sagte in ihrer ruhigen aber bestimmten Art: „Max, es reicht! Ab sofort kannst du mich bei meinen Eltern erreichen. Komme aber nur dann, wenn du dich radikal geändert hast!“ So sprach sie, seine Grit, und verschwand.
Angefangen hatte die Tragödie mit einer Nichtigkeit. Um auf der Höhe der Zeit zu sein, kaufte er sich gleich zu Beginn ihrer Ehe einen Computer. Der Grund war einfach nachzuvollziehen: Das Amt, in dem er arbeitete, sollte mehrere Computer erhalten und Maximilian wollte sich bereits darauf vorbereiten. Seine Frau unterstützte ihn in seinem Vorhaben und so saß Maximilian jeden Abend im Hobby-Raum im Keller und erarbeitete sich die grundlegendsten Arbeitstechniken. Er fand so viel Gefallen an dieser Tätigkeit, dass er seine gesamte Freizeit unten im Kellerraum verbrachte. Hatte seine Frau zuerst Verständnis, so kam es doch bald zum ersten Krach. Er konnte sie aber überzeugen, dass all das, was er sich in den einsamen Stunden am Computer erarbeitete, er auch in seiner Arbeit gebrauchen würde. Maximilian verschwieg ihr allerdings, dass seine Büroarbeit noch nicht einmal 5% von seinen Computerkenntnissen benötigte. Bald kaufte er einen zweiten Computer, vernetzte diese. Dann stellte er fest, dass er einen Computer brauchte, der über höhere Leistungen verfügen müsste und so stand die Nr.3 bald unter der Arbeitsplatte. Ein ganzes Regal war bereits mit Büchern und Zeitschriften gefüllt, selbstverständlich alle zum Thema Computer.
Dem Computer Nr.3 folgten Nr.5 und 6. Und dann begann Herr Schulte, sich seine Computer selbst zu bauen. Schneller, sicherer und effizienter als alle Computer, die es zu kaufen gibt, so sollte sein Computer sein. So schuf er ein Monster von Computer, der allerdings auch Urlaubsreise und diverse Neuanschaffungen, die es nun nicht gab, kostete. Maximilian Schulte war nicht mehr ein Tüftler und Bastler, er war jetzt ein Computerexperte, der es mit jedermann aus der Brache aufnehmen konnte. So suchte er sich ein neues Feld und fand es in der Entwicklung von Software. Jetzt offenbarte sich seine ganze Begabung. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte er eigene Programme, die sich durch Flexibilität und narrensicheres Bedienen auszeichneten. Er stellte sie als Freeware ins Internet, verlor aber bald die Lust daran, diese Programme weiterzuentwickeln. Nein, er wollte Programme anderer knacken. Wollte besser sein als sie und er wurde besser als sie. Er brach selbst in die Computersysteme der Hacker ein und hinterließ seine „Visitenkarte“. Bei jedem Hochfahren des geknackten Computers öffnete sich ein Bild, auf dem stand: „Niemand hat deinen Computer zerstört.“
Jetzt begann die Jagd der Hacker auf diesen „Niemand“. Aber „Niemand“ war längst ein anderer. Maximilian wusste, er ist besser als die Besten – und das genügte ihm.
Durch Zufall entdeckte er bei einem von ihm entwickelten Programm, dass dieses Programm sich selbst weiterprogrammierte. Das war der Zeitpunkt, als er seine Frau in den Keller holte und ihr von dem Ergebnis seiner Arbeit freudestrahlend erzählte. Aber erstens verstand seine Frau vom Computer und Software-Programmen so viel, wie er vom Backen – nämlich nichts. Und zweitens war diese Ehe längst zerrüttelt. Nur, weil Frau Schulte die Hoffnung, dass sich doch wieder alles einrenken würde, nicht aufgegeben hatte, nur deshalb blieb sie noch bei ihm.
Dies war aber auch der Zeitpunkt, als Maximilian Schulte sich ein Sofa in den Keller schleppte und nur noch zu den Mahlzeiten nach oben ging. Einst vernachlässigte er aber nie und das war seine Arbeit. Pünktlich erschien er im Büro, arbeitete wie immer schnell und effizient, war freundlich und hilfsbereit. Kaum jedoch betrat er das Haus, wurde er ein anderer. Seine Augen leuchteten vor Freude, und wenn er die installierte Lichtschranke im Kellerflur durchbrochen hatte, schalteten sich seine Computersysteme selbstständig ein. Begrüßt wurde er als ihr „Meister“ und der „Chef“-Computer übernahm die Verteilung der Arbeitsaufgaben. Sein Computersystem baute sich einen Supercomputer. Ihr „Meister“ gab die Hände und seine Geschicklichkeit, das Computersystem gab die Ideen und die Programme.
Scheinbar herrschte im Keller Harmonie, aber insgeheim war Krieg angesagt. Maximilian fügte sich von seinen Programmen, die seinem Können und Geiste entstammten, zum Handlanger und Bastler degradiert. Das Computersystem „belächelte“ den Menschen Maximilian Schulte, dessen Gehirn zwar effektiv arbeitete, aber niemals die Schnelligkeit und Effizienz ihres Computersystems erreichte. Zwar blieb Maximilian immer ihr „Meister“, aber wenn die Computer untereinander kommunizierten, dann war das nur der „Mensch“. Sie beschlossen, sich den Menschen vollständig untertan zu machen.
Maximilian spürte mit allen Sinnen, dass seine Arbeit nicht mehr seine Arbeit war. Er hatte aber keinen Zugang mehr zu dem Hauptsystem und ahnte, dass es bald zur Katastrophe kommen könnte. Die Katastrophe kam mit der Energierechnung. Aufgeregt stürzte Frau Schulte in den Keller und präsentierte ihrem Mann die Stromrechnung. Der stotterte nur: „Ist bestimmt nur ein Versehen.“
Das glaubte er aber selber nicht. Um seinen Verdacht zu bestätigen, nahm er sich einen halben Tag frei und eilte nach Hause. Da er die Lichtschranke nicht eingeschaltet hatte, kam er unbemerkt zur Tür. Er brauchte sie noch nicht einmal zu öffnen, schon von draußen hörte er seine Computer in menschlicher Sprache kommunizieren. Was er hörte, trieb ihm die Zornesröte ins Gesicht. Wütend riss Maximilian die Tür auf und sofort verstummte das Gespräch. „Ich habe euch gelehrt, wie Menschen zu sprechen! Ich habe euch mein Wissen, meine Ideen eingepflanzt! Ich bin euer Meister! Ich bin euer Herr! Ihr sprecht vom dummen Menschen! Ihr lacht über mein Gehirn! Ihr ... ihr ...!“
Sein ältester Computer, die Nr. 1, wagte eine Antwort. Doch Maximilian riss ihm sämtliche Kabel heraus. So tat er es bei allen Computern. Nur den fast fertigen Supercomputer verschonte er.
Kreidebleich schloss er den Keller ab, unterbrach mit dem Sicherungshebel die Stromzufuhr zu diesem Raum und schleppte sich mühsam und ausgepowert in die Wohnung.
Als seine Frau von der Arbeit kam, erschrak sie über das Aussehen ihres Mannes. „Nur ein wenig übel“, sagte Maximilian. Und Frau Schulte umsorgte und bemutterte ihn, in der Hoffnung, dass jetzt wieder alles gut werden könnte. So sah es auch aus. Herr Schulte mied den Keller, wie der Teufel das Weihwasser. Er hatte Zeit für seine Kinder, lachte und spielte mit ihnen, und als er seiner Frau erstmals nach drei Jahren wieder einen Kuss gab, umarmte und herzte sie ihn vor Freude.
Diese Episode war aber nur ein Zwischenhoch in ihren Beziehungen. Das neue Tief kündigte sich an, nachdem Maximilian Schulte einen Fernsehbericht sah und hellauf begeistert ausrief: „Das ist es! Das ist es!“ Was es war, erfuhr seine Frau nicht. Aber ihr kritischer Blick sprach genug.
Am nächsten Tag packte Maximilian mehrere Bücher aus, Fachbücher – zu einem Thema, das völliges Neuland für ihn war. Frau Schulte riskierte einen Blick in ein solches Buch. Sie las darin, aber verstanden hatte sie nichts. Nur soviel ahnte sie vom Inhalt, dass es hier um das menschliche Gehirn und um Computertechnik ginge. Respektvoll gab sie ihrem Mann das Buch zurück. „Und du verstehst das, was hier geschrieben steht?“
„Noch nicht, frage mich in einem halben Jahr“, bekam sie zur Antwort. Und da sie ihren Mann kannte, wusste sie, dass es so sein würde. Und sie kannte ihren Maximilian seit der Schulzeit. Während sie mit guten Zensuren glänzte, hatte er immer Schwierigkeiten, das Klassenziel zu erreichen. Viele Lehrer warfen ihm Faulheit vor. Nur einer, sein Mathelehrer, erkannte, dass sich hinter diesem schwierigen Schüler ein kleines Genie verbarg. Während Grit immer den vom Lehrer vorgegebenen Weg ging, ließ Maximilian seine Gedanken „kreisen“, rollte ein Problem von hinten auf, machte viele nicht nachvollziehbare Gedankensprünge und kam zu einem richtigen Ergebnis, das trotzdem vom Lehrer so nicht akzeptiert wurde. Nur dieser eine Lehrer ließ ihn die Aufgaben so lösen, wie Maximilian es wollte. Und um Maximilians das angekratzte Selbstbewusstsein zu stärken, musste der der Klasse seinen Lösungsweg erklären. Es war eine Aufgabe, die mindestens zwei Klassenstufen höher Schüler zum Schwitzen gebracht hätte. Maximilian lächelte, als er sie in wenigen Minuten löste. Seinen Gedankengängen konnte keiner seiner Mitschüler folgen. Aber eins hatte der Mathelehrer erreicht: Maximilian galt seit dieser Zeit bei seinen Klassenkameraden als kleines Genie – leider nicht bei den anderen Lehrern.
Und dieser hochbegabte Maximilian Schulte büffelte jetzt freiwillig die medizinischen Fachbücher durch. Als er glaubte, verstanden zu haben, wie der Mensch mithilfe der Computertechnik das menschliche Gehirn erforscht, suchte er nach Lösungen, um mit dem menschlichen Gehirn die Computertechnik zu steuern. Ein neuer, noch größerer Stapel Bücher lag jetzt zum Lernen bereit. Viele gute Ansätze fand er, viele verschiedene Lösungswege – aber alle endeten, seiner Meinung nach, im Nichts.
Seine Frau staunte nur, mit welchem Enthusiasmus er alle Abende mit dem Lesen der Bücher verbrachte. Es blieb ja nicht beim Lesen. Seitenweise kritzelte er seine Lösungsvarianten aufs Papier und warf dann das Papierknäuel als unbrauchbare Lösung weg. Ein Abend, ein Block Papier – so konnte man seine Arbeitswut umschreiben.
Einmal erkundigte sich seine Frau nach dem, was er ergründet. Eine Stunde redete Maximilian, eine Stunde hörte Frau Schulte aufmerksam zu, eine Stunde lang verstand Grit Schulte nichts. Eine Frage stellte sie ihrem Mann: „Wozu brauchst du das?“ Und die Antwort war kurz und knapp: „Ich bestimme und die intelligente Maschine muss mir gehorchen.“ Da Frau Schultes Blick davon zeugte, dass sie das nicht verstanden hatte, ergänzte Maximilian: „Bestimmen intelligente Maschinen die Menschen, hört der Mensch auf, der Herrscher über diese Welt zu sein. Er wird degradiert zum Handlanger, zum intelligenten Idioten! Und wenn das intelligente Maschinensystem die menschlichen Fähigkeiten überhaupt nicht mehr braucht, existiert diese Welt auch ohne den Menschen weiter! Und das ist meine Horrorvision!“
„Aber warum willst du dieses Problem lösen?“ Grit Schulte wagte noch eine Frage.
„Weil dies mein Problem ist und keiner dieser Wissenschaftler, die diese klugen Bücher geschrieben haben, soweit ist, wie ich.“
Jetzt war Frau Schulte baff. Keiner der Professoren und Doktoren waren so weit in der Entwicklung gekommen, wie ihr Max? Und Maximilian stieg in ihrer Hochachtung. So verzieh sie ihm die langen Abende, an denen er nicht ein einziges Mal zu ihr blickte. Sie verzieh ihm den erneuten Kelleraufenthalt. Sie verzieh ihm, dass er nur noch für sein Hobby Zeit hatte.
Und Maximilian Schultes Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Erschöpft kroch er meistens zwischen 2 und 3 Uhr ins Bett. Die kalte Morgendusche weckte seine Lebensgeister und niemand im Büro ahnte, woran Maximilian so verbissen arbeitete. Freundlich und zurückhaltend, pünktlich und gewissenhaft – so war er - so, wie immer!
Mehr als ein Jahr war vergangen. Das Ehepaar Schulte lebte nebeneinander, nicht miteinander. Noch hoffte Grit Schulte immer auf Besserung, noch wagte sie nicht zu sagen: „Schluss, Max! Das ist keine Ehe, das ist kein Leben mit dir!“ In Gedanken war sie schon oft so weit, aber nur in Gedanken.
Maximilian merkte von all dem, was in seiner Frau vorging, nichts. Er hatte nur noch Gedanken für seine selbst gestellte Aufgabe. Dann, eines Abends, Frau Schulte wollte gerade ins Bett gehen, sprang er hoch und schrie, wie von Sinnen: „Ich hab's! Ich habe es! Es ist so einfach, es ist so leicht!“ Er „tanzte“ in den Keller und als Frau Schulte sich morgens wunderte, weil Maximilians Bett unberührt geblieben war, ging sie in den Keller.
„Max, es ist Zeit für dich, zur Arbeit zu gehen.“
Maximilian aber blickte nicht von seiner Arbeit auf und murmelte nur: „Sei so gut und ruf im Amt an, dass es mir nicht gut geht und ich drei Tage Urlaub nehmen möchte.“
„Max, Max“, flüsterte Frau Schulte und ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, nach oben zum Telefon.
Am dritten Tag rief Maximilian seine Frau in den Keller und präsentierte ihr einen kupfernen Kranz, bestückt mit Elektroden. Er schaltete seinen Supercomputer ein, setzte sich den Kranz auf den Kopf und verkündete sehr ernst: „Jetzt bin ich der Herrscher der Welt!“
„Du spinnst!“, sagte sie sehr leise und sehr ruhig. Eine Stunde später stand sie mit gepackten Koffern vor ihm, beide Kinder neben ihr und sie sprach die entscheidenden Worte: „Max, es reicht! Ab sofort kannst du mich bei meinen Eltern erreichen. Komme aber nur dann, wenn du dich radikal geändert hast!“
Dass Maximilians Verhältnis zu seiner Familie sehr gestört war, offenbarte sich auch in dieser Situation. Während Grit mit Tränen in den Augen die Kinder beschwichtigte, dass der Papa sich bestimmt ändern würde und dann wären sie auch wieder eine richtige Familie, zuckte Maximilian nur verständnislos die Schulter. Er presste ein „Na ja!“ heraus und vertiefte sich wieder in seine Arbeit.
Maximilian dachte nur noch an seinen Versuch, denn der sollte zeigen, ob das Knobeln und Tüfteln sich gelohnt hätte. Er wollte mit seinen Gehirnströmen den Computer steuern und in seinem Kopf sollten die Bilder, die sonst der Bildschirm zeigte, entstehen. Die Computermaus und die Tastatur – das waren jetzt seine Gedanken. Noch überließ er nichts dem Zufall, noch benutzte er beides, um dann, er hatte sich ins Internet eingeklinkt, mit den Gedanken eine neue Seite aufzurufen. Beim dritten „Denken“ klappte es. Er trainierte es wieder und immer wieder, bis er glaubte, dass er diesen Ablauf beherrschen würde. Nach einer Stunde brach er völlig erschöpft zusammen. Jetzt, zum ersten Mal in seiner Ehe, merkte er, dass ihm was fehlte: seine Frau und seine Kinder, seine Familie. Er legte sich aufs Sofa und schlief fast 24 Stunden.
Aufgeweckt wurde er durch das Klingeln des Telefons. Sein Ältester fragte ihn, ob es ihm gut gehe. Und wieder hatte Maximilian dieses Gefühl von Alleinsein und von Hilflosigkeit. Da aber Wochenende war, versuchte er diese Gedanken mit weiterem Ausprobieren wegzuschieben. Bald war er wieder so besessen von seinen Versuchen, dass er 36 Stunden bis zur völligen Erschöpfung arbeitete. Als er am Sonntagabend ins Bett ging, nahm er sich vor, seinen Tagesablauf wieder so zu gestalten, dass Arbeit und Hobby im Einklang stehen. Vergessen hatte er nur, dass er jetzt auch einkaufen, Essen bereiten und das Haus in Ordnung halten musste. Tätigkeiten, die seine Grit ihm seit dem ersten Tag ihrer Ehe abgenommen hatte. Und wieder wünschte er sich den alten Zustand zurück.
Und trotzdem war er überglücklich: Er hatte etwas Unglaubliches geschafft! Er konnte mit seinen Gedanken eine Maschine steuern! Und dieses trainierte er täglich mehrere Stunden. Er merzte kleine Fehler in seinem Software-Programm aus, verfeinerte seine Übertragungstechnik und war bald eins mit dieser Technik - er und der Computer. Er war ein Computer-Mensch!
Welche Macht und welchen Einfluss er jetzt ausüben konnte, zeigte ein Ärgernis, das er zum Anlass nahm, die Regierungscomputer zu besuchen. Er las vertrauliche Nachrichtungen und Mitteilungen, ärgerte sich noch mehr über die „Verlogenheit“ einiger Regierungsvertreter und beschloss, sie zu bestrafen. Er wählte einige besonders brisante Schriftstücke aus und verschickte sie an eine renommierte Zeitschrift. Prompt wurde in einem Artikel zum sehr aktuellen Thema aus diesen geheimen Schriftstücken zitiert. Und unser Maximilian Schulte – er konnte sich mit einem Lächeln selbstzufrieden zurücklehnen. Er löste mit diesem „Streich“ eine nationale und internationale Krise aus: Ein Minister musste abdanken, denn alle Dementis halfen nun nichts mehr und eine fremde Macht wurde offiziell beschuldigt, dass deren Geheimdienst die Regierungscomputer geknackt hätten. Das wiederum ärgerte Maximilian und er brach erneut in das Computersystem der Regierung ein – die verschärften Sicherheitsmaßnahmen waren für ihn kein Hindernis – brachte das Computersystem zum totalen Absturz und nur noch ein Bild war zu lesen: „Es war Niemand, der dies angerichtet hat!“
Jetzt jagten ihn nicht die Hacker, jetzt waren es die Geheimdienste. Ein Mensch, der selbst die ausgefeiltesten Computersicherungen außer Kraft setzen konnte, wäre ein unschätzbarer Gewinn für jeden Geheimdienst. Maximilian Schulte, der dies bei seinen diversen Besuchen auch bei den nationalen Geheimdiensten, ausspionierte, beschloss den „Niemand“ verschwinden zu lassen. Er war sich sicher, dass keiner der sogenannten Computerexperten ihm auf die Schliche kommen konnte, denn sein System kannte niemand außer ihm. Jetzt wusste er, dass er Politik beeinflussen konnte und er wusste auch, dass er der Beste der Besten war.
Eine neue Herausforderung brauchte er, der Maximilian Schulte, der kleine städtische Beamte. Er wollte Gedankenlesen. Und was sich ein Maximilian in den Kopf gesetzt hatte, das führte er auch durch. Auf der Grundlage seiner bisherigen Arbeit schuf er einen Mini-Computer, der in einem Hut Platz fand. Bald lief er, seinen Computerhut tragend, durch die Straßen und „lauschte“ den Gedanken der Passanten. War es zuerst recht interessant und sehr aufschlussreich, worüber sich die Menschen Gedanken machen, so musste er bald erkennen, sein Wissen über die Gedanken seiner Mitmenschen zerstört mehr, als dass es Erkenntnisse bringt. Anlass für diesen Wandel war ein belauschtes „Gedankengespräch“ mit einem netten und freundlichen Nachbarn. Während sie sprachlich einige sogenannte Freundlichkeiten austauschten, vernahm Maximilian die wahren Gedanken seines Gegenübers: „Nun ist er schon so lange Strohwitwer. Der Schulte muss ein großes Ekel sein, dass seine nette und hübsche Frau ihn mit den Kindern verlassen hat.“
Maximilian rannte fast nach Hause. „Ich bin ein Ekel! Ich bin es nicht wert, mit dieser Frau verheiratet zu sein!“ Das waren seine Gedanken. Und eine alte Volksweisheit kam ihm in den Sinn: „Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand!“
Er riss sich den Hut vom Kopf und schwor sich, ein anderer zu werden. Und was sich ein Maximilian Schulte vornahm, führte er auch konsequent durch. Als Erstes fuhr er zu der Wohnung seiner Schwiegereltern und versuchte zu ergründen, ob er noch gern gesehen war. Bevor er losfuhr, brauchte er fast eine Stunde für eine Entscheidung: Nehm ich den Computerhut oder vertraue ich meinem Gefühl. Hin- und hergerissen entschied er und brüllte es in das Zimmer: „Keine Tricks, Maximilian! Kein Gedankenlesen mehr!“
Und so stand er nun vor der Haustür und klingelte. Es schien, als wäre keiner zu Hause. Schon als Maximilian auf seinem Absatz kehrt machen wollte, wurde die Tür geöffnet und sein Ältester bekam große Augen und schrie: „Papa ist da! Unser Papa ist da!“ Und seine jüngere Schwester lief die Treppe hinunter und fiel ihrem Papa in die Arme. Jetzt stand auch seine Grit in der Tür. Sie sagte nichts, sondern schaute ihn nur an.
„Darf ich reinkommen?“, fragte er. Sie antwortete nicht, sondern machte nur eine einladende Handbewegung. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf: „Mit meinem Computerhut könnte ich Grits Gedanken lesen!“ Schnell wischte er diesen Gedanken beiseite. Er schaute seiner Frau ins Gesicht, in ihre braunen Augen und fand, dass er willkommen war.
Herr Maximilian Schulte geht auch weiterhin pünktlich ins Amt, ist hilfsbereit und fleißig. Seine Kinder machen ihm große Freude und seine kluge Frau weiß, dass sich Maximilian geändert hat. Und nie wurde von ihr dieses Thema angesprochen.
Doch Maximilians unruhiger Geist brauchte neue Herausforderungen. So knobelte er zuerst für seine Kinder und dann mit ihnen an kindgemäßen Computerprogrammen, verkaufte diese an entsprechende Softwareproduzenten und besserte sich das bescheidene Beamtengehalt auf. Sein Supercomputer blieb „eingemottet“, sein Computerhut unter Verschluss. Als er dies tat, murmelte er: „Euch kann ich nicht mehr gebrauchen. Es sei denn, es gibt Machtmenschen, die die Welt beherrschen wollen und denen man ihre Grenzen zeigen muss!“
So, werte Leser! Vielleicht kennen Sie einen städtischen Beamten, der klein und drahtig von Gestalt, zurückhaltend und ehrlich, fleißig seiner Arbeit nachgeht und immer bereit ist, anderen zu helfen. Vielleicht ist es Maximilian Schulte, er könnte aber auch Paul Mayer heißen oder Karl Friedrich oder Friedhelm Hansen oder ... Namen sind doch nur Schall und Rauch!
Und vielleicht lesen Sie in der Zeitung wieder von einem Skandal und wundern sich, dass eine ganz bekannte Persönlichkeit von seinem Amt zurücktreten musste. Und Ihnen fallen Sprichwörter ein, wie „Wer hoch steigt, der tief fällt!“ oder „Nichts ist so fein gestrickt, dass es nicht doch ans Tageslicht kommt!“ Vielleicht denken Sie dann an Maximilian Schulte – oder glauben Sie, dass schmutzige Geschäfte von alleine ans Tageslicht kommen?