Geschichten für Erwachsene: Fantastisches und Skurriles

Gespenster

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von Joachim Größer (2007)

 

„Glaubst du an Gespenster? Ja? Ich nicht! Gespenster sind doch nur eine Erfindung von Menschen, die sich bestimmte Erscheinungen nicht erklären können. Nehmen wir zum Beispiel einen ganz typischen Fall: ein uraltes Schloss. Wenn der Wind im Schornstein heult, klingt das manchmal ganz schön schauerlich. Das gebe ich ja zu. Aber ich weiß doch, es ist der Wind, der sich im Schornstein verfängt. In weiteres Beispiel! Gehe mal nachts in einen finsteren Wald. Die Bäume stehen still und schweigend. Der Mond wirft sein helles Licht auf einen kleinen Waldtümpel. Das Wasser atmet die Wärme des Tages und heller Dunst wird vom Mondlicht erhellt. Kann man da nicht mit viel Fantasie ein Gespenst erkennen? Ich könnte dir noch weitere Beispiele aufzählen, aber ich denke, du hast begriffen, worauf ich hinaus will: Gespenster gibt es nicht! Diese Erscheinungen haben einen Ursprung, den die moderne Naturwissenschaft erklären kann ...“

So begann ein Artikel, den ich für eine Kinderzeitschrift geschrieben habe. Ich habe das absichtlich noch einmal hier geschrieben, damit ihr wisst, welche Veränderungen mit mir geschehen sind.

Eines Nachts wachte ich auf. Verstört über den ungewöhnlichen Lärm erkannte ich zuerst gar nichts, sondern fluchte vor mich hin, betrunkene Wirtshausgäste für dieses Kichern, Blöken, Klatschen und Johlen verantwortlich machend. Ich riss das Fenster auf, doch die Straßenlampe erhellte keinen Menschen. Knurrend schloss ich das Fenster, um mich sofort wieder ins warme Bett zu legen. Ich kuschelte mich ein und dachte noch so: „Vielleicht bist du nur überarbeitet. Hast ja bald Urlaub.“

Mit einem Male wurde mir meine warme Bettdecke weggezogen und ich hörte ein feines Kichern und Säuseln, das fast wie eine „singende Säge” klang. Verärgert über die erneute Störung setzte ich mich auf, knipste das Nachtlicht an und sah - nichts. Aber dieses Kichern hörte ich noch. Einmal war es dicht bei mir, dann wieder weiter weg. Aus dem Kichern wurde ein Gelächter, das in tosendes Gebrüll überging.

Jetzt bist du vollends übergeschnappt, sagte ich mir und begab mich ins Wohnzimmer. Dort suchte ich mir die Cognacflasche und genehmigte mir mehrere recht ordentliche Schlucke. Den Lärm hatte ich im Schlafraum gelassen, jedenfalls hörte ich nichts mehr. So legte ich mich auf die Couch, deckte mich notdürftig mit einer dünnen Decke zu und dank des vielen genossenen Alkohols schlief ich ohne weitere Störungen bis zum Morgen.

Ich hatte diesen Zwischenfall schon fast vergessen, wäre da nicht Frau Kuschelbach, die über mir wohnte. Kaum hatte sie mich auf der Treppe erblickt, fauchte sie mich an: „So geht das nicht! Sie feiern Orgien in ihrer Wohnung und ich kann die ganze Nacht kein Auge schließen!”

Ich versuchte, mich zu erklären, aber mit dieser kratzbürstigen Frau Kuschelbach war nicht zu reden. Na, dachte ich, dann eben nicht. Ich stürzte mehr als das ich ging die Treppe hinunter, um diesem Gekeife zu entrinnen.

Das Malheur nahm aber in der nächsten Nacht seine Fortsetzung. Noch schlimmer als die Nacht zuvor erschreckten mich nicht definierbare Geräusche, die ein solches Ausmaß annahmen, dass ich sicher sein konnte, meine keifende Frau Kuschelbach wird mich am nächsten Morgen zu Boden schreien. Aber bis zum Morgen brauchte ich nicht zu warten. Zornbebend stand sie an der Wohnungstür und übergoss mich mit allen möglichen Ausdrücken, wobei Störenfried und Banause noch die liebenswertesten Bezeichnungen meiner Person waren. Sie verschaffte sich selbst Zugang zu meinem Schlafzimmer, um mich mit den gefundenen Geräuscheverursachern zu überführen. Doch wie erwartet, fand sie nichts. Erschrocken hielt sie sich die Ohren zu, ihr Hilfe suchender Blick sprach für sich. Ich stand mit besorgtem Blick vor ihr und zuckte nur hilflos mit den Schultern, als sie mich aufforderte, diesen fürchterlichen Lärm abzustellen.

Jetzt geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Frau Kuschelbach holte tief Luft und schrie ihren Frust und Ärger in mein Schlafzimmer. Augenblicklich war Ruhe. Verwundert schaute ich meine Nachbarin an, dann nahm ich ihre Hände und rief freudig und aus ganzem Herzen: „Ich danke Ihnen, liebe Frau Kuschelbach! Sie haben meinen Schlaf gerettet! Herzlichen Dank!”

Fast kleinlaut hörte ich eine kleine verschüchterte Frau sagen: „Aber Sie brauchen mir doch nicht zu danken. Das habe ich gern getan.”

Mit vielen Komplimenten bugsierte ich meine Nachbarin zur Tür und schloss dieselbe eilends. An der Wohnungstür lauschend hörte ich, wie sie Selbstgespräche führte. Leider konnte ich nichts verstehen. Dafür aber hatte ich, dank der Stimmgewalt der Frau Kuschelbach, wieder ein ruhiges Schlafzimmer.

Ich streckte mich wohlig grunzend in meinem Bett aus und wollte mir die Bettdecke über den Kopf ziehen. Doch so sehr ich zog, es gelang mir nicht, mich überhaupt zuzudecken. Eine unsichtbare Gewalt hielt die Decke fest. Ich fluchte fürchterlich und wollte schon aufstehen um mithilfe meines Rezeptes - einen Cognac reichlich zu mir zu nehmen - die Nacht zu retten, als ich mit einem Male leises Wispern und Kichern hörte. Ja, ich verstand jetzt auch einzelne Worte: Störenfried, Banause, Dummbart. Die anderen noch weniger liebenswerten Begriffe behalte ich lieber für mich. Sicher war ich mir nur, dass Frau Kuschelbach in ihrem Zorn mir Minuten zuvor diese Worte an den Kopf geworfen hatte.

Jetzt wurde ich direkt von dem Unsichtbaren angesprochen: „He, du! Du bist doch der, der nicht an uns glaubt?! He, du - das bist du doch?”

In mir begann, die Wut hochzusteigen. Was sollte ich davon halten? Unsichtbare reden zu mir! Ich empfand dies als einen bösen Streich, von wem auch immer ausgeheckt. Ich suchte meinen Latsch und schmiss ihn mit voller Wucht in die Richtung, aus der ich die Stimme hörte. Getroffen musste ich haben, denn ein „Autsch! Das gebe ich dir wieder!” vernahm ich sehr deutlich. Im nächsten Augenblick flog mir mein alter Latsch an den Kopf.

Beendet wurde das Austauschen von Handgreiflichkeiten durch das Schlagen der nahen Kirchturmuhr. Absolute Stille herrschte in meinem Schlafzimmer. Mit einem Ruck zog ich die Bettdecke zu mir. Aber da niemand mehr die Decke festhielt, flog sie über mich hinweg und erfasste meinen Wecker, der klirrend zu Boden fiel.

„Hi, hi”, hörte ich ein leises Kichern. Dann: „Bis morgen, mein Freund! Bis morgen!”

Ich hob meinen Wecker auf und prüfte, ob er seine Funktion noch erfüllen könnte. Er war um 1 Uhr stehen geblieben. Ich schüttelte den Wecker, aber der Oldtimer aus meiner Jugendzeit hatte wohl endgültig seinen Geist aufgegeben.

Knurrend ging ich ins Wohnzimmer, genehmigte mir noch einen Schlaftrunk und legte mich dann schlafen.

Der Morgen verschaffte mir das Vergnügen, eine friedfertige und sehr leise Frau Kuschelbach anzutreffen. „Wissen Sie, woher diese Geräusche kamen?”, fragte sie mich. Da ich verneinte, brabbelte sie vor sich hin: „Das ist seltsam, sehr seltsam. Wie ein Zeichen aus einer anderen Welt.”

Ich machte, dass ich davon kam. Das hätte mir noch gefehlt. Eine Frau Kuschelbach und irgendwas Unnatürliches. Frau Kuschelbach reichte mir schon. Da brauchte ich nicht noch ihre spirituellen Spinnereien.

Der Arbeitstag war äußerst anstrengend. Ich hatte keine Gelegenheit, auch nur ein einziges Mal an die seltsamen Nachterlebnisse zu denken. Erst als ich bereits im Dunkeln nach Hause kam, wurde mein Bewusstsein wieder mit diesen Erlebnissen versorgt. Was hatte die Stimme gesagt? Ach ja, sie sprach doch „Bis morgen!” Nun hatte ich beim besten Willen keine Lust mehr, mir noch eine Nacht den Schlaf rauben zu lassen. So beschloss ich, drei Straßen weiter in einem kleinen Hotel für diese Nacht mich einzuquartieren. Ich suchte meinen Pyjama, Zahnbürste und packte sogar meine alten Latschen ein. Eine halbe Stunde später lag ich bereits in einem blütenweißen Bett, nahm mir eine Einschlaflektüre und befahl nach 10 Minuten meine Seele dem Morpheus. Mein letzter Gedanke war: „Ihr könnt mich mal! Heute schlafe ich und keiner wird mich stören!“

Jäh wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Ich japste nach Luft und saß kerzengerade im Bett. Alles um mich herum war Stille. Geträumt hatte ich auch nicht. Woher kam diese Atemnot? Was war das? Aber bevor ich weiter darüber nachdenken wollte, legte ich mich wieder hin und versuchte, weiterzuschlafen.

„Nichts da, mein Freund! Jetzt wird nicht mehr geschlafen! Denkst du, wir vertreiben uns mit dir unsere Langeweile? Wir haben einen Auftrag zu erfüllen.”

Jetzt war ich wirklich wach. Ich knipste das Nachtlicht an und starrte auf einen älteren Mann, der aus einer anderen Zeit zu kommen schien. Sein grauweißer Bart umrahmte ein blasses Gesicht. Auf dem Kopf trug er eine Mütze, die ich ins 17., vielleicht 18. Jahrhundert datieren würde. Auch seine ganze Kleidung passte eher in die Zeit um 1700 als in die heutige Zeit. Er starrte mich unverwandt an, und als ich ihn fragte, was er wolle und wie er in mein Hotelzimmer gekommen sei, antwortete er mir mit einem Lächeln. Irgendwie kam mir das alles mehr komisch als Angst einflößend ein. So nahm ich meinen alten Latsch und warf ihn meinen ungebetenen Besucher an den Kopf. Das jedenfalls hatte ich beabsichtigt. Gezielt hatte ich auch gut und die Flugbahn meines Latsches war auch richtig kalkuliert. Ich traf - durch ihn hindurch! Ich starrte den Alten an. Der saß vor mir und lächelte. „Wer bist du?!”, schrie ich ihn an. „Ich bin der, den du zu sehen wünschtest. Das ist mein neutrales Aussehen. Wenn dir ein junges, schönes Mädchen lieber ist - bitte, kein Problem.” Vor meinen Augen verschwand sein Bart, die Haare wurden goldblond, seine soldatenähnliche Kleidung wurde zu einem leichten Sommerkleid, das ihre weiblichen Formen wohltuend fürs Auge hervorhoben.

„Gefalle ich dir so besser, mein Lieber?”, säuselte sie. „Oder möchtest du mich als Aktfoto sehen? Du hast dir doch noch gestern ein solches im Magazin angesehen. War es dieses?” Vor meinen Augen fielen ihre Kleider von ihr ab, lösten sich in Luft aus. Sie nahm die Pose des Mädchens ein, welches ich wirklich auf dem Aktfoto gesehen hatte. Selbst ihr Lächeln entsprach dem Vorbild.

„Ich will keine Nackte! Ich will keine Verrückte! Ich will meine Ruhe!”, schrie ich sie an.

„Wir auch!”, hörte ich sie säuseln. „Wir auch.”

„Ich lass euch in Ruhe, dann habt ihr doch auch eure Ruhe”, argumentierte ich. Dabei zermarterte ich mein Gehirn, was dieses, das ich nun schon die dritte Nacht erlebe, bloß sein könnte.

Als könnte meine Nackte mir gegenüber meine Gedanken lesen, hörte ich sie sagen: „Solange du das nicht weißt, solange kannst du keine Ruhe finden.” Und stöhnend fügte sie mit einem aufreizenden Lächeln hinzu: „Wir leider auch nicht.”

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Hätte ich eine ausgiebige Zechtour genossen, ja dann wären diese Bilder bestimmt dem Alkohol zuzuschreiben gewesen. Aber so?! So nüchtern wie jetzt war ich schon lange nicht mehr! Sollte diese schwatzhafte und stimmgewaltige Frau Kuschelbach doch recht haben und diese Gestalten kommen aus einer anderen Welt? Aus einer anderen Welt? Was für eine Welt?

Mit einem Male wurde mir furchtbar heiß. Ich merkte, wie ich zu glühen begann. Ich starrte meinen Gegenüber, also ich meine die nackte Schöne, an. Erschrocken über meine Gedanken fragte ich schüchtern und stotternd: „Du, du bist ein ..., ein Gespenst?”

„Endlich hast du’s kapiert!”, flötete meine Schöne. „Das hat ja lange gedauert. Schreibst dumme Dinge über uns und kannst noch nicht einmal logisch denken. Ach ihr Menschen.“ Sie säuselte diese Kritik so liebenswert, dass ich versucht war, auf dieses Spiel einzugehen. Letztendlich sagte mir aber mein Verstand: Hier hält dich jemand zum Narren! Mein Verdacht war sogar begründet. Experimentierte doch mein bester - na ja drittbester - Freund mit Möglichkeiten, das Licht für die Übertragung von Materie zu verwenden. Ich hatte zwar bei seinem Vortrag so gut wie nichts verstanden, konnte mir aber auch nicht verkneifen, ihm Scharlatanerie vorzuhalten. Ja, ich sprach sogar von unwissenschaftlichem Humbug. Könnte er vielleicht hinter diesen „Lichtspielereien” stecken?” Sollte ich ihm unrecht getan haben? Ich wäre sofort bereit, Abbitte zu tun. Aber dann müsste ich ihn erst einmal sehen. Und wieso gaukelt er mir dann eine Nackte vor? Wieso weiß er, welches Magazin ich lese? Ich starrte meine schöne Nackte an. Sie, als könnte sie wieder meine Gedanken lesen, flüsterte sinnlich: „Ich bin echt - ein Gespenst 1.Klasse und keine Spielerei - ausgestattet mit allen Vollmachten, die ein Gespenst 1.Klasse besitzt. Ich bin gekommen, dich zum Rat der Gespenster zu holen. Dort sollst du dich verantworten. Komm mein Süßer, komm!”

Irgendwie bekam mein sonst scharfer Verstand wieder die Oberhand über meine Gefühle und vor allem über diese komische Situation. Ich, ein Mann in den besten Jahren, sitze im Bett und unterhalte mich mit einem Gespenst.

„Meier, du spinnst!”, dachte ich laut. Dem sogenannten Gespenst empfahl ich, sich aus meinen Träumen zu entfernen, denn zu diesem Ergebnis bin ich schließlich gekommen.

„Du bist aber ein sturer Ochse!”, brüllte mich jetzt das Gespenst mit Angst einflößender Stimme an. Ich musste lachen. Diese Stimme passte überhaupt nicht zu dem zierlichen Persönchen, das zornig vor mir stand. „Wer nicht hören will, muss fühlen!”

Sie fuchtelte mit den Händen und mit mir gingen seltsame Dinge vor. Ich glühte. Eine gewaltige Kraft zwang mich, mein Bett zu verlassen. Als ich neben demselben stand, schaute ich auf mich, der ich im Bett lag. Ich fasste mich an und glaubte, Wärme zu spüren. Dann ergriff ich meine eigene Hand, ich meine die Hand der Person, die neben dem Bett stand, und erschrak fürchterlich. Ich griff durch mich hindurch! Wahrhaftig: Ich griff durch mich hindurch! Fassungslos starrte ich meine Schöne an. Doch die begann, sich aufzulösen und ich hörte nur noch ihr Säuseln: „Komm, komm!”

Und ich folgte ihr, von einer furchtbaren Kraft getrieben, und unsichtbar wie sie selbst schwebte ich durch Türen und Wände, über Straßen und Häuser, empor in den nachtdunklen Himmel.

Alles, aber auch alles nahm ich wahr. Ich sah die Straße, den Bahnhof, vorbei ging es am Friedhof, rechts ein Schwenk über den Kirchturm und dann jagte ich hinter meiner schönen Nackten hinauf in die schwarze Nacht. Noch während ich überlegte, warum die Nackte (oder sage ich besser das Gespenst 1.Klasse) so davonjagte und ob es ihr nicht kalt wäre, erstrahlte über mir ein Himmelsloch. Mit einer atemberauschenden Geschwindigkeit schossen wir in die gleißende Helle. Ich erkannte eine herrlich grüne Wiese, uralte Bäume und eine Ansammlung von Gestalten. Meine Nackte wandelte sich in die Gestalt des Mannes aus dem 18. Jahrhundert. Ich selbst schwebte hinter ihm auf die Wiese. Sanft setzte ich auf den Rasen auf. Saftig war das Gras, das meine Hände berührten.

„Erhebe dich, Verleumder unserer Erscheinungen!”, brüllte mich mein Gespenst 1. Klasse an. „Du stehst vor dem Oberrat. Eine Ehre, die du nie verdienst hast! Erhebe dich also!”

Die zweite Aufforderung wäre schon gar nicht mehr notwendig gewesen. Ich sprang förmlich in die Höhe und verwundert mich nur, wie leicht ich einen bestimmt drei Meter hohen Sprung bewältigen konnte.

„Ich heiße dich willkommen, mein Freund!” Diese freundliche Begrüßung kam aus dem Munde eines ehrwürdigen Alten, gekleidet in einen weiten weißen Umhang. Sein Gesicht war geziert von einem langen schlohweißen Bart. Irgendwie erinnerte mich diese Gestalt an eine Figur aus einem Buch meiner Kindheit. Ich zermarterte mir meinen Kopf, bis ich diese Buchseite vor meinem geistigen Auge sah: Petrus. Genau, so war diese Figur abgebildet gewesen. Eine gütige Stimme bekehrte mich aber eines Besseren: „Deine Kindheitserinnerungen sind falsch. Ich bin der Oberrat, und dort siehst du die Gespenster 1. Klasse. Sie bilden den Rat, dem ich die Ehre habe, vorzustehen. Wir sind zusammengekommen, um über dich zu beraten. Wir müssen prüfen, ob du in die Gemeinschaft der Gespenster aufgenommen werden kannst.”

„Ich, ein Gespenst?” Erschrocken starrte ich den Oberrat an. „Aber ich lebe doch! Ich träume vielleicht, aber ich lebe!”

„Dein Zustand ist gegenwärtig sehr bedenklich. Du hast alle Voraussetzungen, ein ehrbares Gespenst zu sein, aber dagegen spricht dein gehässiger Artikel in dieser Kinderzeitschrift, in dem du uns verleugnest. Deshalb bist du hier. Deswegen beraten wir uns. Deswegen müssen all die ehrwürdigen Gespenster 1. Klasse ihre Häuser, Schlösser und Burgen oder auch wie der `Grüne Heinrich´ seinen Waldsumpf verlassen.”

Sein gestrenger Blick ließ mich erschaudern. Ich hatte also alle Voraussetzungen, ein ehrbares Gespenst zu werden. Nur dieser Artikel verhindert es.

„Aber warum soll ich ein Gespenst werden?”, schrie ich meine Angst hinaus.

Die Antwort erschütterte mein Selbstbewusstsein. „Nur der kann ein Gespenst werden, der mehrmals verflucht wurde. Du hast in deinem kurzem Leben das geforderte Soll bereits erreicht. Der letzte Fluch der liebenswerten Frau Kuschelbach wäre schon gar nicht mehr notwendig gewesen. Du hättest alle Chancen, in einigen Hundert Jahren dich zum Gespenst 1. Klasse zu entwickeln.” Er nickte betätigen und ich erschrak erneut: So oft bin ich schon verflucht worden? So oft habe ich andere Menschen geärgert, beleidigt oder gar noch Schlimmeres mit ihnen angestellt, dass sie mich verflucht haben?

Ich muss ein Jammerbild abgegeben haben, denn das Obergespenst - Verzeihung, der Oberrat - tröstete mich: „Noch haben wir nicht entschieden, ob du bei uns aufgenommen wirst. Immerhin hast du diesen schlimmen Artikel über uns geschrieben. Das kann ein großes Hindernis für deine Aufnahme sein.”

Jetzt schwor ich mir, noch Tausende solcher Artikel zu schreiben, wenn ich dadurch verhindern könnte, ein Gespenst zu werden.

„Wir treten in die Verhandlung ein!”, schrie jetzt ein dunkelhäutiges Gespenst. Gekleidet war es mit Lendenschurz. Auch hielt es einen Speer in seinen Händen. Es musste über eine große Autorität bei seinen Mitgespenstern verfügen, denn sofort bildeten alle Gespenster 1. Klasse einen Kreis. Nur der Oberrat, der Dunkelhäutige, meine ehemalige nackte Schöne - jetzt ja wieder ein Mann des 18. Jahrhunderts - und ich standen im Kreis. Der Dunkelhäutige war der Ankläger, der Oberrat der Richter, mein Gespenst mein Verteidiger und ich - ich war ein Häufchen Unglück. Der Dunkelhäutige las diesen Artikel für die Kinderzeitschrift vor und spie vor Abschaum über das Geschriebene vor mir mehrmals aus. Er forderte meine sofortige Rückkehr zur Erde und ein gespensterlanges Aufnahmeverbot für meine Person. Er schloss mit den Worten: „Ein Mensch, der uns so verleugnet, darf niemals zu unserer ehrbaren Gemeinschaft gehören!”

Das war der schönste Satz, den ich in dieser Runde vernahm. Mein Verteidiger dagegen zählte alle meine Schandtaten auf, lobte mich für meinen Erfindungsreichtum, den ich schon als Kind entwickelte, um andere zu ärgern. Als er dann über meine Jugend sprach, glänzten seine Augen vor lauter Freude über so viel Unverschämtheiten, die ich mir geleistet hatte. Und sein Bericht über meine Mannesjahre! Seine Lobeshymne war wirklich nicht mehr zu überbieten. Als er dann zum Abschluss eine Rolle vornahm, dieselbe entrollte und eine Liste mit all den ausgesprochenen Verfluchungen und Verwünschungen vorlas, konnte sich einer der Gespenster 1. Klasse vor lauter Begeisterung nicht mehr beherrschen und klatschte spontan Beifall. Einige fielen ein, wurden aber sehr schnell vom Oberrat zur Ordnung gerufen. Jetzt wurde mir das Wort erteilt. Das Obergespenst verlangte meine Stellungnahme zu der Anklage.

Stotternd und sehr, sehr zögerlich, krampfhaft überlegend, wie ich meine Haut retten könnte, gab ich schließlich meine Erklärung ab. Je länger ich sprach, um so sicherer fand ich die Worte, und als ich endete, strahlte mich der Ankläger an. Sich an seine Gespenster wendend, erklärte er: „So habt ihr selbst gehört: Dieser Mensch nimmt keine Vernunft an! Er beleidigt jeden Einzelnen von uns, indem er uns weiter verleugnet, obwohl er mitten unter uns ist. Niemals darf er in unserer Mitte sein! Niemals darf er ein Gespenst werden! Niemals!”

Jetzt hob der Oberrat beide Hände. „Hört mein Urteil!”, sprach er. „Du kehrst auf die Erde zurück. Du widerrufst diesen Artikel und bekennst dich zu uns! Ist dies geschehen, werden wir dich erwarten, denn du hast außerordentliche Fähigkeiten, um sehr bald ein Gespenst 1. Klasse zu werden. Ja, ich behaupte sogar, du könntest einmal meine Funktion übernehmen. Dies ist das Urteil und es tritt sofort in Kraft.”

Wieder wurde mir ganz heiß. Ich hatte das Gefühl zu fallen. Ich fiel und fiel, ich schrie und schrie und doch hörte ich mich nicht. Schweißnass vor Angst überlegte ich, ob ich vielleicht bei diesen Gespenstern hätte bleiben sollen. Aber da war es schon zu spät. Ich plumpste auf die Erde auf und jetzt fühlte ich eine große Erleichterung. Wohlig streckte ich mich in meinem Bett aus und öffnete die Augen. Am Fußende stand mein Freund Jupp und ich hörte ihn freudig ausrufen: „Dem Himmel sei Dank! Du hast es überstanden!”

„Na klar“, dachte ich, „ich habe dieser Aufnahme widerstanden, nicht überstanden. Was quatscht denn Jupp für dummes Zeug.“

Die Tür öffnete sich. Das Obergespenst betrat den Raum. „Das ist der Chefarzt”, flüsterte mir Jupp zu. Hinterher sagte er mir, dass mein Gesichtsausdruck beim Eintritt des Arztes fürchterlich gewesen war.

„Ich begrüße Sie wieder unter den Lebenden, Herr Meier.” Freundlich war seine Rede, und als die Tür nochmals geöffnet wurde, trat eine Krankenschwester, goldblond und mit allen weiblichen Reizen ausgestattet, in den Raum. „Wie geht es uns, Herr Meier”, säuselte sie. Ich stammelte: „Gut, gut. Und Ihnen?”

Aber über diese dumme Frage lächelte sie nur. Der Chefarzt verabschiedete sich: „In einer Stunde schaue ich nochmals zu Ihnen. Ihr Freund klärt Sie inzwischen auf.”

Beide, der Arzt und die Schwester, verließen den Raum. Fast wären sie mit einem Afrikaner zusammengestoßen. Der kam zu mir ans Bett und fragte mehr meinen Freund als mich: „Alles überstanden?” Jupp nickte und der Afrikaner fügte lächelnd hinzu: „Na, dann werde ich ja diese Nacht durchschlafen können.”

Nun musste Jupp berichten, denn mir fehlte jegliche Erinnerung. Und er erzählte, dass ich einen sehr schlimmen Fieberanfall bekommen hatte. Ich musste in meiner Wohnung im Fieber geschrien haben. Die Nachbarin, Frau Kuschelbach, besaß zu meinem Glück noch den Wohnungsschlüssel, denn während meiner größeren Auslandseinsätzen pflegte sie meine Blumen. Sie rief, als sie mich im hohen Fieber fantasieren sah, sofort den Notdienst und so landete ich im Krankenhaus - in der sogenannten Tropenabteilung. Hier konnte man meinen Malariaanfall am besten behandeln.

„Es war dein schlimmster Anfall, Fred”, sagte Jupp. „Dein Leben hing an einem seidenen Faden! Und du schläfst jetzt. Morgen komme ich wieder!”

Ich fühlte mich schwach. Aber ein unsagbares Glücksgefühl durchströmte mich. Ich schloss die Augen und dachte beim Einschlummern: „Ach ist das schön! Sie wollten mich doch nicht!“