Geschichten für Erwachsene: Fantastisches und Skurriles

Déjá-vu

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von Joachim Größer (2008)

 

Diesen Aufschrei meines Assistenten werde ich wohl so schnell nicht vergessen: „Doktor! Doktor! Kommen Sie! Kommen Sie! Wir haben ihn gefunden!” Dies war nicht nur die Bekanntgabe eines meiner wichtigsten Funde, nein - es war der Beginn in eine Zeitreise meines „Ichs”.

Ja, Sie haben richtig gelesen - es war der Beginn in eine Zeitreise meines eigenen Ichs. Ich, Dr. Martin Antonius, wissenschaftlicher Mitarbeiter einer renommierten Universität und Anwärter auf einen Lehrstuhl für die Geschichte des Mittelalters, ich hatte vielleicht mit diesem Fund den Beweis erbracht für eine Theorie, die mir in Fachkreisen nur ein müdes Lächeln bescheren würde, würde ich sie denn bekannt machen. Hatte ich doch angezweifelt, dass der Schatz der Nibelungen, wie in der Sage ausgesagt, durch Hagen in den Rhein versenkt wurde. Statt dessen behauptete ich, allerdings nur gegenüber meinen engsten Mitarbeitern und die hatte ich zum Schweigen verpflichtet, dass Hagen den sagenhaften Goldschatz in einer, hier aus Vorsicht nur als „Schlangenburg” bezeichneten, mittelalterlichen Burganlage in der Nähe des Neckars vergraben habe. Meine Erkenntnis verdankte ich einem Pergament, das ich durch Zufall beim Stöbern in der Klosterbibliothek entdeckte. Klar - ich muss zugeben, dass meine Theorie auf sehr „schwankenden Füßen” stand. Auch wusste ich, sollte ich diese Theorie - ohne stichhaltige Funde - in Historikerkreisen bekannt machen, ich höchstwahrscheinlich als Spinner oder Aufschneider von meinen Kollegen bezeichnet werden konnte. Trotzdem war ich wie besessen von meiner Idee. Hielt ich jetzt den ersten Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung in meinen Händen?

Behutsam glitten meine Finger über das Metall, spürten den Rost, der dem Langschwert seine Funktion raubte. Behutsam säuberte ich den Griff von der Erde und ein wahres Kunstwerk offenbarte sich mir. Feinste Silber- und Goldeinlagen verzierten den Griff und machten ihn unverwechselbarer.

„Er ist es! Er ist es!”, jubelte es in mir. Und vor lauter Freude und Übermut nahm ich das Schwert, zerhieb damit die Luft und rammte es in die Erde. „Hier liegt der Schatz der Nibelungen!”, schrie ich so laut, dass es aus den uralten Ruinenmauern widerhallte.

So emotional ich diese Handlung begangen hatte, so brüsk hielt ich inne. In meinem Kopf entstand ein Bild, welches mir sagte: „Antonius, das hast du schon mal erlebt!”

Zu Hause berichtete ich natürlich sofort meiner Frau von meinem Fund und vergaß ihr auch nicht zu erzählen, dass ich das Gefühl hatte, diese Situation schon einmal erlebt zu haben.

„Ich glaube, du meinst das sogenannte Déjá-vu-Erlebnis”, sagte sie, nahm das Lexikon und las vor: „Déjá-vu-Erlebnis, französisch `schon gesehen´, Form der Erinnerungstäuschung, bei der der Eindruck entsteht, man habe das in einer an sich völlig neuen Situation Gesehene und Erlebte in gleicher Weise schon einmal gesehen und erlebt; kommt in Erschöpfungszuständen, bei Psychosen und Neurosen vor.“

Also, Psychosen und Neurosen schloss ich aus. Vielleicht war es nur die ungeheure Anspannung und die riesige Freude, die meinem Geist etwas vorgaukelte.

Die nächsten Ausgrabungstage verliefen wenig spektakulär. Zwar fanden wir Tonscherben, geschmiedete Baunägel bester Qualität, auch einen Ring mit buntem Stein, aber den großen Fund - den Schatz der Nibelungen, den fanden wir nicht.

Das Küken unseres Ausgrabungsteams, Student im 1.Semester Hannes Kunz, erheiterte uns am 7. Tag nach dem spektakulären Schwertfund mit einem Bericht über einen Traum. Als wir während der Mittagspause darüber zu diskutieren begannen, ob die Ausgrabungen nicht eingestellt werden sollten, erzählte unser Hannes seinen Traum.

Zuerst stockend - so, als schäme er sich dieser Erzählung - dann immer flüssiger wurde seine Rede. Er vergaß nicht, Ausschmückendes und Gespenstiges zu erwähnen und zum Höhepunkt kommend, verkündete er: „Dieser Ritter rief mich zu dem kleinen Turm an der Ostseite der Burganlage und flüsterte mir ins Ohr: `Grabe hier! Grabe hier! Hier findest du den Schatz!´ Im Traum bin ich zum Turm gegangen und habe gegraben ...”

„Und?”, fragte feixend mein Assistent. „Warst du erfolgreich?”

Lachend erhob sich Hannes, breitete seine Arme aus und erklärte: „Leider nicht, denn im Traum stand mit einem Male Dr. Antonius vor mir und übergab mir den Schatz auf einer mächtigen goldenen Schale. Ich kann euch sagen, der Schatz war schwer. Ich bin fast in die Knie gegangen.”

Wir amüsierten uns trefflich über Hannes Traum. Während wir über Träume, die doch nur Schäume sind, frotzelten, nahm ich mir vor, zu Hause noch einmal meine Archivunterlagen zu studieren. Und das tat ich denn auch.

Am nächsten Tag überraschte ich meine Mitarbeiter mit der Festlegung: „Heute graben wir im Turm an der Ostseite.”

Verwirrt schaute mich Hannes an: „Doktor, aber ich habe doch nur geträumt!”

„Richtig, Hannes! Aber Ihr Traum ließ mich die Archivunterlagen noch einmal genau studieren. Stellen Sie sich vor, was ich Hornoch..., na Sie wissen schon, übersehen habe.”

Ich schaute meine Mitarbeiter an. Die starrten mich erwartungsvoll an, was ich nun verkünden konnte oder wollten sie vielleicht nur wissen, wie ein Hornochse aussieht. Na jedenfalls erklärte ich: „Diese Randbemerkung habe ich falsch übersetzt und damit falsch gedeutet.”

Ich hob eine Kopie des alten Pergaments hoch und zeigte auf den Randtext. Alle lasen die Stelle und Hannes meinte: „Dann wäre mein Traum doch wahr und richtig?!”

„Das überprüfen wir jetzt!” Und dieser Satz klang schon nicht wie eine Antwort, sondern eher wie ein Siegessignal.

Wir schufteten den ganzen Tag. Aber mit jeder Stunde, mit jedem Spatenstich verschwand unsere, d. h. eigentlich meine Siegeszuversicht. Kleinlaut bemerkte ich: „Das war wohl wieder nichts.”

„Machen wir Schluss?”, fragte mein Assistent. Ich nickte. Nur Hannes wollte noch nicht aufhören. „Ich versuche mein Glück noch an der Außenmauer”, erklärte er mir. Fast kam es mir vor, als glaubte er an seinen Traum und das ist bekanntlich das Vorrecht der Jugend.

Wir wuschen uns und zogen unsere Arbeitssachen aus. Immer am Ende eines Ausgrabungstages setzten wir uns noch einmal auf die Bank und beredeten das Tagewerk. So auch jetzt. Mein Assistent begann lächelnd über unseren Hannes und seinem Traum zu spotten, als der, wie von einer Tarantel gestochen, aufsprang, und schrie: „Der Schatz! Der Schatz!”

Wir stürzten zum Ostturm und starrten in die Grube. Am Boden schimmerte es schmutzig-gelb. „Grabe vorsichtig mit dem Spachtel weiter, Hannes!”

Aber diese Bemerkung hätte ich mir sparen könne. Unser Student wühlte mit den bloßen Händen wie besessen in dem Boden und dann entnahm er der geschichtsträchtigen Erde einen goldenen Kelch, geschmückt mit Edelsteinen. Es war ein Gefäß, wie es nur an Herrscherhäusern vorkam.

Mit zitternden Händen übergab er mir seinen Fund. Als ich den Kelch berührte, überkam mich wieder das Gefühl: Antonius - das hast du schon einmal erlebt!

Aber diesmal war es noch anders. Hannes hatte nicht mehr seinen Arbeitsanzug an, sondern trug die Festkleidung eines Handwerksgesellen aus dem frühen Mittelalter. Mein Assistent steckte in einem ähnlichen Gewand. Auch ich selbst sah mich mit einem purpurnen Tuch bedeckt und trug auf dem Kopf eine Kappe mit Feder. Meine Hände zierten mächtige Ringe. Hannes redete mich mit Herr an und seine Sprache war mehr als unterwürfig.

Ich wischte mir übers Gesicht, als könnte ich so dieses Bild entfernen. Und so war es sogar. Hannes stand in seiner Arbeitskluft vor mir, mein Assistent starrte mit offenem Mund auf den goldenen Kelch. „Hannes, du bist ein Glückspilz!”, flüsterte er. Und Hannes strahlte nur.

Jetzt packte uns erneut das Schatzfieber. Ohne uns umzuziehen, gruben wir, bis die untergehende Sonne verkündete: Feierabend! Die Ausbeute war aber gering: Scherben, Fibeln, einen Ring - das war alles.

Zu Hause hörte sich meine Frau meinen Bericht an. Als ich ihr von meinem erneuten Déjá-vu-Erlebnis erzählte und sie die Geschichte der scheinbaren Verwandlung hörte, meinte sie äußerst energisch: „Martin, deine Idee macht dich krank! Verhänge dir selbst Grabungsverbot! Du landest sonst noch in der Psychiatrie.”

Jetzt verstand ich meine Frau nicht mehr. Ich war kurz davor, den Fund des Jahrhunderts zu machen - und ich sollte jetzt aufhören zu graben?

„Niemals!”, flüsterte ich und begab mich schweigend und gekränkt ins Arbeitszimmer.

Ich setzte mich in meinen bequemen Lehnstuhl und sinnierte über die letzten Tage. Ärgerlich fuhr ich hoch, als die Worte meiner Frau „Martin, deine Idee macht dich krank!“ sich mir ins Bewusstsein drängten. Unruhig lief ich im Zimmer umher, um mich schließlich an mein Stehpult zu stellen. Hier kamen mir immer die besten Einfälle. Nur leider nicht jetzt. Dafür begann mein Kopf zu dröhnen und ich hörte mich schreien: „Aufhören! Sofort aufhören!“

Schlagartig verstummte das Dröhnen in meinem Kopf, die Tür öffnete sich und eine mir unbekannte junge Frau, gekleidet, wie eine Bedienstete aus längst vergangener Zeit, sprach zu mir, sich dabei unterwürfig verbeugend: „Herr, eine Botschaft vom Fürsten!“

Ich selbst sah mich reich gekleidet, erhobenen Hauptes den Boten des Fürsten erwartend. Ein junger Mann trat ein. Ich betrachtete sein Gesicht, als er mir eine Pergamentrolle übergab. Unbekannt, völlig unbekannt waren mir seine fein geschnittenen Gesichtszüge. Nur diese Augen, grüngrau und klug in die Welt blickend, kamen mir bekannt vor.

Ich entrollte das Pergament und las eine Bitte, die doch mehr einem Befehl glich. Der Fürst befahl mich, seinen ersten Baumeister, sofort zu sich. Die folgenden Minuten – oder waren es Stunden, Tage – liefen wie ein Film vor mir ab. Ich bestieg ein bereits gesatteltes Pferd, ritt im scharfen Galopp den Burgberg hinauf, eilte in die Kemenate der Fürstin, denn dort erwartete mich der Fürst. Ich empfand diesen Empfang in den Räumen der Fürstin als eine besondere Auszeichnung, die der Fürst sonst nur Gleichgestellten gewährte.

Wieder dröhnte mir der Kopf, doch diesmal schrie ich nicht, sondern zwang mich, Zähne zusammenbeißend den Schmerz unterdrückend, meinem Herrn zuzuhören. Sein Auftrag war eindeutig: „Baue in dem Ostturm eine verborgene Kammer mit Zugängen von der Talseite sowie von der Hauptburg. Diesen Zugang aber tarne so, dass nur Eingeweihte ihn benutzen können. Den Zugang vom Tal lass scheinbar in einen Weinkeller enden.“

Das also war mein Auftrag! Wozu brauchte der Fürst diese Geheimgänge und diese Kammer? Wollte er einen Schatz sicher aufbewahren? Sollte dies ein Verlies für seine Feinde werden? Und warum musste der Bau sofort und in aller Stille erfolgen?

Nachdenklich begab ich mich zum Burghof. Doch als ich die Treppe hinunterschritt, hörte ich: „Pst, pst! Antonius hier!“

Eine Hand winkte mir zu und ich folgte diesem Ruf. Hinter der Tür stand Hildegunde, das hübsche Ziehkind des Fürsten. Schon lange waren wir uns näher gekommen: Sie - eine verarmte Waise, Nichte des mächtigen Fürsten und ich, Antonius - Baumeister und gekauft vom Fürsten, um seine Macht in Stein auszudrücken. Beide fühlten wir uns fremd in diesem Land, beide hatten wir Sehnsucht nach dem sonnigen und warmen Süden.

„Antonius, Lieber“, flüsterte sie, „gib dein Bestes. Versprich es mir. Der Fürst gab mir sein Versprechen, leistest du gute Arbeit, dann wird er unserer Heirat zustimmen.“

Von so viel Gunst habe ich nie zu träumen gewagt. Freudig versprach ich meiner Hildegunde, die Zufriedenheit des Fürsten. Ich konnte aber meine Neugier nicht verbergen und so fragte ich sie, ob sie wisse, warum dieser geheime Raum gebaut werden solle. Statt einer Antwort zog sie mich durch einen sehr schmalen dunklen Gang, öffnete eine kleine eisenbeschlagene Tür. In diesem Kämmerchen, kaum so groß, dass vier Menschen Platz finden würden, sah ich einen Schatz, bestehend aus Gold und Silber, herrlichstem Schmuck, dessen Rubine, Saphire und Diamanten selbst in dem schwachen Licht noch funkelten. Alles lag auf einer großen goldenen Schale.

Unbemerkt kehrten wir zurück. Ich verabschiedete mich von meiner Braut, denn als solche betrachtete ich sie jetzt. Bereits am nächsten Tag begann der Bau in aller Eile. Viele Hände schufen in den nächsten Wochen die unterirdischen Gänge, aber nur wenige Gesellen vollbrachten die letzten Arbeiten. Fast täglich erschien der Fürst und begutachtete den Fortschritt. Zufrieden schien er zu sein, denn wiederholt hörte ich ihn sagen: „Das Fest kann ja bald beginnen!“ Natürlich bezog ich dies auf meine bevorstehende Hochzeit und so trieb ich die Gesellen zu immer größerer Eile an.

Doch schlagartig sollte alles anders kommen. Nur durch einen dummen Zufall erfuhr ich die wahren Absichten des Fürsten.

Fast fertig waren die Arbeiten. Wie üblich kontrollierte ich am Ende des Arbeitstages das Geschaffene. Diesmal hatte ich mich aber mit meiner Abnahme der Arbeiten verspätet, sodass alle Gesellen schon den unterirdischen Raum verlassen hatten. Zufrieden mit der Tagesarbeit wollte ich den Gang zur Hauptburg betreten, um mich mit Hildegunde zu treffen, als ich laute Stimmen hörte. Ich erkannte den Fürsten an seinem groben Lachen und auch die Fürstin hörte ich heraus. Da mir der späte Besuch des Fürstenehepaares sonderbar vorkam, löschte ich die Fackel im Wassertrog und verbarg mich in einer Felsnische. Je mehr ich von ihrem Gespräch verstand, umso mehr quetschte ich mich an die Wand, hoffend, dass kein Lichtschein der Fackel meinen Körper sichtbar machte.

Als die beiden den Raum wieder verlassen hatten, setzte ich mich kreidebleich auf den Boden. Was ich gehört hatte, raubte mir die Sinne. Der Fürst wollte, nachdem der Schatz durch mich und meine Gesellen in die unterirdische Kammer gebracht worden sei, die Vermählung hier unten als eine besondere Wertschätzung selbst vornehmen. Nur die Fürstin und die Gesellen sollten an der Hochzeit teilnehmen. Während wir feierten, wollte er die unterirdische Kammer durch die von mir eingebauten Schließmechanismen von der Außenwelt absichern. Wir alle, auch meine Hildegunde und die Gesellen, würden qualvoll sterben.

Lange saß ich in der unterirdischen Kammer. Dann fasste ich einen Plan. Niemandem, auch nicht meiner Hildegunde oder den Gesellen erzählte ich von der bösen Absicht des Fürsten. Sicher war ich mir, setze ich meinen Plan um, die Fürstenfamilie würde mich nicht so schnell vergessen. Und ich setzte ihn um! Keiner bemerkte die Veränderungen, die die Gesellen in aller Eile vornahmen. Sie selbst arbeiteten nur meine Aufträge ab, ohne die kniffligen Zusammenhänge eines Schließmechanismus zu verstehen.

Der Tag meiner Hochzeit kam. Der Schatz war bereits in die unterirdische Kammer verbracht. Festlich gekleidet erwarteten wir das Fürstenehepaar. Der Fürst besiegelte sogar auf einem Pergament unsere Ehe. Der Zeremonie folgte der Festschmaus. Hätte ich die Absicht des Fürsten nicht gekannt, nie wäre mir in den Sinn gekommen, Böses zu denken – so herzlich und warm wirkten seine Worte und Wünsche.

Schon wollte ich glauben, dass ich damals wohl das Gespräch missverstanden hätte, als sich beide Türen schlossen und schallendes Gelächter an unsere Ohren drang. „Antonius, Hildegunde! Das ist unser Hochzeitsgeschenk für euch! Lebt wohl!“ Und wieder hörten wir, wenn auch nur leise, das Lachen des Fürsten.

In unserer unterirdischen Kammer, die nun zum Verließ geworden war, herrschte zuerst große Stille, dann aber mit dem Aufschrei meiner Hildegunde „Wir sind verloren!“ zeigten auch die Gesellen ihre Angst. Mit meinem Gebrüll „Ruhe, verdammt noch mal!“ verschaffte ich mir Gehör, erzählte nun, dass ich von dem Verrat des Fürsten wusste und dass die Strafe für den Fürsten bereits vorbereitet sei.

Ich teilte den Schatz gerecht zwischen uns auf, befahl allen, auch genügend Nahrung einzupacken und beschwor sie, unser Geheimnis um den Gang, den Schatz des Fürsten und unser Verschwinden niemandem, wirklich niemandem anzuvertrauen. Jeder sollte die Burg so schnell ihn seine Beine tragen konnten noch in dieser Nacht verlassen. Ich verlangte, dass jeder mindestens vier Wochen gehen sollte, ehe er sich in seiner nun neuen Heimat niederließ. Jedem nahm ich dieses Versprechen ab, betonte, sollte sich einer als Schwätzer erweisen, er nicht nur sein Leben, sondern auch das Leben aller anderen aufs Spiel setzte.

Ich ging an die Wand, griff scheinbar in sie hinein und öffnete den schmalen Gang, den wir zuletzt in aller Eile gebaut hatten. Als ich mich Abschied nehmend umschaute, überkam mich die Wut. Ich trat in die Mitte des Raumes, ergriff das Schwert, das ich mir als einen Anteil des Schatzes zugeeignet hatte, stieß es in den Boden und schrie: „Findest du das Schwert, Fürst, dann soll es dich ewig an deinen Verrat erinnern! Verflucht seiest  du und deine Fürstin!“

Diese Worte nahmen mir den Zorn und gaben mir meinen klaren Verstand wieder. Ich ging in den schmalen Gang und erreichte in gebückter Haltung, mich oft am Kopf und Armen stoßend, den Hauptgang, der zum Tale führte. Jetzt musste ich nur noch einen zweiten Mechanismus betätigen und der Fürst kann mit seinen eigenen Händen im Gestein nach seinem Schatz suchen. Hildegunde und die Gesellen warteten bereits auf mich. Ich schickte sie zum Ausgang und betätigte meinen Mechanismus. Doch zu meinem Erstaunen löste ich nicht den erhofften Steinschlag aus, der die Kammer verschließen sollte. Also nahm ich die rußende Fackel und leuchtete die Wand ab. Ich fand den Grund: Ein kleines Steinchen verklemmte den Mechanismus. Ich schabte mit dem Meißel und dann ... ein gewaltiges Krachen und Bersten nahm mir alle Sinne.

Als ich wieder zu mir kam, sah ich meine Hildegunde weinend vor mir. Johannes, mein erster Geselle, goss Wein in einen prächtigen Kelch und führte ihn mir zum Munde. Ich verlor wieder das Bewusstsein. Oder war ich gestorben?

Menschliche Laute drangen zu mir, unverständlich zwar, aber garantiert menschlich. Ich konzentrierte mich aufs Verstehen und nach mehreren Minuten formten sich die Laute zu Worten. Jetzt konnte ich sogar zwei verschiedene Stimmen unterscheiden – eine helle, garantiert weibliche und einen Bass.

Der Bass sprach mehr als die helle Stimme. Ich wollte die Augen öffnen, aber die Lider waren zu schwer. So hörte ich und je länger ich zuhörte, umso klarer wurde mir der Sinn der Worte. Ich verstand Operation, Blutgerinnsel, künstliches Koma, Besserung in wenigen Tagen, Ehefrau, Geduld. Das sagte der Bass, die helle Stimme hörte nur zu. Jetzt fragte sie den Bass: „Wird er wieder völlig gesund?“ Die Antwort des Basses verpasste ich, denn krampfhaft bemühte ich mich herauszufinden, ob ich die Stimme kannte. Hildegunde sprach anders – da war ich mir sicher. Über das Nachdenken, zu wem die Stimme gehören könnte, schlief ich wieder ein.

Mein erneutes Aufwachen brachte mich in eine ganz andere Welt. Am Bettende stand meine Frau und unterhielt sich mit dem Arzt. Als ich mich rekelte, setzte sich meine Frau aufs Bett und flüsterte mit Tränen in den Augen: „Du hast es geschafft, Martin. Jetzt wirst du wieder gesund. Stimmt’s Herr Doktor?!“

Der Arzt nickte und entfernte sich aus dem Zimmer. Ich erfuhr von dem Blutgerinnsel, das auf das Gehirn drückte und sofort operativ entfernt werden musste. Auf meine Frage nach dem Schatz, verweigerte mir meine Frau mit der Bemerkung „Du darfst dich nicht aufregen!“ die Antwort. Aber diese Bemerkung regte mich nun besonders auf. War es nun der Schatz der Nibelungen oder doch nur ein Hirngespinst von mir? Erlöst von der Antwort wurde meine Frau durch die Schwester, die mir ein Schlafmittel gab.

Am nächsten Tag bekam ich aber meine Antwort. Hannes und mein Assistent besuchten mich und enthüllten feierlich das Schwert und den Kelch. Beide Ausgrabungsstücke waren fein gesäubert. Die Edelsteine strahlten mit mir um die Wette. Ich griff zum Schwert, aber mir fehlte die Kraft zum Halten. Daraufhin goss Hannes roten Wein in den Kelch und führte ihn zu meinem Mund. „Mit Erlaubnis des Arztes und der Denkmalspflege – Ihr Genesungstrunk, Dr. Antonius“, sagte er lächelnd. Während ich schluckt, wusste ich: Déjá-vu – Erlebnis. Schon wollte ich von meinem Erlebnis in einer anderen Welt berichten, als mir mein Verstand sagte: Antonius, behalt dieses für dich! Es ist besser so!

Wieder völlig gesund, erfuhr ich als Erstes im Institut, dass Materialprüfungen sowie Art und Weise der Herstellung der Fundstücke ergeben haben, dass diese unterschiedlichen Alters seien. Während der Kelch nachweislich dem 11. Jahrhundert zugeordnet werden konnte, vermuteten die Kunsthistoriker, dass das Schwert britischen Ursprungs sei und im 6. Jahrhundert gefertigt sein musste. Ich erhielt viel Anerkennung für meinen Fund, und verschwieg klugerweise meine Enttäuschung darüber, dass der Fund nicht ein Teil des Nibelungenschatzes sei. Das ersparte mir den Hohn meiner Kollegen, dafür sprach mein Assistent etwas Furchtbares aus: „Langschwert, 6. Jahrhundert, König Artus, Excalibur!“

Ich ließ ihn seine Fantasien auskosten. Ich selbst forschte nach dem Ursprung meiner Familie. Antonius – so hießen Römer, keine Deutschen. Bereits während der Schulzeit wurde ich mit diesem Namen gehänselt, er brachte mich aber auch zur Geschichte und zur Archäologie. Als Historiker wusste ich, dass die Klöster auch heute noch Schätze bergen, die nur gehoben werden brauchen. So vergrub ich mich in die Idee, in den Klöstern der Umgebung nach Dokumenten, Aufzeichnungen zu suchen, in denen von einem Antonius geschrieben wurde. Meiner Frau gegenüber tarnte ich meine Aktivitäten als normale Arbeit eines Historikers.

Es ist wirklich eigenartig. Ein Jahr nach dem spektakulären Fund des Schwertes fand ich eine Pergamentrolle, die die Heirat zwischen Antonius, dem Baumeister und der Freifrau Hildegunde beurkundet. Dieser Fund machte mich verwirrt und schweigsam. Ich, ein ernsthafter Wissenschaftler, der an die Gesetze der Natur glaubt, ich, Dr. Martin Antonius lebte zwei Leben gleichzeitig! Oder bin ich doch nur verrückt!