Amouröses (Geschichten über die Liebe)

Xianmu

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von Joachim Größer 2017

 

Auch am nächsten Tag schoben die beiden Praktikantinnen die Rollstühle in den Wintergarten. Die Fenster wurden geöffnet und auch heute schien die Mai-Sonne in schönster Pracht. Die Mädchen holten die vier anderen Herren aus ihren Zimmern und begleiteten sie zu ihren Stühlen. Kaum, dass sie saßen, rief einer der Alten: „Alfons, heute bist du der Erzähler! Fang schon an!“

„Stopp!“ Der Kapitän holte aus einer Tasche sechs Gläser und verteilte sie an seine Mitbewohner. „Das Leben können wir auch noch mit 90 oder 100 genießen und dazu gehört ein guter, ein sehr guter Tropfen - ein süffiger Rotwein! Und das muss sogar unsere Frau Doktor erlauben.“ Und während er sprach, füllte er mit zittrigen Händen die Gläser. „Mein Trinkspruch: ‚Auf unsere vergangene Jugend und auf die Liebe!‘“

Die Gläser wurden geleert, die Praktikantinnen stellten sie auf einem Tablett ab und zogen sich diskret zurück – zum Putzen der Vitrinenscheibe.

Kaum waren die Mädchen außer Sicht, da knurrte der Jüngste der Alten: „Doktor, nun fang schon an. Nicht, dass unsere Frau Doktor kommt und uns das kleine Vergnügen missgönnt.“

 

Und Dr. Alfons May begann:

Ferne Länder, andere Kulturen, fremde Sprachen – all das hat meine Jugend geprägt. Ich habe Bücher über fremde Länder verschlungen und immer wieder zog mich besonders China mit seiner viel Tausend Jahre alter Kultur besonders an. Für mich stand es nach dem Abi fest: Ich studiere Sinologie! Das war allerdings ein harter Brocken. So interessant die Kulturgeschichte war, so schwierig gestaltete sich für mich das Erlernen der Sprache. Auch wenn ich nur die Grundlagen des Chinesischen erwerben musste, wäre mein Studium fast an dieser Sprache gescheitert. Was hilft?! Ein Sprachkurs in China! Damals nach China zu reisen war äußerst schwierig. Privat so gut wie ausgeschlossen –schon wegen der fehlenden Finanzen.

Aber dann gab es einen kleinen Lichtblick: Ein Studentenaustausch könnte der Ausweg sein.

Aber wie an diesen heiß begehrten Platz kommen, wo doch mehr als 20 Kommilitonen genauso scharf drauf waren?

Meine kleine Schwester half mit ihrem Gejammer. Mein Vater „überwachte“ meine Schwester - und Schwesterlein konnte keinen Freund finden, der meinem Vater gefallen hätte. Und hatte nicht auch mein Professor, der Professor, der über diesen Austauschplatz verfügt, auch eine 18-jährige Tochter? Und sind nicht alle Väter, wenn es um ihre Töchter geht, recht bornierte Zeitgenossen?!

Mein Plan war gereift, Professorentochter Mechthild angepeilt, mit viel Charme umgarnt, zum ersten Tanzabend eingeladen, nach dem 2. Abend vor der Haustür geküsst, am dritten Tag höflich beim Herrn Professor nachgefragt, ob ich mit Mechthild zum Camping fahren könnte, der 5. Tag: der Tag der Entscheidung.

„Nach gewissenhafter Prüfung fiel die Wahl auf Herrn Alfons May!“ Fast wäre ich meinem Professor um den Hals gefallen. Als er mir das Bestätigungsschreiben gab, bemerkte ich: „Da wird sich die Mechthild gar nicht freuen.“ Und Herr Professor strahlend: „Sie wird’s überleben!“

Arme Mechthild! Ich bedauerte echt, dass ich sie für diesen miesen Trick missbrauchte. Ich aber büffelte, um ja nicht als Versager nach diesem Jahr zurückzukehren.

In Südchina lebte ich im Haus meines Gastgebers – eines Professors für altchinesische Kultur. Er wohnte im Haus eines ehemaligen Mandarins, eines hohen Würdenträgers der Kaiserzeit. Das Anwesen war riesig und das Schönste dieses Anwesens war ein Garten, der ganz im Stile des alten Chinas gestaltet war. Aber noch schöner als der Garten war eine der Töchter des Professors. Xianmu hatte sie ihr Vater genannt – nach einer Kaiserin der Han-Dynastie. Sie, die älteste von fünf Töchtern des Professors, war bereits Witwe und dies mit 22 Jahren. Ihr Mann erlitt kurz nach der Hochzeit einen tödlichen Verkehrsunfall und sie lebte seit dieser Zeit wieder im Haus ihrer Eltern.

Ich habe diese Xianmu gesehen - und es war um mich geschehen. Ich konnte meine Augen nicht von ihrer liebreizenden Erscheinung lassen. Ich muss sie so sehr angestarrt haben, dass ihre jüngeren Schwestern anfingen, laut zu lästern, was wiederum den Vater veranlasste seine Töchter zu mahnen und Xianmu die Röte ins Gesicht trieb. Meine Kenntnisse der chinesischen Sprache waren noch nicht auseichend, um die Worte der Mädchen komplett zu verstehen. Auch wenn ich alles verstanden hätte, ich hätte es missachtet. Ich musste diese chinesische Schönheit Xianmu anstarren, eine Schönheit, wie man sie nur in Südchina findet. Fein geschliffen war ihr Gesichtsausdruck, ihre Wangen glichen einem Pfirsich – leicht gerötet und von sanfter Struktur. Ihre mandelförmigen, lebhaften Augen schauten klug und klar in diese Welt. Ihr Busen war straff, ihre Taille war so schmal, dass zwei Hände reichen würden, sie zu umspannen. Die schwarzen Haare trug sie der Mode der Zeit entsprechen kurz als Schüttelfrisur. Ihre …

 

„Alfons, überspring diesen Teil deiner Erzählung. Sag lieber, wie du ihr näher gekommen bist. Schließlich wurde sie doch deine Frau!“

„Sei nicht so ungeduldig, Max. Ihr sollt doch nur wissen, wie schön meine Xi war. Xi war ihr Kosename, den ich ihr gab! Aber nun weiter!“

 

Xianmu reagierte auf mein Starren mit einem schüchternen Augenaufschlag. Ich bemerkte wohl, wie sie mich aus den Augenwinkeln beobachtete. Und als ich es wagte, sie anzusprechen, da antwortete sie ohne Zögern. Zwar lächelte sie über meine „Sprachfehler“, berichtigte mich aber so nett, dass ich niemals das Gefühl hatte, sie würde sich über mein chinesisches Gestammel lustig machen.

Mein Jahr in China sollte mein Wissen über die altchinesische Kultur erweitern und meine Sprachkenntnisse verbessern. Also ging es morgens mit dem Professor zur nahegelegenen Universität. Ich kniete mich mächtig in meine Arbeit, mein Wissenshunger beeindruckte selbst meinen Professor. Aber stärker als die Sinologie war die Liebe. Ich konnte es nicht erwarten, Xianmu am Abend zu sehen. Ich „verschlang“ sie mit meinen Augen, und da dieses jeden Abend geschah, hatten sich alle an diesen verliebten Deutschen gewöhnt – auch Xianmu. Als ich eines Abends dem Essen fern blieb – ich hatte eine Magenverstimmung – erschien Xianmu mit besorgtem Blick in meinem Zimmer. Sie umsorgte mich, als wäre ich sterbenskrank. Am nächsten Tag musste ich auch noch das Bett hüten. Jede Stunde erschien Xianmu, legte ihre Lippen auf meine Stirn, um meine „Temperatur“ zu fühlen. Und in der Tat, ich hatte „Fieber“. Am liebsten hätte ich meine Xianmu umarmt und ins Bett gezogen. Aber das konnte ich ihr und ihrer Familie, die sehr auf Traditionen setzte, nicht antun. So stöhnte ich nur – in der Hoffnung, dass sie jede halbe Stunde „Fieber messen“ würde.

Meine Krankheit beendete der Professor mit der Ankündigung, dass ein fast zweitausend Jahre altes Gräberfeld auf mich wartete. Vier Wochen blieben wir der Wohnung des Professors fern. Vier Wochen ohne Xianmu – wie habe ich dies nur ausgehalten?!

Diese Ausgrabungen wurden zwar zum Grundstein meiner Doktorarbeit, ich schuftete wie ein Berserker, im Hinterkopf der Gedanke: So komme ich schneller zu meiner Xianmu!

Zurück im Hause des Professors erwartete mich Xianmu mit leuchtend strahlenden Augen. Sie freute sich genauso, mich zu sehen, wie ich mich freute, sie anhimmeln zu können. Xi zu umarmen – das ging auf keinen Fall. Nur mit den Augen konnte ich ihr meine Liebe zeigen und sie erwiderte meine Gefühle.

Das subtropische Klima erlebte ich vor allem in den Nächten als äußerst störend. Man lag im Bett und schwitzte. Und da ich oft im Garten spazieren ging, um über meine Liebe zu Xianmu nachzudenken, meinte ich, dass auf der Gartenbank wohl ein kühler Lufthauch Linderung der Hitze bringen könnte. Gedacht – getan! So lag ich, nur mit meinem kurzen Nachthemd bekleidet, auf der Gartenbank und starrte in den Sternenhimmel. Ich starrte auf die Sterne und die Sterne „verschwammen“ und Xianmu „starrte“ statt der Sterne und der Planeten zu mir herab. Ich malte mir Xi aus: ihre schmale Taille, ihre Brüste, ihr liebliches Lächeln. Ich träumte meine Liebe zu Xi; und ich bemerkte gar nicht, dass meine Liebe mein bestes Stück sich in den Himmel strecken ließ. Nichts wünschte ich mir jetzt mehr, als dass Xi jetzt bei mir sein könnte und ich ihr meine Liebe zeigen könnte.

„Ach Xi!“, flüsterte ich. „Komm zu mir!“

„Ich bin doch schon da!“, hauchte eine zarte Stimme in mein Ohr. Eine weiße Gestalt setzte sich auf mich, mein gewaltiger „Himmelsstürmer“ wurde sanft umschlossen und mit sanften rhythmischen Bewegungen zeigte meine Xi ihre Liebe. Was war das für eine Nacht! Unser aufgestautes Verlangen bedingte mehrere Liebesbeweise in dieser Nacht – und was für Liebesbeweise!

Da die südchinesischen Nächte immer von der Schwüle des Tages erfüllt waren, war uns jede schwüle Nacht im Garten willkommen. Heimlich trafen und liebten wir uns, heimlich schlichen wir am Morgengrauen in unsere Betten, und heimlich hielten wir unsere Hände am Frühstückstisch. Wir waren uns sicher, keiner merkte etwas von unseren nächtlichen Stell-dich-ein. Wir ignorierten das Tuscheln Xis Schwestern, den prüfenden Blick des Professors. Dann aber kam der Tag, an dem wir unsere Liebe öffentlich machen mussten. Xianmu war schwanger.

Ich liebe dieses China, seine uralte Kultur und die Menschen – und besonders eine Person: meine Xi!

Aber wie heiratet man in China? Wie bringen wir dies ihrer Familie, ihrem Vater bei?

Da Xianmus Vater Professor für altchinesische Kultur war, hielt er sehr viel von Tradition und alten Ritualen. So besorgten wir uns Kleider, wie sie zur Zeit der Han-Dynastie getragen wurden. So ausstaffiert warfen wir uns vor dem Professor auf den Boden und beichteten unsere Liebe. Nun war es an dem Vater, seiner Tochter zu vergeben und den Schwiegersohn in die Arme zu nehmen. Schwieriger als den Professor von unserer Liebe zu überzeugen, war es, in China zu heiraten. Nicht für Chinese und Chinesin – nein für Chinesin und Europäer! So meinte meine Xi, dass sie Heimatland, Eltern und Geschwister hinter sich lassen könnte, um in Deutschland meine Frau werden zu können. Aber auch dies gestaltete sich äußerst schwierig. Ende gut – alles gut! Eine Woche, bevor meine Tochter geboren wurde, wurde aus meiner Xi Frau Xianmu May.

 

„Ja Alfons, Liebe macht viel möglich! Aber warum ist deine Xianmu so früh von dir gegangen?“

„Die Geburt unseres 2. Kindes überlebte meine Xi nicht. Sie war eine Kämpferin, aber ihre Kraft reichte nicht mehr. Als unser Sohn seinen ersten Schrei tat, da lächelte meine Xi, sie umschloss meine Hand und …“

Dem Alfons May rollten die Tränen die alten Wangen hinunter, und er schämte sich dieser Tränen nicht.

Als er sich gefasst hatte, erzählte er weiter:

Ich war jetzt ein frischgebackener Doktor, ein zweifacher Vater und in den ersten Wochen nach Xis Tod völlig hilflos. In dieser schweren Zeit besuchte mich Mechthild, meines Professors Töchterlein des Öfteren. Sie half, wo sie nur konnte. Ja sie vernachlässigte sogar ihr eigenes Studium, um mich in allem zu unterstützen. Sie war die perfekte Hausfrau, das perfekte Kindermädchen und ich ahnte sehr rasch, dass mein damaliger kurzer Flirt für sie mehr war, als ich es mir selbst eingestehen wollte. Ich mochte sie, echt! Aber lieben? – da stand meine Xianmu dazwischen. Aber Mechthilds Liebe zu mir reichte für zwei. Nie habe ich ihr gezeigt, dass ich immer noch an meine Xi denke! Nie hat sie mir zu verstehen gegeben, dass sie wusste, dass nicht sie meine große Liebe ist.

Dr. Alfons May holte tief Luft. „So Männer, das ist meine Geschichte über die Liebe! Es sind diese zwei Frauen, die mein Leben bestimmten.“

„Eine sehr schöne und sehr traurige Geschichte!“, sagte der Max Bauer. Er drehte sich in seinem Rollstuhl so, dass er nach hinten sehen konnte. „Mädchens, bitte rollt mich ins Zimmer. Ich habe viel nachzudenken!“

Die Praktikantinnen kamen aus dem Seitenflur und fühlten sich ertappt. „Wir haben nicht gelauscht!“, sagte die Ältere.

„Ach Mädchens, hört nur zu! Ihr seid jung! Ihr werdet die große Liebe selbst noch erfahren!“ Der Kapitän schaute in die Männerrunde: „Wer erzählt morgen?“

„Ich werde euch morgen von einem Versager erzählen!“, sagte der wohl Jüngste der Männerrunde – er wurde von den anderen nur der Ökonom genannt.

„Also dann bis morgen 10 Uhr!“ 

 

Hier nun die Anekdote "Meine Studentin"!