Amouröses (Geschichten über die Liebe)

Meine Studentin

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von Joachim Größer (2017)

 

 

Der Erste, der am nächsten Morgen im Wintergarten saß, war Max Bauer. Schlecht sah er aus. Die Augen waren gerötet, die Haut sah grau und fahl aus, er wirkte fahrig und völlig unausgeschlafen. Als die anderen Männer von den Praktikantinnen in den Raum geführt wurden, fragte Max Bauer: „Ökonom, lässt du mich heute erzählen? Bitte!“

„Aber erst lässt du alle hinsetzen. Und die Mädchen könnten auch wieder die Fenster öffnen – oder Männer? Wird es euch zu kalt?!“

„Aber nur, wenn die Geschichte vom Maxe heiß ist und unseren Gefühlen richtig einheizt!“

„Mädchens, dann lasst die Fenster zu. Männer, meine Geschichte ist wahrscheinlich für euch eher langweilig. Erotik wird nicht vorkommen. Trotzdem bitte ich euch, mir zuzuhören. Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und habe nur nachgedacht. Seit meine Adelheid starb, habe ich noch nie mit einem Menschen über meine Ehe gesprochen. Ich habe alle Freud und besonders das Leid aus meinem Gedächtnis verdrängt. Ich wollte nicht an die Vergangenheit denken. Als gestern Alfons über seine Xianmu sprach, da … Na ja, ich hatte eine furchtbar schlechte Nacht. Ich hoffe, wenn ich euch meine Geschichte erzähle, wird es mir besser gehen.“

„Na los, wir hören!“

 

Mein Name Bauer ist zugleich der Name meines Berufsstandes. Unsere Familie Bauer war immer in der Landwirtschaft tätig. Mal ging es den Bauers besser, oft auch schlechter. Aber nie gab man auf. Als meine Eltern starben, waren neben dem großen Gehöft, den Äckern, den Wiesen und dem Wald ein Buch, eine Bibel, das wichtigste Erbe. „Max“, sprach mein Vater, „die Bauers waren immer Bauern. Hier in dieser Bibel kannst du deine Ahnen finden – alle waren Bauern und haben auch in Notzeiten ihren Besitz verteidigt. Du wirst so handeln, wie alle Bauers vor dir.“

So sprach mein Vater und für mich waren seine Worte Verpflichtung. Ich saß oft am Abend vor der Bibel und las in meiner Ahnenreihe. Es war so, dass alle Erstgeborenen Bauers Maximilian, also Max hießen. Es war so, dass alle Bauers Notzeiten, Kriegszeiten, Naturkatastrophen als Bauern überlebten. Es war so, dass alle Bauers bemüht waren, Hof, Acker, Wiesen und Wald nicht nur für die nächste Generation zu erhalten, sondern sie sich abmühten, ihren Besitz zu vergrößern. Und ich?! Ich saß alleine, unverheiratet vor dieser Bibel, und wenn ich sie jetzt zuschlage, weiß ich, dass ich wieder beginnen werde, zu rechnen!

So wie mir erging es vielen Bauern; das Bauernsterben war angesagt. Im Konkurrenzkampf blieben nur die Großen die Sieger. Je kleiner der landwirtschaftliche Betrieb, umso schneller musste der Bauern seinen Beruf aufgeben. Und ich rechnete, wie lange ich noch durchhalten könnte.

An einem Spätsommerabend bekam ich Besuch von einer jungen Frau. Sie stellte sich als Adelheid Fritsche vor, sei Studentin der Agronomie und möchte in Kürze ihren Doktor machen. „Mein Spezialgebiet ist die Ökonomie der Landwirtschaft. Ich suche einen Betrieb, in dem ich meine Ideen umsetzen könnte. Ich weiß, dass Sie, wie alle Bauern in diesem Dorf, mit der Aufgabe des Betriebes rechnen. Ich könnte Ihnen helfen, auch in dieser schwierigen Zeit, Bauer zu bleiben – Herr Maximilian Bauer!“

So sprach Adelheid – meine Studentin. An diesem Abend brannte sehr lange das Licht. Ich erfuhr, dass ihre Eltern mit Leib und Seele Bauern waren, dass sie ihr Land verkaufen mussten, dass sie den Verlust des Bodens nie verschmerzten und dass ihr früher Tod auf diesen Verlust zurückzuführen war. Adelheid war das einzige Kind. Sie verkaufte das Haus und schrieb sich an der Universität als Studentin ein. Jetzt wollte sie mit ihrem Wissen bedrohten Landwirten helfen, die Krise zu überleben. Es war schon weit nach Mitternacht, als wir einen Pakt schlossen. Adelheid durfte mir alle Vorschläge unterbreiten, ich musste zustimmend nicken oder verneinend den Kopf schütteln. Ich habe kein einziges Mal den Kopf geschüttelt. Adelheid war ein Ass! Sie setzte nur auf ihre Wissenschaft. Zuerst holte sie von jedem Acker Proben fürs Labor, dann ließ sie sich den Anbau auf den einzelnen Äckern in der Vergangenheit auflisten und verglich mit den Erträgen. Sie begutachtete den Zustand der Feldwege, den Maschinenpark, die Stallungen und den Viehbestand.

Einen Monat brauchte sie dazu. Dann kam sie in mein kleines Arbeitszimmer und sagte: „Bauer, so kannst du nicht wirtschaften!“ Und sie hielt mir einen Vortrag, der mindestens eine Stunde dauerte. Nach diesem Vortrag dröhnte mein Kopf und meine Studentin Adelheid fragte: „Willst du meine Vorschläge hören?“

Natürlich wollte ich! Sie: „Max, du musst dich spezialisieren. Der Ackerboden ist mies, die Wiesen zu feucht, die Waldfläche zu klein und der Baumbestand zu jung. Die Stallungen sind abrissreif, für die moderne Milchviehwirtschaft ungeeignet. Am ehestens ginge noch die Schweinezucht, aber dazu müsstest du expandieren und Arbeitskräfte einstellen. Nur du hast nicht das Geld, sie zu bezahlen. Mein Vorschlag: Das Dorf liegt nur 10 km von der Stadt entfernt. Es gibt viele Städter, die Landluft schnuppern und dabei aktiv sein wollen. Dein Kapital sind deine Pferde, beste Qualität und zu schade, um sie als Zugtiere zu verwenden. Gestalte deinen Hof zum Reiterhof um! Wenn du ja sagst, beschaffe ich dir das Geld für den Umbau der Stallungen.“

So sprach meine Studentin und ich grübelte und grübelte drei Nächte. Dann: „Wer wagt, gewinnt!“ Das sagte ich ihr bei dem nächsten Besuch, bat sie zugleich, bei mir einzuziehen und fragte schüchtern, ob sie den Maximilian Bauer heiraten möchte!

Sie: „Ich dachte mir das schon! Du brauchst eine billige Verwalterin!“ Sie lachte, sie küsste und antwortete: „Nur wenn ich meinen Doktor kriege!“

Ja – ihren Doktortitel wollte sie. Mit ihrer Dissertation über die Umgestaltung meines Bauernhofes wollte sie bahnbrechend die Agrarökonomie verändern. Und ohne mich – keinen Doktor und ohne Doktor – keine Ehefrau!

Wir waren ein tolles Team! Adelheid war fantastisch! Sie verhandelte mit den Bänkern und die wollten perdu kein Geld in einen 300 Jahre alten Bauernhof stecken. Da packte meine Adelheid ihre Unterlage aus. Sie zeigte Tabellen, ihre Berechnungen, ihre Prognosen … Sie zwang die Bankleute, ihre Berechnungen zu überprüfen; sie „zwang“ sie die Worte auszusprechen: „Das wäre aber eine hohe Rendite!“

Die Bank gab das Geld, und ich verpachtete meine miesen Äcker an befreundete Bauern, die sich so vergrößern konnten. Die alten Stallungen wurden abgerissen, ein neuer Stall gebaut, gebaut für den Reitsport. Schon während der Umbauphase startete Adelheid eine Werbekampagne. Die Regionalzeitungen warben mit Annoncen, selbst Plakate priesen unseren Reiterhof an.

Als der Umbau abgeschlossen war, hatten wir soviel Anmeldungen, dass wir optimistisch in die Zukunft blicken konnten.

Der Reiterhof war aber nur der Anfang. Das alte sogenannte Herrenhaus war für eine Familie viel zu groß. „Das Obergeschoss wird zur Pension umgestaltet. Das bringt zusätzliches Geld und wer sich bei uns wohlfühlt, kommt jedes Jahr wieder.“ So sprach meine Adelheid und vier Wochen später hatten wir die ersten Schlafgäste.

Mittlerweile brauchten wir Hilfe. Ein Aushang im Dorfladen half und viele Junge und Alten wollten sich in dieser schweren Zeit ein „Zubrot“ verdienen.

Es war eine herrliche Zeit! Ich schaute optimistisch in die Zukunft, Adelheid, meine kleine Adelheid schrieb neben all der Alltagsarbeit ihre Dissertation. Sie sprühte nur so vor Energie. Dann kam der Tag – ihr Tag! „Summa cum laude“ – mit höchstem Lob! Ein frisch

gebackenes Fräulein Doktor verließ drei Stunden später als Frau Dr. Bauer das Standesamt.

Wir waren furchtbar glücklich. Und meine Adelheid sprach: „Bauer, wir brauchen einen Sohn!“ Und als ich meinte, eine Tochter wäre doch auch nicht übel, verschloss mir meine Frau mit einem Kuss den Mund und flüsterte mir dann ins Ohr: „Papperlapapp! Nur Jungen, die so aussehen wie du! Und sechse müssen es sein!“

Was sich eine Adelheid Bauer, geborene Fritsche vornahm, setzte sie um. Aber als nach zwei Jahren der erhoffte Nachwuchs ausblieb, suchten wir einen Frauenarzt aus. Ein ehrwürdiger alter Herr saß uns gegenüber und besprach mit uns die Untersuchungsmöglichkeiten, die die Medizin damals für nach Kindern dürstenden Eltern bereithielt. Wir ließen alles mit uns geschehen und erleichtert erhielten wir die Diagnose: Alles perfekt! Alles In Ordnung!

Nur Adelheid wurde nicht schwanger. Bei einem der Arztbesuche behielt mich der Doktor zu einem Gespräch. „Die Maria Theresia, Sie wissen doch, die Kaiserin aus Österreich, blieb jahrelang kinderlos. Ihr Leibarzt sprach mit dem Ehegemahl und empfahl dem Kaiser Franz, beim Liebesspiel mit dem Finger die Lust der Geliebten zu erhöhen. Und? Sechzehn Kinder gebar die Kaiserin! Sechzehn!“

Wir hatten viel Lust beim Liebesspiel. Als die Methode des Kaisers Franz auch versagte, kauften wir das Standardwerk für die Liebe: das Kamasutra! Wir hatten wirklich viel Lust am Liebesspiel und vergnügten uns am Liebsten im frischen Heu. Meine Adelheid nach einer herrlichen „Heu-Nacht“: „Warum sollen nicht andere Liebespaare diese Freude im Heu auch genießen können?! Wir bieten im Sommer ein ‚Heu-Hotel‘ an!“

Viele junge Leute vergnügten sich im Heu, bestimmt ist so mancher Nachwuchs in unserem Heulager gezeugt worden. Nur uns blieb der Kinderwunsch versagt. Wie oft habe ich nun meiner Adelheid vorgeschlagen, ein Kind zu adoptieren. Ihre Antwort war immer: „Nein, ich will ein Kind von dir! Irgendwann klappt das schon! Glaub es mir!“ Und dann küsste sie mich und versprach mir eine heiße Kamasutra-Nacht!

Die Jahre vergingen und eines Tages erschien meine Adelheid mit fröhlichem Gesicht zum Frühstück: „Max, du wirst Vater!“ Wir jubelten und erlaubten uns, einen ganzen Tag nicht zu arbeiten. Wir bummelten durch die Geschäfte der Stadt und begutachteten Babyausstattungen, Kinderwagen, Kinderbettchen, Kinderfahrräder, Schulranzen …

Mit Hochstimmung fuhr Adelheid zum Arzt. Als sie aus dem Arztzimmer kam, weinte sie. „Ich werde nie mehr Kinder bekommen können! Nie mehr! Ich bin eine alte Frau! Menopause! Max, ich bin bereits in den Wechseljahren! Und das mit 36 Jahren!“

Das Gesicht meiner Adelheid werde ich nie vergessen. Für sie brach eine Welt zusammen und ich konnte nicht helfen. Alle Worte prallten bei ihr ab. Sie veränderte sich innerhalb weniger Wochen. Meine Adelheid, die immer eine ungeheure Energie ausstrahlte, war nicht nur lustlos, sie wurde zunehmend depressiv. Noch schaffte ich es, sie einem Arzt vorzustellen. Seine Diagnose war niederschmetternd. Adelheid hörte zwar dem Arzt zu, doch verstand sie nicht mehr, was er sprach. Meine Adelheid lebte bereits in ihrer eigenen Welt. Bald erkannte sie mich auch nicht mehr. Ein Sanatorium, und das nächste und noch eins – doch keiner dieser Spezialisten konnte helfen. Kurz vor ihrem 40. Geburtstag starb meine Studentin, meine Adelheid.

Es war eine herrliche Zeit mit meiner Adelheid. Was sollte ich ohne sie anfangen?

Ich verkaufte meinen Reiterhof, meine Felder, Wiesen und den Wald. Nach 300 Jahren gab es den Bauernhof „Bauer“ nicht mehr! Die Familienbibel übergab ich dem Kreismuseum als Geschenk. Es wird zukünftig keinen Maximilian Bauer geben!

Ich zog weit weg. Nie habe ich eine Frau mehr angeschaut. Es wäre mir nämlich vorgekommen, ich würde meine Adelheid betrügen. Für das Rentnerleben war ich zu jung. Also gründete ich eine Firma. Ich beriet Landwirte in ökonomischen Fragen; ich machte das, was mir Adelheid beigebracht hatte.

 

„So Männer – das wollte ich mir von der Seele reden!“ Max Bauer holte eine Flasche hervor. „Das ist ein dreifach gebrannter Korn! Eine Erfindung meiner Adelheid! Männer gebt mir die Ehre, mit mir auf meine große Liebe zu trinken! Ich bitte euch nur, nehmt kleine Schlücke – dreifach gebrannt!“ Sechs Gläser brachten die Praktikantinnen auf einem Tablett.

„Nehmt bitte nur kleine Schlücke, Männer!“ Max schaute seine Freunde an, als wollte er sich vergewissern, dass alle seine Warnung verstanden haben. „Auf meine Adelheid! Auf meine große Liebe!“

„Auf deine Adelheid! Auf die Liebe!“ Die Männer stürzten den Korn in kleinen Schlückchen hinunter. Husten, tränende Augen, nach Luft schnappend – so traf Frau Doktor ihre Schützlinge an.

„Na? Versaufen die Herren schon wieder ihren Verstand?!“, frotzelte sie.

„Wir trinken auf meine Frau und auf die Liebe, Frau Doktor!“

„Na dann möchte ich ein großes Glas haben!“ Und Max Bauer goss mit seinen alten zittrigen Händen ein Glas wie gewünscht voll – voll bis zum Rand.

„Selbstgebrannter, Frau Doktor! Meine Adelheid hat diesen dreifach gebrannten Korn erfunden! Dreifach gebrannt, Frau Doktor! Nur in kleinen Schlücken …“

„Herr Bauer, ein Korn muss gekippt werden!“

Und ehe Max und die anderen etwas sagen konnten, sprach Frau Doktor: „Auf die Liebe und auf Ihre Adelheid!“ Und sie kippte wahrhaftig das volle Glas in ihre Kehle. Alle Männer starrten zu Frau Doktor. Doch die sagte nur: „Ein sehr gutes Wässerchen! Sehr gut! Und jetzt Mädchens, bringt die Herren auf ihre Zimmer!“

Sie kehrte den Männern den Rücken zu, holte mehrfach tief Luft, wischte sich die Tränen aus den Augen, und als die beiden Praktikanten zurückkamen, flüsterte sie mit krächzender Stimme: „Dieser Schnaps ist tabu für euch! Habt ihr das verstanden!“

Und mit weichen Knien stolzierte Frau Doktor auf ihren Hochhackigen ins Arztzimmer.

 

Hier  die nächste Geschichte: Der Versager!