Amouröses (Geschichten über die Liebe)

Der Blaustrumpf

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von Joachim Größer (2017)

 

 

„Franz!“, rief einer der alten Männer am nächsten Vormittag. Und Franz, der gerade die Blumen im Wintergarten inspizierte, fragte: „Was ist, Albert?“

„Nur wir beide haben noch keine Geschichte erzählt. Willst du oder soll ich?“

„Mach mal, Albert! Ich bin noch nicht mit mir selbst einig. Ich denk noch über meine Geschichte nach.“

Und so begann Albert, die Geschichte seiner Ehe zu erzählen:

 

Verlobt war ich bereits im Alter von sechs Jahren. Meine Verlobte war ebenfalls sechs und ebenfalls Schülerin der 1. Klasse. Ich saß immer neben Natalie, und wenn sich ein Mitschüler auf meinen Platz setzen wollte, um mit der schönen Natalie anzubandeln, verteidigte sie meinen Platz mit Worten und Kratzeinlagen.

Am ersten Schultag durften wir uns nämlich die Plätze aussuchen. Der Platz neben mir war noch frei und die hübsche dunkelhaarige Natalie mit den langen Zöpfen fragte doch, ob sie bei mir sitzen dürfte. Ich fühlte mich furchtbar geehrt und erwiderte: „Würdest du mich denn auch heiraten?“

Natalie prüfte mich und ihre Antwort hatte Gewicht: „Ja! Und ab jetzt sind wir verlobt! Als mein Verlobter darfst du mich küssen!“

Sie schloss die Augen und hielt mir ihren gespitzten Mund entgegen. Und ich küsste! Und die Klasse johlte! Und die Lehrerin sorgte für Ruhe und gratulierte uns beiden schmunzelnd zur Verlobung. Die schlimmen Reden unserer Mitschüler verstummten schnell. Es stand ja fest, Natalie und Albert sind Verlobte!

In der 5. Klasse verließ mich Natalie. Sie musste auf eine katholische Mädchenschule und zu dieser Schule gehörte ein Internat. Zwar vermisste ich Natalie, aber in diesem Alter nimmt man die Trennung von seiner Verlobten noch leicht. Aber in den Ferien war Natalie immer zu Hause und wir beide waren dann unzertrennlich. Natalie war ein verdammt kluges Mädchen. Was sie alles lernte, was sie bereits wusste – ich staunte oft über meine kluge Verlobte.

Auch als wir älter waren und die Probleme der Pubertät zu bewältigen hatten, blieben wir verlobt. Zwar durfte ich sie nicht küssen, denn das geziemte sich nicht für ein 15-jähriges Mädchen, das auf eine katholische Mädchenschule geht. Ich selbst nahm das nicht so ernst, und wenn Natalie abwesend war, machte ich meine „Erfahrungen“ mit anderen Hübschen. Und wenn ich nun den Eindruck hatte, dass eines dieser hübschen Mädchen es ernster meinte, dann verwies ich immer tiefernst auf meine Verlobte, die viele Kilometer weit entfernt die Treue zu ihrem Albert hielt. Und dieser Albert erwartete, dass das hübsche Ding an seiner Seite, mit der er gerade rumgeknutscht hatte, dies akzeptierte. „Du würdest doch auch nicht den Verlobten vergessen, wenn du verlobt wärst!“

Das Argument zog – fast immer.

Da in unserer Kleinstadt jeder jeden kannte, hatte ich öfters Sorge, dass mein „Fremdgehen“ der Natalie zu Ohren kommen könnte. Erfahren habe ich das nie!

Meine Natalie mochte mich wirklich! Als wir beide das Abitur in der Tasche hatten – ich verrate jetzt nicht, welche Zensuren in meinem Dokument standen – beratschlagten wir, wie es mit uns weitergehen sollte. Heiraten kam für sie erst mit der Volljährigkeit infrage, und die lag damals bei 21 Lebensjahren. Auf ihrem Abi-Zeugnis prangten nur Einser – also sollte Natalie doch eigentlich studieren. Doch das wollte sie nicht. Ihr Traum war es, Bibliothekarin zu werden. Und diesen Traum setzte sie auch gegen den Willen ihrer Eltern durch.

Meine Person genoss bei ihren Eltern kein hohes Ansehen. War ich doch als ein Hallodri verschrien und für ein anständiges katholisches Mädchen kein Mann fürs Leben. Noch dazu, da ich bei meinen Eltern durchsetzen konnte, eine Kunstakademie zu besuchen. Ich wollte Maler, Kunstmaler werden. Mein liebenswürdiger und leicht verrückter Zeichenlehrer hat mir diesen „Floh ins Ohr“ gesetzt. Er hielt viel von meinem Talent – bedeutend mehr als mein Vater. Der hatte nämlich eine kleine aber gewinnbringende Maschinenfabrik geerbt und wollte, dass ich der zukünftige Chef sein sollte. Ein Kompromiss wurde geschlossen: Sollte es meinem Vater gesundheitlich schlecht gehen, werde ich Pinsel und Farbe weglegen und Chef werden!

Und meine Verlobte? Natalie hielt zu mir. „Ich heirate Albert oder gar nicht!“ Das hatte sie ihren Eltern unmissverständlich zu verstehen gegeben. Und ich schaute jetzt auch keine fremde Frau mehr an. Und eigentlich ist das nun eine große Lüge, denn an der Kunstakademie stand Anatomie auf dem Lehrprogramm und Anatomie hieß: nackte Menschen zeichnen. Ich fühlte mich immer den weiblichen nackten Modellen zugetan. Ich studierte die weiblichen Rundungen, wusste, wo welche Muskeln verliefen oder wo nur weibliches Fett zu finden ist. Scham und Brust mussten im Einklang gezeichnet werden, und wenn der Herr Professor über meine Schulter meine Zeichnungen betrachtete, lobte er mich. „Albert, Sie werden einmal ein guter Akt-Zeichner. Aber bitte, malen Sie nur das weibliche Geschlecht!“

Ja, die weiblichen Rundungen hatten es mir angetan. Und da meine Natalie auch solche aufwies, wollte ich sie mit meinen Händen erkunden. „Albert! Erst wenn wir verheiratet sind!“

Damals schwor ich mir, sollten wir Mädchen als Kinder haben, nie werde ich sie auf eine katholische Mädchenschule schicken. Nie!

Meine kluge Natalie legte ihre Prüfung als Bibliothekarin ab. Und sie kam mir noch klüger als zu unserer Schulzeit vor. Natalie wusste einfach alles. So nebenbei beherrschte sie fünf Sprachen in Wort und Schrift und lernte jetzt – auch so nebenbei die sechste.

Dann musste ich meinem Vater gegenüber mein gegebenes Versprechen halten. Ich verließ ohne Abschluss die Kunstakademie und eilte nach Hause. Mein Vater lag mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus und die Ärzte verlangten: keine Aufregung.

So musste ich von heute auf morgen die Leitung eines mittelständischen Betriebes übernehmen. Hilfe hatte ich in den langjährigen Mitarbeitern, und wenn ich meinen Vater am Krankenbett besuchte und seine fragenden Augen sah, so konnte ich antworten: „Es läuft, Vater!“ Bekam er dann die Bestätigung durch einen Mitarbeiter, dann sagte er immer: „Gut so! Jetzt will ich gesund werden und mich aufs Altenteil zurückziehen.“

Für mich hieß das: ade Malerei, ade weibliche Rundungen, ade die Karriere eines begnadeten Künstlers. Das Letzte war nicht ernst gemeint, Freunde. Ich war nie so vermessen, meine Kunst als so herausragend zu bezeichnen. Malen war für mich Freude. Und weibliche Runden hatte ja auch meine Natalie – auch wenn ich sie noch nie gesehen oder erfühlt habe. Jeder meiner Vorstöße in Richtung „Erkundung der weiblichen Figur“ endete im Fiasko. Entweder hieß es: „Warte bis zur Hochzeitsnacht!“ oder „So etwas ist unschicklich!“

Ich hasse katholische Mädchenschulen!

Und ich suchte eine „Strafe“ für Natalie. In einem Artikel fand ich Karikaturen über die sogenannten „Blaustrümpfe“.

„Natalie, schau! Das bist ja du!“ Und Natalie: „Albert, sei nicht albern! Blaustrümpfe ist ein Spott- oder Scherzname für geistig hochstehende Frauen im alten England, die ihre Meinungen über Literatur und Politik austauschten. Ich bin doch nicht geistig hochstehend?!“

Wenn Natalie sich so ereiferte, war sie noch hübscher anzusehen. „Bist du doch!“, rief ich, umarmte sie und „raubte“ ihr einen Kuss. „Du bist mein hübscher Blaustrumpf! Klügere und schönere Frauen gibt es doch gar nicht – mein kleiner Blaustrumpf.“

Natalie akzeptierte „Blaustrumpf“ und ich benutzte ihn als Kosenamen.

Der 21.Geburtstag meiner Natalie wurde unser Hochzeitstag. Ich fieberte der Hochzeitsnacht entgegen, wollte ich doch alle Rundungen meiner Natalie mit meinen Augen und meinen Fingern erobern. Wie enttäuscht war ich! Das Licht durfte nicht angemacht werden, ihr Nachthemd blieb bis zum Hals verschlossen, und mich zu ihrer Scham vorzuarbeiten, war härteste Arbeit. Zwar vollzogen wir unsere Ehe – Natalie hauchte sogar: „Es war schön, Albert!“ – doch dieser Sex hatte doch nichts mit Liebeslust, mit wilder Erotik zu tun.

Vorsichtig wollte ich Natalies Meinung zum ehelichen Liebesspiel verändern. Ich muss gestehen, ich lief vor eine Mauer. Diese „Mauer“ bestand aus der Bibel-Behauptung „Und Gott segnete die Menschen und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde …!“

Von Lust und Leidenschaft hatte Gott in der Schöpfungsgeschichte nichts gesagt! Ich hasse katholische Mädchenschulen!

Mauern sind dazu da, dass sie abgerissen werden. Und daran arbeitete ich.

Meinem Vater ging es bedeutend besser und so wagte ich einen Vorstoß. „Vater“, sprach ich, „mein Studium habe ich für dich aufgegeben. Die Fabrik läuft gut. Es gibt keine Probleme. Ich habe gespart und möchte mit Natalie unsere Hochzeitsreise nachholen. Für mich ist es eine Bildungsreise, indem ich alle berühmten Museen und Galerien in Europa besuche. Und Natalie lernt so andere Kulturen, Land und Leute kennen.“

Meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als „Ja!“ zu sagen. Und er sprach noch den Satz, den ich erhofft hatte: „Die Hochzeitsreise bezahlen deine Eltern! Wir geben euch ein halbes Jahr!“

Mannomann war mein Vater großzügig. Ich muss ihm wohl mit meiner Arbeit und meinem Engagement für seine Fabrik imponiert haben.

Mein „Blaustrumpf“ hüpfte und sang vor Freude. „Paris, Mailand, Rom, Madrid …“ Ich bekam sogar viele Küsse außer der Reihe. Und so ergänzte ich ihre Reiseroute: „Und Dresden, Leningrad, Moskau – weiter nach Istanbul und auf den Olymp!“

Der Sex in dieser Nacht hatte schon ein gewisses Etwas – aber nur andeutungsweise. Ich wollte Natalies Rundungen erobern, keine hoch schließenden Nachthemden, keine Dunkelheit im Schlafzimmer. Und die Museen sollten mir dabei helfen.

Was haben wir auf unserer Reise nicht alles gesehen. So viele nackte Menschen hatte Natalie garantiert nicht auf dieser katholischen Mädchenschule gesehen. Hatte sie überhaupt einen nackten Mann vor unserer Hochzeitsnacht gesehen?! Bestimmt nicht – ich war zwar in der Hochzeitsnacht nackt, aber das Zimmer war stockdunkel! Ich hasse …

Der absolute Höhepunkt unserer Reise war Pompeji, die untergegangene römische Stadt am Fuße des Vesuvs. Ich war begeistert, Natalie schaute nur flüchtig auf die erotischen Wandbilder, auf die Menschen, die sich im Sex im Bild verewigt hatten.

„Das ist ja fast wie Pornografie“, hauchte Natalie verschämt. Und ich: „Aber nur fast! Das ist antike Kunst! Das ist das Loblied auf die Liebe!“ Und ich gab mir große Mühe, Natalie für diese Kunstdarstellungen zu begeistern. Da ich wusste, dass meine überaus kluge Frau ein fotografisches Gedächtnis besitzt, war ich mir sicher, diese Bilder bleiben in ihrem Gedächtnis – für immer!

Der Abend, die Nacht im Hotel – meine Natalie schien zu explodieren. Ein schwerer süffiger Rotwein half, all ihre Verklemmungen wegzuspülen. Es gab keine katholische Mädchenschule mehr, es gab nur zwei nackte Menschen, die bei hellstem Licht der Liebe frönten. Ich durfte ihre Rundungen streicheln und liebkosen, ich durfte all das, was ich noch nie durfte. Und Natalie: „Jetzt machen wir das so, wie auf dem dritten Bild!“ Das flüsterte mir Natalie ins Ohr und … Es war unsere echte, richtige, tollste Hochzeitsnacht!

 

„So Freunde“, sprach Albert. „Meine Natalie gebar drei wunderhübsche Mädchen und keines dieser Mädchen hat jemals eine katholische Mädchenschule gesehen. Meine drei Schwiegersöhne dankten es mir mit vielen Enkeln!“

 

„Das war eine schöne Liebesgeschichte.“ Der Doktor, der dies sprach, schaute zu Franz. „Und morgen bist du dran, Franz. Was wirst du erzählen?“

Und Franz machte ein ernstes Gesicht. „Freunde, na ja …. mal sehen, was mir einfällt! Bis morgen!“

Und Franz enteilte.

 

Die sechste Geschichte - sie heißt "Frau Be(ä)cker" - lesen Sie hier!