Geschichten für Erwachsene: Von Liebe und Schmerz

Der Albtraum

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von Joachim Größer (2013)

 

„Nein! Nein! Um Gottes willen, nein!“ Andreas Müller sitzt kerzengerade im Bett. Seine Frau Franziska schreckt hoch: „Was ist? Was ist? Brennt es?“

„Schlimmer, wir haben geerbt! 10 Millionen! 10.000 mal 1.000 Euro! Ist das nicht furchtbar, Franzi?“

Ganz bleich ist der Andreas. Verstört schaut er zu seiner Frau, die in der Zwischenzeit das Nachtlicht eingeschaltet hatte.

„Warum schlimm?“, fragt sie. „Wenn wir 10 Millionen hätten, dann könnten wir …“

„Gar nichts könnten wir, Franzi! Wir wären Gefangene des Geldes! Furchtbar wäre das, Franzi, wirklich furchtbar!“

„Ich fände das …“

„Doch nicht etwa gut?! Franzi, ich hatte einen fürchterlichen Traum. Mir klopft jetzt noch das Herz bis zum Hals. 10 Millionen …“ Hier machte Andreas zwischen zwei tiefen Seufzern eine große Pause. „… nie und nimmer will ich so reich sein!“

„Aber Andreas, wir könnten uns so viele Wünsche …“

„Wünsche? Nein, Franzi, ich habe es im Traum erlebt. Ich musste einen schwarzen Anzug tragen – mit Fliege! Überall standen Kameras, Blitzlichter vorn, hinten! Egal, wohin man sich wendete, Blitzlichter! Du hast ein langes, elegantes Abendkleid getragen - mit ganz tiefem Dekolleté. Alle Männer guckten dir in den Ausschnitt …“

„Na und? Meinen Busen kann ich überall zeigen!“

„Kannst du, mein Schatz!“ Andreas beugte sich zu seiner Franzi, schob das Nachthemdchen hoch, um die Brüste seiner Frau zu liebkosen – und bekam einen Tatsch auf die Hände.

„Jetzt nicht! Sag mir lieber, ob ich gut aussah?“

„Fantastisch, Franzi! Und das meinten auch die versammelten Männer. Die scharwenzelten nur noch um dich herum. Ihre Frauen schauten schon ganz wütend.“

„So!“ Franzi lächelte amüsiert und streckte ihren Busen vor. „Sah ich sooo aus?!“

„Ja, ja doch! Und dann kam die Vorstellung. Grauenhaft! Der Herr Botschafter, die Frau Konsul, die Herren von und zu, der Herr Staatssekretär … ich habe Titel gehört, die ich noch gar nicht kannte. Und dann wurden wir vorgestellt. ‚Herr Müller und Frau!‘ – mehr nicht. Kein Konsul, kein Botschafter, kein Freiherr und keine Freifrau! Du hättest die Blicke sehen müssen, wie man uns jetzt musterte. ‚Herr Müller und Frau‘ – das waren wir!“

„Wirklich Herr Müller und Frau …? Nicht Frau und Herr Müller?!“

„Nein Franzi, in diesen Kreisen gilt die Frau nichts! Die Frauen waren immer nur ‚UND!‘“

„Das ist aber nicht schön! Wo bleibt da die Gleichberechtigung?!“, maulte Franzi. Sie schmiegte sich an ihren Andreas. „Aber bei dir bin ich nicht nur ‚UND‘?“

„Ach, Franzi, das weißt du doch. Zuerst kommst du, dann kommst du und dann kommt unser Max.“

„Und dann kommst du!“, strahlte Franzi und küsste ihren Andreas.

„Ja, dann komme ich. Bei diesen Leuten waren wir ohne Titel nichts wert. Selbst unsere 10 Millionen schienen ihnen uninteressant. Die meisten Gäste mieden uns jetzt. Nur einer suchte das Gespräch mit uns, das heißt, er sprach und sprach und sprach … und wir mussten uns geduldig sein Gesülze anhören. Zum Glück kam dann seine Frau und mischte sich in sein Gespräch ein. Und jetzt redete sie … ununterbrochen und nur von ihren drei Kindern. Der Jüngste geht auf eine Privatschule, der Mittlere ist im Ausland im Internat, um die englische Sprache perfekt zu erlernen, und der Älteste studiert bereits auf einer Elite-Universität in den USA. Und sie sind ja so froh, dass ihren Kindern alle Wege offenstehen. Sie planen schon für ihre Zukunft: diplomatischer Dienst, Generalstab, Aufsichtsratsvorsitzender, Minister.“

„Dann kümmern sie sich doch um ihre Kinder“, meinte Franzi.

„Kümmern? Zweimal im Jahr sehen sie ihre Kinder: Weihnachten und 14 Tage gemeinsamer Urlaub im eigenen Ferienhaus in der Karibik! Das nennst du kümmern, Franzi?!“

Franziska schaute ihren Andreas an. „Also wenn ich bedenke, dass wir unser Mäxchen nur zweimal im Jahr …“

„Siehste, Franzi, das habe ich auch diesen ‚Kinderabschiebern‘ gesagt. Nie geben wir unseren Max in fremde Hände – nicht unseren Max!“

„Das war gut gesagt, mein Andi!“ Franziska war ganz gerührt. Und Andreas wollte wohl diese Situation ausnutzen und startete einen erneuten Versuch: „Max bleibt bei uns – aber eigentlich ist er dann als Kind immer alleine … wir könnten ja …“

„Jetzt können wir nicht, Andi! Wie ging denn dein Traum weiter?“ Franziska tatschte auf Andreas suchende Hände.

„Ach, der war dann gleich zu Ende. Die beiden schauten mich an - als sei ich ein Schwerverbrecher. Und dann sagte die Frau zu mir: ‚Man sollte Ihnen Ihr Kind wegnehmen, Sie Rabenvater. Besitzen Millionen und lassen Ihr Kind verkümmern! Sie Prolet! Prekariat“!!! 

„Was??? Das hat die Frau gesagt? Und hast du geantwortet?“

„Darauf kannst du dich verlassen! Ich habe sie angebrüllt!“

„Was hast du gebrüllt?“

„Das weiß ich nicht mehr. Ich bin doch von meinem eigenen Brüllen aufgewacht.“

Andreas kuschelte sich an seine Franziska. „Sag mal, warum träume ich solchen Mist? Eine Erbschaft von 10 Millionen!?“

„Aber Andi, heut kam doch das Schreiben vom Notar. Tante Josephine, meine Erbtante, hat uns 10.000 € hinterlassen.“

„Stimmt ja!!!“ Andreas schlug sich an die Stirn. „Das könnte eine prima Anzahlung fürs neue Auto werden!“

„Andreas!“, sagte Franziska sehr energisch. „Ich habe doch vorgelesen, dass Tantchen dafür von uns Grabpflege verlangt. Jede Woche - und das 10 Jahre lang - muss ich einen Blumenstrauß auf ihr Grab stellen. So lautet das Testament!“

„Dann pflücken wir ein paar Gänseblümchen …“

„Nichts da! Tantchen hat bestimmt, dass wir diesen Blumenstrauß bei ihrem Gärtner, dem ‚Blumen-Fischer‘ kaufen müssen. Und ich habe mal nachgerechnet, was von dieser großen Erbschaft vom lieben Erbtantchen übrig bleibt: Jede Woche haben wir ein Erbschaftsbudget von 19,23 € zur Verfügung! Und der Fischer hat dem Tantchen versprochen, dass der Strauß mindesten 10 € kosten soll. Das ist unsere Erbschaft!“

„Und ich Esel träume von Millionen!“

„Und ich dachte, meine Tante mag mich wirklich. Aber - sie erkaufte sich nur eine billige Grabpflege. Ihren Kater liebte sie mehr als die Menschen. Für ihn hat sie dem Tierheim 50.000 € zugedacht. Und ihre Beerdigung kostet 10.000 € - alles festgelegt im Testament.“

„Ach Franzi, lass dein Tantchen im Grab ruhen. Ich habe dich und unser Mäxchen – da verzichte ich gerne auf Millionen.“

„Andi, das hast du aber schön gesagt. Was meinst du, ob unser Mäxchen nicht auch ein Schwesterchen lieb haben könnte?“

Und Andi und seine Franzi …