Geschichten für Erwachsene: Von Liebe und Schmerz

Das Regenbogenland 

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von Joachim Größer (2013)

 

Gute Kindheitserinnerungen sind etwas Herrliches. Sie vermitteln die Zuwendung der geliebten und vertrauten Personen. Und sie ermöglichen es oftmals, auch im Alter noch wie ein Kind zu denken.

Und diese Eigenschaft, sich wieder in ein Kind zu „verwandeln“, beherrschte auch Andy Schulze. Sieht Andy – er ist ein Mann in den sogenannten besten Jahren - einen Regenbogen, so brechen sofort die Kindheitserinnerungen über ihn herein. Er sieht sich als kleinen Jungen, der neben seiner Oma auf der Couch sitzt und ihren Erzählungen lauscht. Es waren immer Erzählungen über ein Land hinter dem Regenbogen. Und immer fing die Großmutter so an: „Andy, wenn du einen Regenbogen erblickst, so sei nicht furchtsam. Geh zu dem einen Ende des Bogens und dort gehst du mutig weiter, gehst immer höher hinauf. Und wenn du ganz oben bist, so kannst du das andere Ende des Regenbogens sehen. Das können zwar auch die Menschen, die nicht auf einem Regenbogen stehen. Du aber kannst jetzt in das Land hinter den Regenbogen sehen, du siehst die Menschen und du bestimmst die Zeit, in die du schauen willst.“

Und Andy wünschte sich dann die Zukunft oder die Vergangenheit und die Großmutter „zauberte“ einen Regenbogen, nahm ihren kleinen Enkel an die Hand und beide „erkletterten“ den Regenbogen. Und die Großmutter zeigte auf ein Haus im Land hinter dem Regenbogen und erzählte von Liebe und Leid, von Freude und Trauer. Wobei Leid und Trauer selten vorkamen, denn die Menschen im Land hinter dem Regenbogen lebten in Glück und Harmonie.

Und Klein-Andy wurde größer und die Großmutter sagte zu ihm: „Geh, Andy, geh! Du bist groß genug, um ohne meine Hilfe ins Land des Regenbogens zu schauen. Geh nur und habe keine Furcht!“

So sprach die Großmutter und Andy erkletterte den Regenbogen und schaute ins Land hinter dem Regenbogen. Und erblickte den Bauern Jonas, wie er mit seinen Kindern spielte, er sah die Kinder aufwachsen und wünschte ihnen nur das Beste. Auch in die Vergangenheit lernte er zu blicken. Und immer, wenn er zurückkehrte in die wirkliche Welt, so meinte er, dass es doch einen Weg geben müsste, um direkt ins Land hinter dem Regenbogen zu gelangen. Als das Verlangen allzu groß wurde, fragte er die Großmutter.

„Andy, möglich ist es, doch es ist Vorsicht geboten! Leicht kann es geschehen, dass du den Weg nicht zurückfindest ins wirkliche Leben.“ So sprach die Großmutter mit ernster Mine. Doch Andy war ein mutiger Junge und wagte den direkten Weg, um ins Land hinter dem Regenbogen zu gelangen. Er sagte zur Großmutter: „Oma, ich versuche es - und ich verspreche dir, ich komme zurück zu dir!“

„So geh mit Vorsicht und Vernunft, mein Andy. Ich warte hier auf dich!“

Und Andy ging direkt durch den großen bunten Regenbogen und wurde ein Kind im Land hinter dem Regenbogen. Er lebte mit den Bewohnern des Regenbogenlandes und sie lebten mit ihm, dem Menschenkind. Und immer, wenn er an seine Oma dachte, verabschiedete sich Andy von den Menschen, die im Land hinter dem Regenbogen lebten, und er kehrte zurück zur Großmutter, die ihn schon erwartete. Jetzt erzählte er ihr von den Bewohnern, die hinter dem Regenbogen wohnen. Und die Oma lauschte und ab und zu nickte sie mit dem Kopf: „Ja, ja, mein Andy, so ist es und so war es.“

An all das dachte der Andy Schulze, der Mann, der am Fenster stand und einen wunderschönen Regenbogen beobachtete. Dieser schillerte kräftig mit all seinen Farben und lud Andy Schulze ein, das Land hinter dem Regenbogen zu besuchen. Und Andy Schulze wurde zum Jungen Andy, der das Land hinter dem Regenbogen besucht. Mutig und forsch eilte er durch das große Regenbogentor und wurde von den Menschen willkommen geheißen. Und er lebte bei ihnen und mit ihnen und er war glücklich und zufrieden.

Ärgerlich war nur, dass er mitten im Spiel mit seinen Freunden aufgefordert wurde, das Land hinter dem Regenbogen zu verlassen.

„Herr Schulze! Herr Schulze!!“ Eine Frau rief ihn, aber es war nicht seine Großmutter, es war eine junge Frau im weißen Gewand. „Herr Schulze, es ist Zeit, die Tabletten zu nehmen!“

Und Andy Schulze streckte die Hand aus und die junge Frau im weißen Gewand legte eine rosafarbene Tablette in seine Hand. „Bitte sofort nehmen, es ist Zeit!“ Und die Frau reichte ihm ein Glas mit Wasser. Gehorsam, wie ein kleines Kind, nahm Andy Schulze das Wasserglas, steckte die rosa Pille in den Mund und trank das Wasser.

Zufrieden lächelte die Frau im weißen Gewand dem Andy Schulze zu und Andy lächelte zurück. Doch kaum hatte sich die Tür hinter der Frau geschlossen, spuckte Andy Schulze die Tablette in ein Taschentuch. „Ich will doch wieder ins Regenbogenland gehen!“, sagte er als Entschuldigung für sein Handeln. „Alle meine Freunde erwarten mich dort!“

Und Andy Schulze, ein Mann in den besten Jahren, wurde wieder zum jungen Andy. Und er wanderte forsch und mutig durch den großen bunten Regenbogen zu seinen Freunden, die im Land hinter dem Regenbogen lebten. Auf dem Weg zum Regenbogenland begegnete er Lara, seiner Freundin aus Kindheitstagen.

„Willst du mich begleiten, Lara?“, fragte er. Und Lara ergriff seine Hand und erwiderte: „Gehen wir gemeinsam!“ Und so schritten sie gemeinsam durchs große bunte Regenbogentor. Er verbrachte viel Zeit mit seiner Freundin Lara. Beide wurden erwachsen und aus einer Kinderfreundschaft wurde Liebe. Beide empfanden sehr viel füreinander und wollten das ganze Leben nur gemeinsam miteinander verbringen. Lara und Andy schlossen den Bund fürs Leben und erfreuten sich jeden Tag erneut an ihrer Liebe. Als im zweiten Jahr ihrer Ehe die Zwillinge Grit und Gregor geboren wurden, schmiedeten sie große Pläne für ihre Kinder. Die Zwillinge entwickelten sich prächtig und stolz trugen die Beiden die schwere Zuckertüte am ersten Schultag nach Hause. Viel zu schnell verging die Zeit, die die Eltern mit ihren Kindern verbringen konnten, denn schon schmiedete man Pläne für den künftigen Beruf. Grit wollte gern Kinder unterrichten und Gregor wollte Pilot …

„Herr Schulze, es ist Zeit für die Tablette!“ Die Frau im weißen Gewand rief und rief, aber Andy Schulze reagierte nicht. Die Tür öffnete sich und ein Mann im weißen Kittel trat ins Zimmer. „Schwester, lassen Sie! Der Patient hört Sie nicht! Wir haben ihn verloren!“

Verwundert schaute die Krankenschwester zum Arzt. Der reichte ihr einen Bogen Papier und dort las sie: „… ein LKW erfasste eine Fußgängergruppe. Fünf Menschen wurden vom LKW getötet. Unter den Toten befinden sich auch Frau Lara Schulze und die beiden 18-jährigen Kinder Grit und Gregor.“

Mit feuchten Augen schaute die Krankenschwester auf den Mann am Fenster …