Geschichten für Erwachsene: Von Ethik und Moral

Frankensteins Schöpfung

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von Joachim Größer (2015)

 

Was nützt einem die beste Ausbildung, eine große Erfahrungen im Beruf, Anerkennung für fast zu 90 % zutreffenden Gutachten, wenn eines Tages ein völlig erschöpfter, scheinbar gejagter Mann vor mir steht und mich anschreit: „Doktor, helfen Sie mir! Mein Körper löst sich auf!“

Als Psychiater habe ich schon viele Absurditäten der menschlichen Seele erlebt, davon lebe ich ja und ich konnte in vielen, leider nicht in allen Fällen, auch helfen. Aber diese Aussage war für mich und meine fast 40-jährige Berufserfahrung neu.

„Mein Körper löst sich auf!“ Noch einmal sagte dies der Mann vor mir, diesmal leise, flüstern und mit Tränen in den Augen.

Ich muss ehrlich gestehen, in diesem Moment kam ich mir hilflos vor. Dieser Mann, zwischen 25 und 30, zeigte nicht die typischen Symptome eines Psychopaten. Er schien fürchterlich unter einem gewaltigen Druck oder Zwang zu stehen, litt wohl auch Höllenqualen und schien mir am Ende seiner Kräfte zu sein. Was dann folgt, das wusste ich genau: der totale Zusammenbruch.

Dem musste ich vorbeugen. So gab ich mir einen innerlichen Ruck und sprach mit beruhigender Stimme auf ihn ein: „Wie heißen Sie, mein Herr?“

„Einst hieß ich Fritsche, Sven Fritsche! Jetzt weiß ich nicht, wer ich bin!“ Stoßartig presste dieser junge Mann unter Tränen seinen Namen heraus.

„Gut, ich werde Sie Fritsche nennen, mein Herr. Und jetzt legen Sie sich auf die berühmte Couch. Das Liegen wirkt beruhigend, Ihr innerer Krampf kann sich lösen und ich kann Ihnen besser zuhören. Sie haben doch nichts gegen eine Aufzeichnung, Herr Fritsche?“

„Nein, nein zeichnen Sie auf! Verbreiten Sie mein Schicksal! Alle sollen es wissen – die ganze Welt!“

Eu, eu – das war harter Tobak: Die ganze Welt soll sein Schicksal erfahren! Neugieriger konnte ich nicht werden, denn seine Aussage: „Mein Körper löst sich auf!“ war schon ein gewaltiger Satz.

Ich schaltete mein altertümliches Tonbandgerät ein, sicherheitshalber auch noch das moderne Video-Aufzeichnungsgerät und bat meinen nun auf der Couch liegenden Patienten: „So Herr Fritsche, die Technik läuft, jetzt erzählen Sie bitte! Ich werde Sie nicht unterbrechen – egal, wie lange Sie reden.“

Und er redete und redete. Erlebe ich es sonst, dass besonders mitteilungsbedürftige Patienten nur völlig belangloses Zeug von sich geben, sich versuchen ins rechte Licht zu setzen oder auch nur die Möglichkeit ausnutzen, dass Ihnen mal jemand zuhört, so brauchte ich jetzt nicht zu fürchten, dass ich „weghöre“. Was ich zu hören bekam, schien ins Reich der Utopie, der Fiktion oder ins Reich des Horrors zu gehören – aber nicht in die Praxis eines alternden Psychiaters.

Schienen meine Patienten auf der berühmten Couch sich stets zu beruhigen, so wühlte der Bericht den Herrn Fritsche fast noch mehr auf. Also entschloss ich mich, ihn erstmal „ruhig“ zu stellen, damit er auch eine innere Ruhe erwerben konnte. Die kleine Hypnose ließ ihn einschlafen. Ich schlich mich aus dem Behandlungszimmer und fragte meine Frau, die als Arzthelferin bei mir arbeitete. „Sonja, wie viele Patienten haben wir heute noch?“

„Noch drei, Alex. Was ist mit dir los, du siehst ganz blass aus!?“

„Mach bitte für diese drei Patienten einen neuen Termin. Ich bin ab jetzt nicht mehr zu sprechen – ein Notfall, sehr ernst und sehr kompliziert. Ach ja, es kann sein, dass dieser Herr Fritsche heute Nacht in unserem Gästebett schlafen wird.“

Meine Frau schaute mich mit riesengroßen Augen an. Das Gästebett war bisher immer nur ein Gästebett. Ich selbst habe verfügt: Es gibt keine Vermischung von Beruflichem und Privatem!

Nun – dieser Fall ist ein Ausnahmefall und der verlangt nach Ausnahmen. Dann schickte ich meinem alten Studienfreund, dem Oskar Niem, die digitalisierte Aufnahme per E-Mail. Kaum dass ich auf „Senden“ geklickt hatte, griff ich auch schon zum Telefonhörer und wählte den Oskar an. Schon wollte ich auflegen, doch dann hörte ich Oskars Stimme. Anstatt einer Begrüßung hörte ich nur: „Alex, weißt Du, wie spät es ist? Weißt Du, dass ich heute meinen Hochzeitstag feiere? Weißt Du, dass Du mich …“

Das „…gerne haben kannst!“ schenkte ich ihm und bemerkte nur: „Schau Dir das Video an, das ich die geschickt habe und dann weißt Du, dass ich Deine Hilfe brauche.“

Schnell legte ich auf; Oskars Kommentare wollte ich mir nicht anhören. Ich schaute noch zu meinem Patienten. Er schlief unruhig, aber er schlief. In unregelmäßigen Abständen zuckten seine Beine, dann fuchtelte er wild um sich, setzte sich sogar einmal hin, um sofort wieder umzufallen und weiter zu schlafen.

Ich setzte mich, stellte das Tonbandgerät an. In diesem Moment betrat meine Frau das Zimmer, um mir mitzuteilen, dass niemand mehr im Warteraum wäre. Ich nickte nur und bat sie: „Setzt Dich bitte und hör nur zu.“

Diese Bitte erschien meine Frau sehr ungewöhnlich, denn sonst war ihr Reich nur das Vorzimmer; mein Behandlungszimmer war auch für sie tabu. „Ich soll …?“

„Ja, ja“, erwiderte ich schnell, „ich brauche einen unvoreingenommenen Zuhörer.“

Meine Sonja hörte zu. Nach fünfzehn Minuten weiteten sich ihre Augen und sie stöhnte leise: „Ja, gibt es denn so etwas wirklich?“

„Es kommt noch schlimmer!“, bemerkte ich und schaute zu meiner Sonja. Sie war kreidebleich und schaute mit großen Augen auf den schlafenden Patienten.

Keine drei Minuten später klingelte das Telefon. Oskar war dran und ohne Umschweife sagte er: „Kommt beide zu mir, ich habe alles veranlasst. Kannst Du Sonja mitbringen, dann können die Frauen etwas klönen und Monika ist am Hochzeitstag nicht allein.“

So, liebe Leser, jetzt habe ich genug drumherumgeredet, jetzt fasse ich die Geschichte meines ungewöhnlichen Patienten für Sie zusammen:

Herr Fritsche war ein begeisterter Motorradfahrer. Jede freie Minute verbrachte er mit seiner Maschine und so manche Liebesbeziehung ging wegen der Liebschaft zu seinem Motorrad in die Brüche. Aber seine letzte Tour wurde ihm zum Verhängnis. Ein Autofahrer missachtete die rote Ampel und Herr Fritsche stürzte in den Tod. Dieses Auto, das wie ein Blitz aus dem Nichts vor ihm auftauchte, war die letzte Erinnerung des Herrn Fritsche. Der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen.

Aber der Fritsche war nicht tot, denn er erwachte in einem Krankenhausbett. Sein Gedächtnis funktionierte, nur sein Körper nicht. Als er sich versuchte aufzurichten, sauste eine Schwester in das Zimmer. „Liegen bleiben! Nicht bewegen!“ Fast schrie sie diese Sätze vor Aufregung heraus. „Der Arzt kommt sofort.“

Und dann kam auch schon der Arzt und hinter ihm zwei weitere. „Herr Fritsche, sehen Sie mich? Hören Sie mich? Sagen Sie etwas!“ Und der Herr Fritsche muss die Ärzte geschockt haben, indem er ihnen klar und verständlich geantwortet hat.

Die Ärzte tuschelten aufgeregt, schauten ständig auf ihren Patienten und schickten dann die Schwester raus. Keine zwei Minuten später sauste ein älterer Mann ins Zimmer, schaute zum Patienten und fuhr die drei Ärzte an: „Meldung?!“

„Er ist wach, ansprechbar, bei vollem Bewusstsein, Herr Professor!“, erwiderte kreidebleich der Älteste der Ärzte.

„Bei vollem Verstand?!“

Der Arzt nickte nur. Der Professor zog einen Stuhl ans Krankenbett, setzte sich und betrachtete den Patienten. „Sie wissen, was geschehen ist?“, fragte er.

„Ja, ich hatte einen Unfall.“

„Ja, das hatten Sie, mein Herr. Wie ist Ihr Name?“

„Fritsche, Sven Fritsche.“

Und jetzt kam das Erstaunlichste für den Patienten Fritsche. Der Herr Professor fauchte die anwesenden Ärzte an: „Legen Sie eine Krankenakte an – eine aktuelle. In einer Stunde kommt der Patient zu mir – Untersuchung. Sie alle nehmen daran teil.“

Und so, wie er gekommen war, rauschte der Herr Professor aus dem Krankenzimmer. Und die Herren Ärzte hinterher. Zurück blieben der Herr Fritsche und die Krankenschwester.

„Schwester?“, fragte der Herr Fritsche, „Sehen bei Ihnen alle Krankenzimmer so aus?“

„Nein, nein!“, erwiderte die Schwester, „Das ist ein Not-Zimmer.“

„Wohl eher ein Abstellraum für die Toten“, meinte der Herr Fritsche.

„Nein, nein!“ Die Schwester erstarrte und schwieg dann mit bleichem Gesicht.

„Ist das normal, dass ich meinen Körper nicht fühle?“, fragte der Patient Fritsche. Und die Schwester wich der Antwort aus: „Das fragen Sie bitte den Herrn Professor!“

„Was ist das für ein Professor?“

„Ein Chirurg.“

„Hat der mich wieder zusammengeflickt?“

Jetzt zuckte die Schwester zusammen. „Er hat Sie operiert.“ Das bleiche Gesicht der Schwester rötete sich zusehends.

„Schwester …“ Diese Frage konnte der Herr Fritsche nicht mehr stellen, denn zwei Pfleger kamen und legten ihn auf ein Rollbett. Sie gingen dabei so behutsam vor, dass man meinen könnte, sie hätten Angst, den Patienten zu zerbrechen. Aus dem Keller ging’s ins Licht. Eine Untersuchung folgte jetzt der nächsten: Rötgen-Abteilung, Labor, Ultraschall, Seh-Test, Gehör-Test, Geschmack-Test, und, und, und …

Nach Aussage des Herrn Fritsche staunte er nur, wie viele spezielle Untersuchungen innerhalb eines Krankenhauses und innerhalb einer Stunde angestellt werden konnten.

Die Pfleger schoben den völlig erschöpften Patienten ins „Allerheiligste“ – das Professoren-Zimmer. Doch kein Arzt und keine Schwester waren anwesend. Der Patient Fritsche schlief kurz ein. Als er erwachte, vernahm er mehrere Stimmen. Sie sprachen zwar leise, aber für den Patienten Fritsche doch verständlich. Es war ein eigenartiges Gespräch, sprach man doch über zwei Tote, aus denen man einen „Lebenden“ machen wollte. Beide Männer waren klinisch tot, der eine hatte einen Motorradunfall mit mehrfachem Bruch der Wirbelsäule. Der andere Tote hatte einen intakten Körper, dafür war der Kopf zertrümmert. In einer Operation, die zwei Tage dauerte, erhielt der Mann mit dem intakten Kopf den Körper des anderen Mannes.

Dieses konzentrierte Zuhören strengte den Herrn Fritsche sehr an; er fiel erneut in einen Schlaf, aus dem ihn die Stimme des Herrn Professor holte. „Genug geschlafen, mein lieber Fritsche. Jetzt brauche ich Ihre Aufmerksamkeit.“

Der Professor nickte einem der anwesenden Ärzte zu und der fragte sogleich: „Herr Fritsche, wir brauchen noch einige Angaben für Ihre Krankenakte.“ Und so wurde die Adresse, die Arbeitsstelle abgefragt, auf die Fragen nach Familie und Verwandten, die der Patient verneinen musste, schien der Herr Professor scheinbar erleichtert. Sofort übernahm er die weitere Befragung, die sich auf medizinische Untersuchungen bezog. Zum Schluss fragte er noch: „Haben Sie noch eine Frage, Herr Fritsche?“

„Ja, ich habe keine Schmerzen, ich fühle meinen Körper nicht – ist das normal?“

„Im Moment ja, aber in einem Monat machen Sie wieder den ersten Schritt.“

So sprach das der Professor und der Patient Fritsche wollte es glauben. Täglich bekam er so viele Pillen und Injektionen, dass er meinte, eine lebendige Apotheke zu sein. Auch konnte er sich nicht über die Fürsorge beschweren. Er hatte ein Einzelzimmer - Fernseher, Radio, Laptop und eine ganze Auswahl an Büchern. Ständig wurde er von 3 Kameras beobachtet, die er zu seinem Leidwesen aber nicht abschalten konnte. Auf Nachfrage erhielt er nur als Antwort: „Entweder die Kameras oder eine Schwester ist Tag und Nacht bei Ihnen im Zimmer. Ihr Fall ist dem Herrn Professor zu wichtig, als dass ein Fehler in Ihrem Genesungsprozess Ihre Gesundheit beeinträchtigt.“

So wichtig genommen, begann der Patient Fritsche zu grübeln. Und dann stolperte sein Gedächtnis über das einstmals im Halbschlaf gehörte, als zwei Ärzte über zwei Tote sprachen, aus denen man einen „Lebenden“ machen wollte.

„Bin ich das etwa? Habe ich den Körper eines anderen Toten?“ Das beschäftigte den Herrn Fritsche jetzt so gewaltig, dass er unbedingt seinen Körper betrachten wollte. Alle vorgegebenen Übungen, alle „Sitzungen“ wiederholte er auch im Bett, sodass der Professor schon meinte, er solle es nicht übertreiben. Aber … er wollte seinen Körper sehen, wollte sehen, ob das große Muttermal am linken Oberschenkel noch vorhanden war. Nur so konnte er feststellen, ob er seinen „alten“ Körper hätte.

Dann war es so weit. Er zog sich am Strick hoch und saß, er hatte Kraft in den Armen und konnte seinen Rücken krümmen. Die Schwester, die ins Zimmer stürzte, bat er: „Nehmen Sie bitte die Decke weg. Ich möchte meine Beine sehen.“

Und sie tat ihm den Gefallen und er suchte das Muttermal und sah nichts. „Mein Muttermal!? Wo ist mein Muttermal?!“

In diesem Moment betrat der Oberarzt das Zimmer. „Bestens Herr Fritsche!“, lobte er den Patienten. „Und um Ihr Muttermal sorgen Sie sich nicht. Wir mussten an Ihrem Körper so viele Wunden behandeln, auch Hauttransplantationen vornehmen; wichtig ist jetzt nur Ihr Fortschritt. Jetzt gehen wir das nächste Ziel an: das Gehen!“ Und um dem Patienten jeden Zweifel zu nehmen, untersuchte er das rechte Bein und bemerkte: „Gute Arbeit! Keine Narbe! Unser Professor ist wahrlich eine Koryphäe auf seinem Gebiet.“

Patient Fritsche erschrak über diese Untersuchung, war doch das Muttermal auf dem linken Oberschenkel gewesen. „Habe ich doch den Körper eines Toten und keiner sagt mir das!?“ Ab jetzt hieß für den Herrn Fritsche das Ziel: Schnell das Gehen lernen! Er wollte unbedingt vom Bett zum abseitsstehenden Tisch laufen, denn dort lagen die beiden Ordner mit seiner Krankenakte. Da er so motiviert war und einen unbändigen Willen besaß, schaffte er das fast Unmögliche: Er stand neben seinem Bett und tat den ersten Schritt. Die Kameras übertrugen seinen Erfolg und diesmal stürzte auch der Professor ins Zimmer. „Bravo, mein lieber Fritsche!“, jubelte er voller Freude. „Sie haben es geschafft! Alles andere ist jetzt nur noch ein Kinderspiel!“

Und seinen jüngeren Kollegen, die jetzt auch das Zimmer betreten hatte, hielt er einen Vortrag, den der Patient Fritsche so nicht verstand, war er doch mit lateinischem Vokabular bestückt. 

Jeden Tag stand der Patient, jeden Tag tat er einen Schritt – dann einen zweiten, einen dritten … Jeden Tag näherte er sich dem Tisch mit den Ordnern, jeden Tag hoffte er, endlich Klarheit über sich, über seinen Körper zu erhalten. Und jeden Tag erhielt er tolle Lobeshymnen vom Herrn Professor und seinem Team.

Dann kam der Tag – er wusste: „Heute schaffe ich es!“ Und er setzte den ersten Schritt, hielt inne, setzte den zweiten und … Nach dem achten Schritt stand er am Tisch, mühsam zog er sich um den recht schweren Tisch herum, um den Ordnern näher zu kommen. Bevor er aber nach einem Ordner griff, schielte er zu den drei Kameras und er wusste, eine Kamera richtete ihren „Blick“ genau auf den Tisch. Also täuschte er einen Schwächeanfall vor und ließ sich auf die Ordner fallen. Im Fallen griff er in den einen Ordner und riss mehrere Blätter heraus. In diesem Moment stürzte ein Pfleger herein und schrie erschrocken auf: „Herr Fritsche, haben Sie sich verletzt?!“

„Nein, nein!“ erwiderte der Herr Fritsche und der Pfleger befahl: „Bleiben Sie liegen – nicht bewegen. Ich hole Hilfe!“ Noch im Flur schrie der Pfleger nach der Schwester und beide stürzten ins Zimmer. Patient Fritsche hatte inzwischen die Blätter unter seinem Nachthemd verstaut und hielt sie mit einer Hand fest. Mit der anderen zog er sich hoch.  „Vorsichtig! Vorsichtig!“ Erleichtert stieß der Pfleger die Worte heraus. Schwester und Pfleger führten den Patienten zum Bett.

Wie einen Schatz hütete der Herr Fritsche die herausgerissenen Seiten. Leider wurden sofort nach seinem „Schwächeanfall“ die beiden Ordner aus dem Zimmer entfernt. Dafür beschäftigte er sich mit dem Inhalt der Seiten. Dank des Laptops und des klinikeigenen Internetzugangs konnte er die vielen medizinischen Fachausdrücke übersetzen und wusste somit, dass ein Großteil der Medikamente, die er jeden Tag einnehmen musste, verhindern sollten, dass körperfremde Organe abgestoßen werden. Jetzt grübelte er, ob sein Kopf den Körper abstoßen könnte oder der Körper den Kopf. Dass er einen fremden Körper hatte, wusste er bereits, als er auf dem einen Blatt einfachste Angaben zu seinem Körper vorfand. Stand doch dort: Größe 1, 82 m. Und er wusste, das kann nicht sein Körper sein. Schon als Jugendlicher ärgerte er sich über seine normale Körpergröße, wollte er doch immer größer sein. 1, 73 m war sein Körpermaß und das mit 25 Jahren und schließlich wächst dann der menschliche Körper nicht mehr.

Dieses Grübeln über den fremden Körper machte ihn unleidig. Die Ärzte bemerkten seine Stimmungsschwankungen und befragten ihn. Er antwortete ihnen, indem er bat, sie mögen seine Körpergröße messen. Und sie taten ihm den Gefallen: 1,82 m!

„Wie kommt das?“, fragte er. „Nie war ich größer als 1,73 m!“

Die Antwort der Ärzte war mehr eine Stammelei, ehe sie sich hinter lateinischen Fachausdrücken versteckten. Schon wollte der Patient Fritsche das Gestammele der Ärzte mit der Frage beenden: „Ist dies auch mein eigener Körper?“, als er einer Eingebung folgte und sich mit dem Gehörten scheinbar zufriedengab. Er, der Patient Fritsche, wollte jetzt nur noch eins: so schnell wie möglich raus aus diesem Krankenhaus! Und auf dieses Ziel arbeitete er jetzt mit eiserner Energie hin. Die Ärzte waren sehr zufrieden mit ihrem besonderen Patienten und der Professor sprach sogar mit ihm über die Zeit nach dem Krankenhaus. Er bot ihm an, als Hilfskraft im Labor zu arbeiten, um dann nach einer gezielten Umschulung als Laborant für die Klinik arbeiten zu können. Der Herr Fritsche erbat sich Bedenkzeit und wollte erst versuchen, in seinem alten Betrieb und in seinem alten Beruf wieder unterzukommen. Doch aus all dem wurde nichts – ihm blieb im Moment nur: berufs- und arbeitsunfähig.

Wieder hatte der Herr Fritsche den Verdacht, dass an diesem Befund der Professor Mitschuld habe, denn noch immer gab es die freie Stelle als Labor-Hilfskraft.

Dann kam der Tag, an dem er das Krankenhaus heimlich verließ. Zwar hatte er sich vorher schon in der Stadt umgetan, aber jetzt glaubte er, endlich auf „eigenen“ Füßen stehen zu können. Er suchte seine Vergangenheit und fand nur Ungereimtheiten. Seine Wohnung war längst geräumt, von einem jungen Ehepaar bezogen und damit waren seine gesamten Papiere, einschließlich Pass und anderer wichtiger Dokumente, vernichtet. Er ging zu den Behörden. Doch in den Akten der Behörden tauchte nur ein Sven Fritsche auf, der bereits seit zwei Jahren tot war. Auch sein Freund wohnte nicht mehr in der Stadt und damit hatte Sven Fritsche keinen einzigen Zufluchtsort mehr – außer dem Krankenhaus.

„Wenn ich tot bin“, so dachte der Herr Fritsche, „muss ich ein Grab haben.“ Und so besuchte er die Friedhöfe, erkundigte sich nach den letzten Beerdigungen und einer der Friedhofsangestellten zeigte ihm sogar ein Grab, in dem ein Sven Fritsche beerdigt worden sein sollte. Keine Wohnung, kein Ausweis – aber einen Totenschein und ein Grab – das besaß jetzt der Herr Fritsche. Wütend stürmte er ins Krankenhaus, aber mit jedem Schritt verflog seine Wut und sein klarer Verstand verlangte von ihm: „Bleib ruhig! In der Klinik kann man dich wegsperren und kein Hahn kräht nach dir! Du bist tot; klinisch tot; behördlich tot – tot und bereits beerdigt! Wenn du in der Klinik einen ‚Aufstand‘ machst, dann kannst du ganz schnell tot sein! Tot – töter – am tötesten!!!“

Als er vor der großen Eingangstür stand und den Namen der Universitätsklinik las, machte er auf dem Absatz kehrt und schwor sich, nie und nimmer einen Fuß über diese Schwelle zu tun.

Der Entschluss war zwar schnell gefasst, aber wovon sollte er leben: keine Arbeit, keine Wohnung, kein Ausweis – aber ein intaktes Grab. Jetzt wurde er einer der vielen Obdachlosen. Er schlief auf oder unter der Bank, erbettelte sich das Essen und bemerkte zusehends, dass entscheidende Veränderungen mit seinem Körper vor sich gingen. Sein Körper meldete ihm, dass er diesen Kopf nicht „mag“. Oder war das sein Kopf, der diesen Körper abstoßen wollte?! Er kannte die Ursachen, denn seit er die Klinik verlassen hatte, besaß er keine Medikamente mehr. Medikamente, die jetzt in seinem akuten Zustand über Leben oder Tod entschieden. Schon stand er vor der Klinik, ja – er drückte schon die schwere Klinke. Doch dann entschied er: „Lieber richtig tot, als ein Lebender, der aus zwei Toten zusammengeflickt wurde.“

Acht Tage lebte er jetzt schon als Obdachloser. Dann lernte er einen alten Mann kennen, der ihn ins Obdachlosenasyl mitnahm. „Du bist ein Staatenloser!“, sagte der Alte, als ihm Sven Fritsche gestand, dass er keine Ausweispapiere besaß. Der Alte betrachtete den jungen Mann namens Sven Fritsche als einen Menschen, der mit dem Leben auf der Straße nicht zurechtkam. Er half, wo er konnte. Sven Fritsche war ihm dafür dankbar, aber seine Unruhe, seine Zwangsvorstellungen – das konnte ihm der Alte nicht nehmen. Aber der Alte konnte zuhören und der Herr Fritsche wollte mit jemandem über sein Schicksal sprechen. Der Alte hörte und hörte, schaute mit großen ernsten Augen auf seinen jungen Freund. Sven Fritsche glaubte jetzt, dass der Alte aufstehen würde und ihn einen Lügenbaron, einen Schwindler, einen Betrüger nennen würde. Doch der Alte stand zwar auf, aber nur um dem Sven Fritsche zu bitten: „Zeige mir Dein Grab!“

Und als der Herr Fritsche mit dem Alten vor dem ungepflegten Grabhügel stand, meinte der Alte: „Sven, Du brauchst Hilfe! Hilfe von einem Professionellen. Ich war früher mal - in meinem anderen Leben - bei einem Psychiater. Zu dem gehen wir jetzt!“ Und der Alte führte den Herrn Fritsche zu meinem Haus. „Im ersten Stock ist das Sprechzimmer. Spreche direkt den Arzt an, er wird Dir helfen.“

„Aber ich habe doch keine Krankenversicherungskarte?“

„Spreche den Arzt an. Er wird Dir helfen! Geh jetzt!“ Und der Alte schob den zögernden Herrn Fritsche in den Flur.

Als meine Frau ihn in der Anmeldung nach seiner Krankenversicherungskarte und nach dem Überweisungsschein fragte, antwortete er immer nur: „Ich muss den Arzt sprechen! Jetzt! Bitte! Sofort!“

Und als ich den nächsten Patienten zu mir ins Sprechzimmer bitten wollte, da stürzte dieser Herr Fritsche auf mich zu und schrie mich an: „Doktor, helfen Sie mir! Mein Körper löst sich auf!“

So wurde aus dem Herrn Fritsche der Patient Fritsche.

 

„Was willst Du jetzt machen?“, fragte mich meine Sonja.

„Oskar ist Chirurg. Er muss mir die Aussagen des Sven Fritsche bestätigen. Und dann … ich weiß es nicht! Ich weiß nur, ich muss ihm helfen! Sonst würde ich mir mein Schweigen nicht verzeihen – auch könnte ich nicht mehr in meinem Beruf arbeiten. Ich werde ihn aufwecken, wir fahren zu Oskar. Er erwartet uns ja.“

Mein alter Freund Oskar erwartete uns schon mit Ungeduld. Er betrachtete den Herrn Fritsche mit großer Neugier, die er gar nicht zu verstecken suchte. „Das also ist das Ergebnis ärztlicher Kunst!“, kommentierte er sein Verhalten.

„Oskar!“ Fast schrie ich ihn an – er hatte verstanden. „Kommen Sie, mein Herr!“, bat er den Fritsche, „Wir möchten Sie untersuchen. Wir hoffen, wir können Ihnen helfen.“

Meine Sonja verschwand mit Oskars Frau, während wir ins nahe gelegene Krankenhaus gingen. Es war schon spät abends, aber auch wenn vieles von Oskar selbst gemacht werden musste, so war ich doch froh über diesen Zustand. Wir brauchten nicht noch mehr Mitwissende.

Es war bereits weit nach Mitternacht, als alle Untersuchungsergebnisse vorlagen. Unser Patient Fritsche schlief – die Untersuchungen hatten ihn wieder sehr angestrengt.

„So Oskar, jetzt sage mir, ob dieser Fritsche die Wahrheit gesagt hat oder ob er ein begnadeter Lügner und Schauspieler ist!“

„Ich bin mir sicher, fast zu 100 % - der Fritsche hat einen anderen Körper erhalten. Es ist die exzellente Arbeit eines begnadeten Chirurgen. Es ist fantastisch zu sehen, was medizinische Kunst vermag. Erinnerst Du Dich noch an den italienischen Chirurgen Canavero? Vor Jahren hatte der eine solche Transplantation angekündigt. Vor Jahren! Dieser Professor von der Uni-Klinik hat sie jetzt durchgeführt. Fantastisch! Selbst das schwierige Problem mit dem Rückenmark hat der Mann gelöst. Ich bin beeindruckt! Man könnte …“

Oskar redete und redete und je mehr er redete, zweifelte ich an meinem Freund. Kann man reines ärztliches Können über den Menschen stellen? Kann man einfach drauflos experimentieren, ohne das Ergebnis einer Transplantation zu kennen? Darf man das – auch als Arzt?

„Oskar!“ Barsch unterbrach ich Oskar in seinen Lobeshymnen auf das ärztliche Können dieses Uni-Professors. „Wir müssen diesem Herrn Fritsche helfen! Konkret helfen! Wir haben einen Eid geleistet! Hast Du einen Vorschlag?“

„Als Erstes braucht der Mann seine Medikamente. Das müsste die Vorgänge des Abstoßens blockieren. Auch sein seelischer Zustand könnte dadurch verbessert werden.“

„Kannst Du …?!“

„Nein, das kann nur der Uni-Professor. Dort müssen wir hin, und zwar sofort. Wir fahren mit einem Krankenwagen. Der Fritsche soll ruhig weiter schlafen. Ich kann ihm nicht helfen.“

Und so gelangten wir mit einem immer noch schlafenden Herrn Fritsche zur Uni-Klinik. Bei der Aufnahme verweigerten wir jegliche Auskunft, bestanden darauf, dass der Professor persönlich hier erscheinen soll. Hilflos stand das Personal vor uns. Sie sollten morgens um 4 Uhr den Professor aus dem Bett holen?! Das käme einer Abmahnung gleich.

Das Personal wurde aus ihrer Erstarrung erlöst. Ein älterer Arzt kam zu ihnen und warf einen Blick auf die Krankenbahre.

„Herr Fr…!“ Er verschluckte den Namen und fragte scheinheilig: „Kann ich helfen?“

„Die Herren wollen nur mit dem Herrn Professor reden“, erwiderte eine Angestellte.

„Gut, gut! Ich übernehme die Herren!“ Und zu uns blickend, bat er: „Kommen Sie, ich benachrichtige sofort unseren Chef!“

Die Zeit, die verging, ehe der Professor aufgelöst ins Zimmer trat, tickte in Zeitlupe. Der ältere Arzt, es muss der Oberarzt sein, war zwar äußerst höflich, verweigerte aber jegliche Stellungnahme zum Patienten Fritsche. Meinem Freund Oskar passte dies gar nicht und immer versuchte er, den Oberarzt zum Reden zu bringen. Doch der ließ sich nicht aus der Reserve locken. „Jeden Moment wird der Professor bei Ihnen sein. Dann erhalten Sie Ihre Antworten.“

Und die Antworten erhielten wir. Die Begrüßung war flüchtig, viel mehr Aufmerksamkeit erhielt der immer noch schlafende Fritsche. Erst als sich der Professor überzeugt hatte, dass keine unmittelbare Lebensgefahr für den Herrn Fritsche bestand, wendete er sich uns zu.

„Meine Herren, bitte hören Sie nur zu. Ich möchte Ihnen eine Erklärung abgeben. Anschließend sollen Sie über mein weiteres Schicksal entscheiden.“

Und der Professor beichtete – es war eine sehr ehrliche und umfassende Aussage, die wir so nicht erwartet hatten. Und dies waren die Kernpunkte: Als der Professor die beiden jungen Männer, die am gleichen Tag gestorben waren, untersuchte, da kam ihm die Idee, das viel diskutierte Transplantationsvorhaben dieses italienischen Chirurgen Canavero an diesen beiden Männern auszuprobieren. Er rief seine engsten Mitarbeiter zu sich und befragte sie um ihre Meinung. Kontrovers wurde diskutiert und schließlich einigte man sich doch auf eine Transplantation. Die beiden Männer seien schließlich klinisch tot und die Körper durch den Unfall so zerstört, dass man schließlich nur an zwei Leichen experimentierte.

Fast zwei Tage dauerte die Operation und am Ende, als die „neue Leiche“ in den Keller geschoben wurde, da glaubte keiner der Ärzte je daran, dass dieser menschliche Körper leben könnte. Als bereits am nächsten Tag der Herr Fritsche aufwachte und ansprechbar war, da waren sie nur noch erschrocken. Sie wussten nicht, wie sie mit dem neuen Menschen, der sich Fritsche nannte, umgehen sollten. Schließlich hat der Professor als Chef entschieden, dass sie diesen Herrn Fritsche als normalen Patienten behandeln, der einen sehr schweren Motorradunfall überlebt hatte.

„Warum diese Heimlichkeiten, Herr Professor?“ Der Herr Fritsche war aufgewacht und hatte wohl den größten Teil der Beichte gehört. „Diese Ungewissheit über meinen anderen Körper hat mich zu Verzweifeln gebracht. Sie haben mir ein neues Leben gegeben und zugleich das neue Leben nicht lebenswert gemacht. Warum?“

„Angst, Herr Fritsche. Pure Angst! Ich habe keinen Menschen getötet, aber wie Frankenstein einen neuen Menschen geschaffen. Ich bedauere sehr, was ich Ihnen zugefügt habe. Das müssen Sie mir glauben.“

 

So, liebe Leser, jetzt stocke ich – der Schreiberling. Jetzt weiß ich wirklich nicht weiter, wie ich meine Fantasiegeschichte, die aber nach der Ankündigung des italienischen Chirurgen Sergio Canavero von der Turin Advanced Neuromodulation Group in zwei Jahren zur Gewissheit, zum medizinischen Fakt werden könnte, enden lassen soll.

Was meinen Sie:

- Soll der Herr Fritsche Anzeige wegen Körperverletzung stellen? Aber die Ärzte hatten doch den klinischen Tod festgestellt!

- Sollen der Psychiater und sein Freund Anzeige wegen Leichenschändung stellen? Aber die eine Leiche war keine Leiche, auch wenn der Tod festgestellt wurde. Schon oft wurde fälschlicherweise der Tod festgestellt und dann war der Tote aber nur scheintot und pochte aus dem Grab nach den Lebenden um Hilfe.

- Sollte der Herr Professor an die Öffentlichkeit gehen und der Welt einen Durchbruch in der Erhaltung menschlichen Lebens verkünden? Wäre diese Variante ethisch vertretbar? Möchten Sie mit einem fremden Kopf oder einem fremden Körper ihr neues Leben meistern? Welche Schmerzen, welche seelischen Qualen müssten Sie aushalten! Sie würden sich vielleicht den Tod wünschen, ihn herbeisehnen, könnten dem Leben aber kein Ende bereiten, weil Sie nicht die Kraft und den Mut dazu hätten oder weil die medizinische Welt einen „Anspruch“ auf Ihren Körper und Kopf hätten?! Welchen Namen würde der „neue Mensch“ führen – den vom Kopf oder den des Körpers? Was wäre, wenn ein Frauenkopf einen Männerkörper erhielte (oder umgekehrt)? Vielleicht müssten Sie dann auch Ihren Nachbarn oder Ihre Arbeitskollegin, die lange Zeit in einer Klinik behandelt wurden, nach Narben am Hals begutachten. Vielleicht wäre das ja solch „neuer Mensch“?

- Sollte es eine einfache menschliche Lösung geben, die davon ausgeht, dass der Universitätsprofessor dem „Toten“ Fritsche zu seiner bürokratischen Identität wieder verhilft? Der Psychiater befriedet die gepeinigte Seele des Herrn Fritsche, indem der Patient unter anderem das „alte Leben seines nun neuen Körpers“ kennenlernt. Alle Wissenden schweigen! Niemals gab es solch eine Operation! Frankenstein ist Legende – nicht real?!

 

Entscheiden Sie selbst!  Oder haben Sie noch eine andere Lösung?