Geschichten für Erwachsene: Von Ethik und Moral

Die Geschichte von der unbefleckten Empfängnis

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von Joachim Größer (2011)

 

Er ist ein richtiger Wirbelwind – dieser Professor am Universitätsklinikum. Man könnte meinen, er sei überall. Überall hat er seine Augen, überall hat er etwas auszusetzen, überall eckt er in seiner kompromisslosen Art, eine Klinik zu leiten, an. Dieser Mann, der längst das Pensionsalter erreicht hat, lebt für seine Arbeit und durch seine Arbeit. Ein Hagestolz ist er, unverheiratet und ungebunden – und das sein ganzes bisheriges Leben lang. Seine Mitarbeiter sprechen mit Hochachtung von ihrem Chef – wenn es um die Arbeit geht. Reden sie über seinen Charakter, werden Witze gerissen. Inhalt dieser oft derben Zoten sind die eigenen Worte ihres Chefs, als er in einer Rede seinen Mitarbeitern erklärte, dass er ein „Auserwählter“ sei. Ja, dieser Professor war hochbegabt und zugleich krankhaft ehrgeizig, er neigt zur eigenen Überschätzung und zur Missachtung der Leistungen anderer.

Und dieser Professor hatte es sich in den Kopf gesetzt, unsterblich zu werden. Nein, verrückt war er nicht, auch nicht schizophren. Die Unsterblichkeit wollte er erreichen, indem er sich selbst klonen wollte. Schließlich war er der Meinung, dass sein messerscharfer Verstand, seine analytischen Fähigkeiten, seine ungewöhnliche Sprachbegabung, seine Hochbegabung auf vielen Gebieten auch in der Zukunft die Menschheit beglücken könnte. Er hielt sich für ein Genie und Genies sind unsterblich.

Ein normaler Mann zeugt Kinder, um sich selbst fortzupflanzen. So etwas Natürliches kam für den Weiberfeind nicht infrage. „Ein Genie macht so etwas auf geniale Art und Weise!“ Dies hatte er sich ins Bewusstsein gehämmert. Und daran arbeitet er nun schon einige Jahre. Niemand kennt seine Forschungen, niemand ahnt auch nur etwas von der Ungeheuerlichkeit seines Forschungsziels. Und jetzt war er so weit, jetzt brauchte er nur ein Medium, dass er für sein Experiment benutzen konnte. Er suchte eine gesunde Frau im gebärfähigen Alter, die für den Professor den „geklonten Professor“ austrägt.

(Verwundern Sie sich nicht, wie ich schreibe. Diese verrückte Idee dieses Herrn zwingt mich zu dieser Formulierung.)

Zweimal schon hatte der Professor Frauen angesprochen, um sie für sein Experiment zu gewinnen. Natürlich hat er nicht vom Klonen gesprochen – nur, dass er eine Leihmutter suche.

Die erste Frau, die er ausgewählt hatte, entstammte dem sehr leichten Milieu, dem Straßenstrich.

„Herr Professor, ein Kind ohne Sex? Wo bleibt denn da das Vergnügen?!“ Dann musterte sie den alten Herrn und meinte anzüglich: „Drei Viagras und ich bereite ihnen tolle Nächte – oder Tage, ganz wie sie es wünschen. Wenns zum Kind kommt, dürfen Sie mich heiraten.“

Als sie den Blick des Professors sah, meinte sie einlenkend: „Ich nehme auch Geld.“

Wortlos verwies der Herr Professor die undankbare Sexbesessene des Zimmers.

Die zweite Frau, die der Professor im Visier hatte, war eine Witwe um die 30. Aber die wollte kein Kind, denn ihre Figur könnte unter einer Schwangerschaft leiden. Sie wollte aber sofort den alten Herrn Professor heiraten. Ja, sie gurrte und schmeichelte, bis der so anvisierte Heiratskandidat sie mit harschen Worten davonjagte.

Nun saß eine dritte Frau vor ihm. Sie hatte er im Warteraum gesehen und sein Gefühl sagte ihm, dass dies die Richtige sei. Einem Assistenzarzt, der die junge Frau – eigentlich wäre Mädchen das bessere Wort gewesen – ins Behandlungszimmer bat, erklärte er: „Die Dame ist meine Patientin.“

Da man den Chef so kannte, schluckte der junge Arzt nur und verschwand leicht errötend ins Sprechzimmer.

Nun saß die junge Frau vor dem alten Herrn, der sie eindringlich musterte. Verlegen schlug sie die Augen nieder und der Professor kehrte den „väterlichen Typ“ hervor.

„Nun erzählen Sie mal, mein kleines Fräulein, warum sind Sie zu uns gekommen?“

Die anschließende Untersuchung bestätigte dem Professor, dass dies die richtige Frau „für ihn“ wäre. Die junge Frau, nennen wir sie Marie, war kerngesund, noch jungfräulich und was die Liebe und die Fortpflanzung betraf, reichlich einfältig. Elternlos in einem Waisenhaus aufgewachsen, war sie, volljährig geworden, ins Leben verstoßen worden. Seit einigen Monaten schlug sie sich so recht und schlecht durchs Leben. Sie vermisste die festen Mauern des Waisenheimes, vermisste die helfenden Hände der Erzieherinnen, sie vermisste Menschen, die sie in ihrer Einsamkeit verstanden.

Nun saß da der alte freundliche Herr vor ihr und erklärte ihr, dass sie kerngesund sei. Ihre gesundheitlichen Probleme seien psychisch bedingt und er, ihr Arzt wisse auch das Mittel, diese Probleme zu beheben.

Mehrmals suchte die junge Frau den Herrn Professor auf. Dann sprach sie das entscheidende Wort: „Ich bin einverstanden, Herr Professor!“

Ausführlich erklärte ihr der Professor, was er von ihr erwarte. Wenn sie sein Kind austragen würde, dann würde sie ihn beerben und sie wäre dann nicht mehr mittellos. Alles Rechtliche sollte notariell geregelt werden. Eine einzige Bedingung stellte der Arzt, Marie dürfe mit niemandem darüber sprechen, dass sie „sein Kind“ austrage. Für die Umwelt wäre sie, die Marie, eine entfernte Verwandte, der er Obdach und Arbeit gebe.

Als der Professor die Eizelle, die seine Gene enthielten, der jungen Frau einpflanzte, murmelte der Arzt: „Jesus wurde auf wunderbare Weise in Maria empfangen, denn Maria war jungfräulich. So wie einst Jesus gottgleich geboren wurde, so werde ich als ein neuer Gott geboren werden und in meiner Einmaligkeit unsterblich sein.“

Marie bekam von all dem nichts mit. Wahrscheinlich hätte sie diesen Vergleich noch nicht einmal verstanden, hatte ihr doch der Professor verschwiegen, dass er sich selbst geklont habe. Und mit Wissenschaft hatte Marie nichts im Sinne. Für sie war jetzt wichtig, das neue Heim, die materielle Geborgenheit, die angenehme Seite des Lebens zu erhalten. In den wenigen Tagen, die sie bereits in der Villa des Herrn Professors wohnte, hatte sie sich das große Haus als neue Heimat erobert. Der Hausangestellten musste sie nur zur Hand gehen und das waren nur leichte Arbeiten.

Neun Monate später hielt der Professor sich selbst als Neugeborenen im Arm. „So habe ich mal ausgesehen!“, murmelte er. „Meinen Verstand und meine Begabungen habe ich dir mitgegeben. Großes wirst du einmal leisten!“

Drei Jahre beobachtete der Herr Professor sich selbst als Säugling und Kleinkind. Ja, er kramte alte Fotografien hervor, betrachtete sein Gen-Produkt und verglich. Nach drei Jahren      verließ er zur Freude seiner Mitarbeiter die Klinik und jeder dieser Mitarbeiter gönnte ihm von ganzem Herzen den Ruhestand. Dafür litten Marie und ganz besonders der kleine Alexander unter der Bevormundung. Nichts machte Marie dem Herrn Professor recht, nichts konnte der kleine Alexander so, wie es sein großes „Gen-Abbild“, der „Große Alexander“ haben wollte. Wie oft weinten Marie und ihr Alex, wenn sie beide alleine im Zimmer waren. Und Marie konnte noch nicht einmal das Kind nehmen und den widerlichen Professor verlassen. Hatte der doch sofort nach der Geburt mithilfe mehrerer Anwälte den kleinen Alexander adoptiert und ihm seinen Namen gegeben.

So wurde das Heim, das Marie sich so sehr wünschte, zu einer psychischen Folteranstalt.  

Dann kam Klein-Alexander zur Schule. Nach einem halben Jahr, als der Professor mit dem Leistungszuwachs seines „Ichs“ unzufrieden war, ließ er „seinen Sohn“ testen. Ergebnis: Begabt, aber nicht hochbegabt.

Wütend zerriss der sonst so beherrschte Professor das Schreiben. Marie, die nicht verstand, warum für ihren „Gönner“ die Welt zusammenstürzte, fragte schüchtern, warum der Herr Professor so wütend sei.

„Weil Du die unbefleckte Empfängnis befleckt hast! Du hast mir meine Unsterblichkeit genommen! Du hast der Menschheit einen neuen Messias gestohlen! Mein Genie kann nicht weiterleben und dafür bist nur Du verantwortlich!“

 „Aber ich, ich habe doch nichts …“

„Schweig! Schweig!“

Und Marie schwieg! Auch der Professor redete kein Wort mehr, weder mit ihr noch mit seinem „Sohn“. Er verschwand morgens in seinem Labor, das er sich in den Kellerräumen eingerichtet hatte, und verließ es erst am Abend, um zum Schlafen seine Räume aufzusuchen. Essen, Trinken und saubere Kleidung stellte man ihm vor die Tür.

Nur als zwei Tage die Nahrung und auch die saubere Kleidung immer noch auf dem Platz lagen, wagten es Marie und die Hausangestellte gemeinsam, das Zimmer des Herrn Professors zu betreten. Sie fanden ihn tot und keine Träne nässte die Augen der beiden Frauen.

Der Arzt stellte fest, dass der Professor, den er als Leuchte der Wissenschaft bezeichnete, vergiftet wurde. Die Polizei ermittelte und die beiden Frauen hörten mit Erleichterung, dass der Professor sich selbst vergiftet habe, habe er doch mit hochgiftigen Substanzen experimentiert, um ein Lebenselixier zu schaffen, das das Altern aufhalten sollte. So formulierte es der Kommissar, als er sich von den Frauen verabschiedete. 

Marie erwiderte ihm: „Der Herr Professor wollte immer unsterblich sein!“

„Wie, unsterblich …?“ Der Kommissar glaubte wohl, dass Marie sich versprochen habe.

„Der Herr Professor hielt sich für etwas Besonderes, Herr Kommissar. Er wollte sein Genie für die Menschheit erhalten. So hatte es mir der Herr Professor erklärt.“

Der Kommissar betrachtete die junge Frau, die ihm solch Ungeheuerliches gesagt hatte.

„Ist die auch verrückt, wie ihr Professor?“, dachte er. Laut sagte er aber: „Ist nicht jeder Mensch etwas Besonderes? Wollen wir nicht alle unsterblich werden?“

„So wird es wohl sein.“ Damit war das Thema „Professor“ abgeschlossen. Die Trauerfeier war keine, denn niemand wollte um diesen Toten trauern.

Einmal noch wurde Marie an den Professor erinnert. Sie las in der Zeitschrift von der Nähe von Genie und Wahnsinn und kommentierte den Artikel mit den Worten: „Ja, der Herr Professor war ein sehr kranker Mann!“ Dann schaute sie zu Klein-Alexander, der nun gar nicht mehr klein war und dachte: „Du bist, Gott sei Dank, nur ein normaler Mensch.“