Geschichten für Erwachsene: Von Ethik und Moral

Der Prozess

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von Joachim Größer (2016)

 

„Erheben Sie sich!“ Der Forderung des Gerichtsdieners folgen ein junges Ehepaar und ihr Anwalt. Das „Hohe Gericht“ betritt den Verhandlungsraum. Richter, Beisitzer und Staatsanwalt nehmen auf ihren Sitzen Platz. Der Prozess kann beginnen. Zuschauer waren nicht erwünscht, auch die Presse und das Fernsehen blieben ausgesperrt.

Die junge Frau, hochschwanger - bestimmt im 8.oder schon im 9. Monat, griff nach der Hand ihres Mannes. „Andreas, nehmen sie mir jetzt unser Kind?“, flüsterte die Frau.

„Das dürfen sie nicht, Mia!“, antwortete ihr Mann. „Es ist unser Kind!“

„Psst!!!“ Der Gerichtsdiener schaute empört zu den beiden Angeklagten. „Wenn Sie weiter stören, lässt Sie der Richter vom Prozess ausschließen!“

Es wurde still, sehr still. Man hätte wirklich die berühmte Stecknadel fallen hören können.

Der Staatsanwalt erhob sich, räusperte sich und begann mit der Verlesung der Anklageschrift. Mia hörte nichts von der Anklage. Ihr ungeborenes Kind verlangte ihre ganze Aufmerksamkeit. „Sind das schon die Wehen?“, dachte Mia. „Beginnt jetzt die Geburt?“ Andreas drückte die Hand seiner Frau. Bemüht war er, kein Wort des Anklägers zu verpassen, denn der Staatsanwalt sprach vom Hochverrat an der Völker-Gemeinschaft. Und die Begründung war, dass das Ehepaar Mia und Andreas Moller sich geweigert hätten, an dem Programm der Kindzeugung teilzunehmen und ein Kind auf ganz natürliche ordinäre Weise gezeugt hätten.

„Heute, im Jahr 2073 wird kein Kind in den Vereinigten Staaten Europas so gezeugt. Millionen, Milliarden Euro wurden für medizinische Forschungen ausgegeben, um ein für alle Mal Erbkrankheiten auszuschließen!“, wetterte der Staatsanwalt. „Heute gibt der Mann eine Spermaprobe ab, die Frau ihre Proben an Hautzellen. In den Hochleistungslaboren entstehen aus diesen Gen-Materialien bis zu 100 Embryos. Jetzt hätten auch das Ehepaar Moller sich - wie jeder Einwohner unserer Vereinigten Staaten Europas – das passende Embryo aussuchen können. Sie hätten das Aussehen ihres Kindes bestimmen können und – und das ist das Entscheidende – sie hätten von vornherein alle möglichen Erbkrankheiten ausschließen können. Ihr Kind könnte nie zu hohen oder zu niedrigen Blutdruck haben, würde nie an Diabetes, nie an Krebs erkranken! Aber nein, Mia und Andreas zeugen ein Kind unter lustvollem Stöhnen! Sie nennen es die Freuden der Liebe! Ich nenne es unverantwortlich! Ein Verbrechen! Wir haben es geschafft, die Kosten für die medizinische Betreuung der Bevölkerung auf wenige Prozente unseres Volksvermögens zu senken. Welche Kosten wird dieses Kind, das in wenigen Wochen geboren wird, der Gesellschaft aufbürden? Wenn dieses Kind das Licht der Welt erblickt, dann …“

„Hilf mir, Andreas!“ schrie jetzt Mia und sackte von ihrem Stuhl auf den Boden. „Hilf mir, unser Kind kommt jetzt …“

„Wie - kommt jetzt? Hier ist ein Prozess! Es geht um Ihr Kind!“ Der Staatsanwalt ist sichtlich verstört. Trotzdem geht er zu der Gebärenden, um zu schauen, und wird vom Andreas angeschnauzt: „Rufen Sie einen Arzt! Schnell!“ Noch verstörter ruft der Staatsanwalt mit seinem Mobilofon nach Hilfe. „Wir brauchen im Verhandlungsraum 3 einen Arzt, einen Gynäkologen!“ Und da der andere Mensch an der Leitung nicht recht versteht, was ein Staatsanwalt mit einem Gynäkologen will, schreit der Staatsanwalt hochrot vor Aufregung: „Ich kriege hier ein Kind!“

Inzwischen haben sich alle Anwesenden um Mia und Andreas versammelt. Keiner konnte helfen, keiner wusste, wie eine natürliche Geburt abläuft; holt man doch im Jahr 2073 die Kinder per Kaiserschnitt auf diese Welt. Jedes mögliche Geburtsrisiko soll dadurch ausgeklammert werden. Medizinische Kosten werden so gespart.

Als wenige Minuten später eine Ärztin und ein Arzt in den Raum stürzen, ist der Geburtsvorgang schon beendet. Die Ärztin durchschneidet die Nabelschnur und der Arzt wendet sich an Andreas. „Wussten Sie, was es wird?“

„Nein, wir wollten uns überraschen lassen.“

„Nun, Sie haben einen Sohn! Wie soll er heißen?“

Andreas zuckt verlegen mit den Schultern, schaut dann zum Staatsanwalt: „Wie heißen Sie?“

„Benjamin Frank – warum wollen Sie das wissen?“

„Herr Doktor, wir nennen unseren Sohn Benjamin!“

Jetzt kamen Sanitäter mit einer Trage. Mutter und Kind wurden vorsichtig auf die Trage gelegt. Doch als die beiden Sanitäter den Raum verlassen wollten, rief der Richter: „Halt! Das ist eine Gerichtsverhandlung!“ Er holte tief Luft, um dann laut zu verkünden: „Ich weise hiermit die Klage der Staatsanwaltschaft ab! Die Begründung geht dem Ankläger und der Verteidigung schriftlich zu.“ Der Richter schaute zum Staatsanwalt: „Herr Anwalt, werden Sie in Berufung gehen?“

„Berufung?! Nein, nein Herr Richter! Keine Berufung! Keine!“ Und sehr leise murmelte er: „Das Baby trägt meinen Namen – Benjamin.“

 

 

Am 4. 4. 2016 erschien auf t-online.de ein Artikel „Professor prophezeit: Sex bald überflüssig“, der mich zu dieser Kurzgeschichte „verpflichtete“.

 

Lesen Sie selbst auf:

http://www.t-online.de/lifestyle/gesundheit/id_77436304/sex-zum-kinderkriegen-wird-bald-ueberfluessig.html