Der finstere Mond

Der finstere Mond

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von Joachim Größer (2014)

 

Schon lange sitzt Gregor Stückle auf der Bank und starrt zum Vollmond. Klar und rein glänzt er am dunklen Abendhimmel – ein Mond, wie man ihn nicht schöner sehen kann.

Immer wenn Vollmond ist, ist Gregor ein anderer Mensch. Er ist kaum ansprechbar, gereizt, und da er dies selbst merkt und sich deshalb auch schämt, geht er den Menschen aus dem Weg. Seine Familie hat sich auf die Macken des Alten eingestellt und lässt ihn in Ruhe. Nur der Hannes, der jüngste Sohn der Familie Stückle kann in dieser Situation mit seinem Großvater reden.

Und Hannes, er zählt 12 Jahre und ist Schüler der 6. Klasse, hat sich schon lange vorgenommen, Großvater zu fragen, warum er immer bei Vollmond so mürrisch ist. Und heute schien ihm der Zeitpunkt günstig. Also setzte er sich auf die Bank zum Großvater und fragte vorsichtig: „Opa, warum guckst du immer zum Mond?“

„Er ist so schön!“ antwortete Opa Gregor. Leise fügte er hinzu: „Wer weiß, wie lange wir ihn noch so sehen können?!“

„Wieso Opa - der Mond kann doch nicht verschwinden?!“

„Er kann! Er kann!“

„Wäre das schlimm? Wir leben doch auf der Erde und die existiert doch auch ohne Mond!“

„Aber das Fehlen unseres Mondes bedeutet eine Katastrophe für unsere Erde. Alles würde durcheinandergeraten. Es wäre furchtbar – die Erde wäre eine andere!“

„Opa, das musst du mir erklären! Das verstehe ich nicht.“

„Ach Hannes, das ist eine lange Geschichte. Und du musst doch bestimmt gleich ins Bett.“

„Nein, Opa! Morgen ist doch keine Schule. Ich darf noch aufbleiben. Bitte erzähle, Opa!“

„Na gut, Hannes. Pass gut auf und lerne daraus!“ So sprach Gregor Stückle, nahm seinen Enkel in den Arm und erzählte die Geschichte vom finsteren Mond.

„Es ist schon lange her, Hannes. Ich war noch nicht mit Oma verheiratet, ein junger Kerl war ich – mit vielen Fantastereien im Kopf. Auf der Erde wurden die Rohstoffe immer knapper und ich studierte Geologie, um mitzuhelfen, neue Bodenschätze zu finden. Die Menschen haben mit ihren Maschinen die Erde nach Bodenschätzen wieder und wieder durchwühlt. Selbst die alten Halden, wo Bewohner früher ihre Abfälle aufschütteten, waren als wichtige Rohstoffquellen längst abgeräumt. Die Wirtschaft hungerte nach Erzen, nach seltenen Erden, nach Öl und Gas. Unser Erdtrabant, unser treuer Begleiter geriet ins Visier der Industrie. Die Ersten, die das aussprachen, waren die Amerikaner.

‚Wir waren die Ersten auf dem Mond!‘ Der Mond gehört uns!, schrien sie.

Und die Russen konterten: ‚Lüge! Unsere Sonde war zuerst auf dem Mond! Wir lieferten zuerst auch Bilder von der Rückseite des Mondes!‘

‚Egal!‘, erwiderten die Amerikaner. ‚Der erste Mensch auf dem Mond war ein Amerikaner! Der Mond ist amerikanisch!‘

‚Nichts da!‘, antworteten die Russen. ‚Der Mond gehört der gesamten Menschheit und das ist seit 1967 völkerrechtlich im Weltraumvertrag festgelegt. Was Recht ist, muss Recht bleiben!‘

‚Wir ändern das Recht und erklären, dass wir für die gesamte Menschheit den Mond verwalten.‘

‚Da machen wir nicht mit!‘, riefen die Russen und auch andere Völker, die über bedeutende Weltraumtechnik verfügten, schlossen sich den Russen an. So gründeten Russen, Chinesen, Inder, Südafrikaner und Brasilianer eine Mond-Allianz, bündelten ihre Finanzen und Kapazitäten, um auf ihren Ansprüchen am Mond zu beharren. Dieser Mond-Allianz stand das Luna-Bündnis entgegen, denn die Amerikaner verbündeten sich mit den Europäern, Kanadiern und Australiern. Der Wettlauf um den Mond hatte erneut begonnen.“

Großvater Gregor seufzte und erzählte stockend weiter. „Ich sagte ja schon, ich war damals ein ganz junger Kerl und hatte gerade meinen Abschluss als Geologe in der Tasche. Ich bewarb mich für die erste Luna-Expedition und wurde angenommen. Ich war jetzt Weltraumreisender und Geologe zugleich. Nur vier Monaten blieben wir auf dem Mond, dann mussten wir zur Erde zurück. In dieser Zeit haben wir Unmengen an Gesteinsproben gesammelt, die nun auf der Erde endgültig ausgewertet wurden. Jetzt stand auch fest, was alle erwarteten: Ja, es lohnt sich, die Bodenschätze auf dem Mond abzubauen. Meine Arbeit war eigentlich beendet und ich suchte mir gerade Arbeit auf der Erde, als eine Nachricht mich erreichte. Man bot mir an, als Leiter eines kleinen Labors auf dem Mond zu arbeiten. Was glaubst du, Gregor, wie ich gejubelt habe. Ich durfte wieder zurück auf den Mond! Deine Oma war damals meine Freundin und wir wollten heiraten. Sie war von meinem Ansinnen gar nicht begeistert. Aber …, na ja, ich konnte Oma umstimmen. Denn ich blieb immer nur 6 Monate auf dem Mond und war dann wieder ein halbes Jahr auf der Erde. Es war eine schöne Zeit …. bis zu dem Augenblick als es hieß: ‚Die Russen kommen!‘

Die Russen kamen nicht, dafür aber unsere Militärs, die ihre Armee mitbrachten. Jetzt gab es bei uns neben den Hunderten Spezialmaschinen auch Tausende Maschinen-Roboter, die uns vor den Angriffen der Mond-Allianz beschützen sollten. Nur hatte die Mond-Allianz keine militärischen Roboter auf dem Mond. Aber sie bemerkten sehr schnell unsere Armee. Und folglich passierte das, was passieren musste: Die Mond-Allianz rüstete ebenfalls auf.

Jetzt standen auf dem Mond Tausende mobile Roboter, die mit Laser-Gewehren ausgerüstet waren, Hunderte Plasmakanonen und sogar modernste Weltraumwaffen mit nuklearem Sprengkopf, die sofort eingesetzt werden konnten. Nur einige wenige Militärs befehligten diese Roboterarmee. Ingenieure entwickelten immer neue bessere Kriegsroboter, die bald über ein gewaltiges Intelligenzpotenzial verfügten. Die Militärs übertrugen den intelligentesten Kriegsrobotern die Befehlsgewalt über diese Maschinenarmee. Nur die Weltraumwaffen waren tabu für die Kriegsroboter. Sie blieben unter der Herrschaft der Menschen. Diese Kriegsroboter waren so programmiert, dass sie ständig die Gefechtsbedingungen analysierten und danach ihre Verteidigung oder den möglichen Angriff planten. Und dies probierten sie zugleich in ihren ‚Kriegsspielen‘ aus. Und jetzt geschah etwas, was keiner für möglich gehalten hatte. Der Kriegsrobotergeneral – er war der intelligenteste Roboter, den die Armee jemals gebaut hatte – schickte ‚Boten‘ zur feindlichen Armee und lud diese Kriegsroboter zum gemeinsamen Kriegsspiel ein. Und ehe das die Menschen mitbekamen, war es auch schon zu spät. Zwei gewaltige Roboterarmeen vereinigten sich – gegen den Menschen.“

Großvater Gregor holte tief Luft. „Hannes, ich erzähle jetzt nur das Wichtigste. Ich habe in wenigen Stunden so viele Grausamkeiten gesehen, dass ich nicht darüber reden möchte. Es war furchtbar. Die Roboter vernichteten alles biologische Leben. Gepanzerte Kettenfahrzeuge zerstörten die Gewächshäuser und die Anlagen für die Sauerstoffgewinnung. Menschen, die in ihren Weltraumanzügen vor den Kriegsrobetern flohen, wurden mit gezielten Laserstrahlen getötet. Unser kleines Labor lag abseits des Stützpunktes. Das war wahrscheinlich unser Glück. Obwohl bei uns noch die Sauerstoffzufuhr und die Temperaturregelung intakt waren, zogen wir – meine beiden Mitarbeiter und ich - unsere leichten Weltraumanzüge an. Wir wollten fliehen, wenn die Kriegsroboter unser Labor stürmen. Was rede ich vom Stürmen, Hannes. Ein mächtiger Laserstrahl würde genügen und unser Labor würde es nicht mehr geben. Ich habe oft darüber nachgedacht, warum die Kriegsmaschinen unser Gebäude nicht angegriffen haben. Vielleicht lag es daran, dass unser flaches Gebäude sich an einen Kraterrand schmiegte und so selbst für Maschinen mit der modernsten Technik, die es zur damaligen Zeit gab, nicht so schnell entdeckt wurde. Egal – wir drei standen am Fenster und starrten auf das Morden. Wir konnten uns noch nicht einmal verteidigen, denn kein Mensch auf unserem Mond-Stützpunkt hatte eine Waffe. ‚Unnötig!‘, hieß es damals. ‚Wir haben ja unsere Kriegsroboter!‘

Ja, die hatten wir! Und sie - diese verdammten Kriegsmaschinen - drangen sogar in die Stollen vor und töteten tief im Mondgestein Menschen, die hier die Arbeitsmaschinen beaufsichtigten. Mein Freund, der Tim, der konnte sich mithilfe eines gepanzerten Arbeitsfahrzeuges aus dem Stollen retten. Er erzählte mir, dass die Kriegsroboter die Arbeitsroboter umprogrammierten und dass diese dann auch die Menschen verfolgten. Der Tim hatte das mitbekommen und sein gepanzertes Arbeitsfahrzeug auf Handbetrieb eingestellt. So behielt er die Befehlsgewalt über seine Maschine. Tim fuhr direkt zu meinem Labor und zerrte mich und die zwei Laboranten in sein Fahrzeug. Auf kürzestem Weg ging es zum Weltraumbahnhof. Dort stand eine Rakete startbereit. Als der Kommandant sah, dass aus dem gepanzerten Fahrzeug vier Menschen sprangen, wurde der Fahrstuhl zu uns geschickt. Noch rechtzeitig erreichten wir das Innere der Rakete, und als ich mich hoch oben auf der Rampe noch einmal umdrehte, sah ich Tausende Roboter, die auf unsere Raketen ‚zumarschierten‘.

Und nur 15 Menschen zählte ich, die es in die Rakete geschafft hatten. 15 Menschen von vielen Hunderten …“

Großvater Gregor umarmte seinen Enkel erneut und zog ihn zu sich heran. Leise sprach er weiter: „Dem klugen Handeln unseres Schiffskommandanten verdanken wir den noch rechtzeitigen Start. Keine Minute länger hätte unser Raumschiff auf dem Mond verweilen dürfen. Die Kriegsroboter hatten furchtbare Waffen, die sogar ein solch mächtiges, gewaltiges Raumschiff, wie unseres es war, zerstören konnten. So landeten wir unglücklichen Glücklichen auf unserer Erde. Wir gaben unsere Berichte ab – und keiner wollte sie glauben. Ich bin mindestens 6-mal dazu befragt worden - und immer von einem anderen Militär. Zum Schluss habe ich dann einen Oberst angebrüllt: ‚Dann fragt doch bei der Mond-Allianz nach, ob die Kriegsroboter auch ihre Leute angegriffen haben!!!‘

Sie taten das, sie fragten – dann glaubte man unseren Aussagen. Man informierte uns und so erfuhren wir, dass 10 Menschen es von der Mond-Allianz geschafft hatten, sich zu retten. Zehn Menschen von mehreren Hunderten!

Obwohl wir schon 14 Tage auf der Erde weilten, durften wir nicht zu unseren Familien. Man reichte uns ein Schriftstück mit der Bemerkung: ‚Entweder Sie unterschreiben dies – oder Sie verlassen diesen Armeestützpunkt nicht mehr!‘

Das hieß: Unterschreiben oder gefangen sein!

Jeder von uns unterschrieb; jeder unterschrieb, dass er 50 Jahre lang nichts von den Vorgängen auf dem Mond verlauten lässt. Hätte einer nicht den Mund gehalten, wäre er und mit ihm alle anderen Zivilisten, die von diesen schrecklichen Vorgängen wussten, für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis gegangen. Man befahl uns, das ‚Maul‘ zu halten, damit auf der Erde keine Panik ausbrechen sollte.

Auf eine gemeinsame Nutzung der Mond-Reichtümer konnten sich die Regierungen nicht einigen; jetzt kooperierte wir, also unser Luna-Bündnis, sofort mit der Mond-Allianz. Der erklärte Feind war die Mondarmee. So wurden die Heere der Kriegsroboter nun genannt. Man hoffte, dass die Roboter die Weltraumwaffen nicht aktivieren können, denn damit hätten sie unsere Erde vernichten können. In aller Eile baute man mächtige Raketen, die alle – 100 Superraketen mit nuklearen Sprengköpfen - auf den Mond ausgerichtet waren. Ständig kreisten und kreisen noch heute Satelliten um den Mond und fotografieren jedes Stückchen Mond. Trotzdem weiß man bis heute nicht, ob die Roboter einen eigenen Staat gegründet haben. Man geht wohl davon aus, dass sie weiter Kriegsspiele betrieben und dabei sich gegenseitig zerstört haben. Aber – das hofft man, man weiß es nicht. Ich selbst hoffe auch, dass die Kriegsroboter sich selbst mit ihren Kriegsspielen vernichtet haben. Ich hoffe es …, denn wenn sie sich zu einem Staatengebilde formiert haben, wenn sie ihre technische Intelligenz genutzt haben, um noch klügere Maschinen für den Krieg zu bauen, dann könnten sie auch in der Lage sein, die Weltraumraketen, die immer noch auf dem Mond stehen, gegen die Menschheit zu benutzen. Roboter haben kein Gewissen! Aber gewissenlose Menschen erschufen sie als Vernichtungsmaschinen, um ihre Macht zu erhalten.

Und so starre ich, Hannes, immer bei Vollmond auf unseren treuen Begleiter. Böse Gedanken jagen durch meinen Kopf. Ich sehe die vielen toten Kameraden und denke an die Mächtigen, die eine friedliche Nutzung des Mondes nicht zuließen. Und dann schaue ich auf diesen herrlichen Mond - und er wird zum finsteren Mond. Ich schließe die Augen und sehe Raketen vom Mond zur Erde rasen. Ich sehe 100 Superraketen, die nicht nur die Mondraketen im All zerstören, sondern den Mond in ein atomares Trümmerfeld verwandeln. Entweder zerreißt es den Mond oder aber der Mond wird aus der Erdumlaufbahn geworfen. Er verschwindet als riesiger Asteroid in den Weiten unserer Galaxie.“

Hannes hat jedes Wort seines Großvaters in sich aufgenommen. Nun fragt er: „Opa, du darfst doch nicht darüber sprechen! Kommst du jetzt ins Gefängnis …, komme ich auch …?“

„Nein, nein, mein Hannes! Die 50 Jahre sind vorbei, es sind schon 52 Jahre. Keiner kommt mehr ins Gefängnis! Keiner! Von den 25 Überlebenden der Katastrophe leben nur noch zwei: eine Inderin und ich. Die Akten sind verschlossen und für niemanden zugänglich. Keiner der 15 Milliarden Menschen ahnt etwas von der riesigen Gefahr, die der Mensch selbst heraufbeschworen hat. Sie werden in Kürze das Jahr 2100 feiern – in Frieden! Ich wünsche es ihnen!“

„Opa, dann könnte ich das doch meinem Freund erzählen?!“

„Hannes – das könntest du. Überlege! Würde dein Freund dir diese Geschichte glauben? Er würde es garantiert als Spinnerei, als dein Fantasieprodukt abtun. Vielleicht würde er sich sogar über dich lustig machen, denn für die Menschen ist und bleibt der Mond unser guter Mond. Lassen wir sie in ihrem Glauben.“

 

So sprach Großvater Gregor Stückle. Sein Enkel dachte lange über das Gehörte nach. Und als wieder Vollmond war, setzte sich Hannes neben den Großvater auf die Bank und beide starrten zum Mond, der hell und klar am Sternenfirmament in voller Schönheit zu bewundern war.