Nachgedacht über ...

Homo neanderthalensis und Homo sapiens - wer ist wer?
Homo neanderthalensis und Homo sapiens - wer ist wer?

Ich und mein Neanderthaler

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von Joachim Größer (2014)

 

Verzeihen Sie die Unhöflichkeit, dass ich mich zuerst nenne und nicht mein zweites kleinere Ich, den Neanderthaler. Ich – der moderne Mensch – bestehe immerhin, nachgewiesenerweise, aus mindestens 98,2 % Homo sapiens. Und der Rest ist mein „kleinerer Bruder“ – Homo neanderthalensis. Also bin ich als Jetzt-Mensch mehr als der Neanderthaler in mir. Aber ohne den Neanderthaler gebe es ja mich als heutigen modernen Menschen gar nicht. Der Grund dafür: Ganz wichtige Gene, die den heutigen Menschen ausmachen, stammen vom Neanderthaler.

Das ist schon verrückt! Seit es den Leipziger Forschern (Max-Planck-Institut) um Svante Pääbo gelungen war, anhand der Gene nachzuweisen, dass es zwischen Homo sapiens und Homo neanderthalensis bereits vor mehr als 50.0000 Jahren Liebesbeziehungen gegeben hat und die Früchte dieser amourösen Abenteuer wiederum fruchtbar waren, sind wir alle ein bisschen Neanderthaler. Jetzt könnte jeder Mensch sagen: „Ich - ein bisschen Neanderthaler, du - auch ein bisschen Neanderthaler!“

Halt – nicht die ganze Menschheit! Nicht die dunkelhäutigen Menschen Afrikas südlich der Sahara. Sie sind die edlen, die reinrassigen Homo sapiens, denn Afrika gilt als die Wiege der Menschheit.

Jetzt habe ich dieses hässliche Wort „Rasse“ doch gebraucht. Eigentlich müsste es jetzt nach den wichtigen Forschungsergebnissen aus den Köpfen der Menschen verschwinden, denn es gibt auf unserer Erde nur Menschen mit Neanderthal-Genen und Menschen ohne diese Merkmale. Die Neanderthaler haben ihre Eigenschaften den heutigen Europäern, Nordafrikanern, Asiaten, Indianern und Indios sowie der Urbevölkerung Australiens und Ozeaniens mitgegeben.

Heute gehen die Forscher davon aus, dass uns der Neanderthaler die helle Haut, rote bzw. blonde Haare und das Überlebensgen für eine kalte lebensfeindliche Umwelt mitgegeben hat. Hielt man noch vor einigen Jahrzehnten den Neanderthaler für ein dumpfes, geistig zurückgebliebenes Wesen, so wissen wir heute: Der Neanderthaler war vom Intellekt dem Homo sapiens ebenbürtig, besaß eine Sprache, pflegte soziale Kontakte, bestattete seine Toten und hatte sich wahrscheinlich seine eigene Religion über seine Person und seine Umwelt „zurechtgebastelt“.

Wie stellen wir uns heute den europäischen Neanderthaler vor? Er war kräftig gebaut, hellhäutig, hatte rotes oder blondes Haar, kämpfte furchtlos mit dem Mammut oder dem Höhlenbären – ein toller Typ. Auf solch Männer stehen doch Frauen. Kein Wunder, dass sein Erbgut erfolgreich an die Homo sapiens weitergegeben wurde.

Was habe ich eigentlich vom Neanderthaler geerbt? Meine Hellhäutigkeit - bestimmt! Mein dunkelblondes Haar – jetzt „friedhofsblond“? Garantiert: meine Vorliebe für Fleisch!

Der Neanderthaler musste Unmengen an Fleisch zu sich nehmen, um in der letzten großen Eiszeit überleben zu können. Allerdings verkürzte seine Tätigkeit als Großwildjäger sein Leben rapid. 20 bis 30 Jahre, so war seine Lebenserwartung – auch die der Frauen. Denn auch sie waren nicht nur Mütter und Sammler von Pflanzen und Beeren – sie waren auch tüchtige und unerschrockene Jäger. Aber jeder Jäger, der von der Jagd verletzt in die Höhle zurückkehrte, wusste, dass die Menschen seiner Sippe ihn umsorgten, seine Wunden mit Heilkräutern verbanden und er Nahrung erhielt. Nur sehr wenige Neanderthaler konnten damals Enkel aufwachsen sehen. Ein Mensch von 50 Jahren galt damals garantiert als „Methusalem“, als ein weiser Ratgeber, den die ganze Sippe versorgte und pflegte.

Es ist immer wieder erstaunenswert, was Archäologen aus Knochenfunden, aus Pflanzenpollen, aus Steinsplittern und ähnlichen Artefakten an Erkenntnissen gewinnen können. Und noch erstaunlicher ist die Tatsache, dass die Genforschung viele dieser Sachverhalte, die als wissenschaftlich feststehend bezeichnet wurden, in kürzester Zeit über den Haufen warf.

Und immer wieder gibt es neue Überraschungen, mit denen keiner der Wissenschaftler gerechnet hat. Und immer wieder hilft die moderne Gentechnik bei sensationellen neuen Erkenntnissen. So haben russische Archäologen im Altaigebirge (südliches Sibirien) in einer Höhle drei kleine menschliche Fossilien gefunden: einen Fingerknochen, einen Backenzahn, einen Zehenknochen. Die Leipziger Forscher konnten die DNA des Fingerknochens auswerten. Es war die DNA eines bis dahin völlig unbekannten Steinzeit-Menschen, den sie nach der Höhle im Altaigebirge Denisova-Mensch nannten. Er lebte vor 40.000 Jahren in dieser Höhle und ist ein „entfernter Verwandter“ des Neanderthalers und des Homo sapiens. Nachgewiesen lebten in dieser Denisova-Höhle der Homo sapiens, der Neanderthaler und der Denisova-Mensch. Was ist, wenn alle drei Menschengruppen gleichzeitig auch im Altai lebten? Gab es vielleicht nicht nur zwischen Homo sapiens und Neanderthaler „Liebesbeziehungen“? Vielleicht vermachte auch der Denisova-Mensch sein Erbgut dem heutigen Menschen? Und man suchte! Und man fand DNA-Spuren des Denisova-Menschen bei Menschengruppen in Melanesien (Inselgruppe - Pazifischer Ozean)! Man forscht weiter! Und garantiert mit neuen Erkenntnissen! Was ist, wenn unsere Erbanlagen auch von einem weiteren archaischen Menschen, den bisher noch kein Wissenschaftler ausgemacht hat, bestimmt sind?!

Fantastisch – was die Gen-Forschung in Bezug auf die Menschwerdung vollbracht hat! Wie könnte man das Leipziger Forscherteam um Svante Pääbo ehren?

Ich hab’s! Wir nehmen einer noch lebenden Person ihren unverdient erhaltenen Friedensnobelpreis weg und verleihen ihn an die Leipziger. Sie haben bewiesen, dass die „Liebe“ die Menschheit vorangebracht hat! Sie haben bewiesen, dass immer bestimmte Gene der einzelnen Menschengruppen der Menschheit geholfen haben, auch extreme Territorien zu besiedeln und zu überleben. Diese Forscher wären meiner Meinung nach eines Nobelpreises würdig!!!    

 

PS: Im Neanderthalmuseum nahe der Stadt Mettmann steht ein Homo neanderthalensis, bekannt als „Herr Mettmann“, in moderner heutiger Kleidung an der Brüstung und schaut auf die vielen Homo sapiens, auf die Besucher des Museums. Ich stellte mich zu ihm und wir beide schauten, was die Menschen so treiben. Eine Frau sah ständig zu uns - sie blickte zum Herrn Mettmann, sie blickte zu mir. Als ich mich nach einiger Zeit zum nächsten Ausstellungsstück begab, schlich sie sich an den Herrn Mettmann heran und stupste ihn mit den Fingern. Erleichtert lächelte sie und folgte jetzt dem Rundgang.

Ein besseres Lob können die Macher dieses Museum nicht bekommen.