Kinderseite Nr. 2: "Gnome"

"Gnome" Teil II

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Martin setzte sich auf Antons Schultern, Harry stellte sich unter Henny, bereit seine Frau mit seinen Gnomkräften aufzufangen. Martin reichte bis zum Nagel, der mindestens 25 cm aus dem Balken ragte. Er ging mitten durch den Bauch der Gnomfrau. Aber kein Blut oder irgendeine Wunde zeigte an, dass Henny verletzt sei. Mit einem Ruck zog Martin den gewaltigen Nagel aus dem Holz. Der Ruck war so kräftig, dass der ganze Balken erbebte und das Dachgebälk zum Schwingen brachte. Es krachte und knarrte bedrohlich im Gebälk. Noch aber hielt die Konstruktion.

Harry hatte Henny sicher und sanft aufgefangen, setzte sie auf dem Boden ab und umarmte und küsste sie so herzhaft und lange, dass Martin und Anton schon verlegen wegschauten. Dann griff Harry in seine unergründliche Hosentasche und gab Henny einen roten Stein.

„Nimm Henny, es ist unser Stein – unsere Kraft! Gleich wirst du merken, wie dein Augenlicht zurückkehren wird. Dann siehst du die beiden Menschenkinder, die mich aus dem Koffer befreiten, mir halfen, unseren Berg zu finden und versprochen haben, mit uns gegen diesen Schurken Mek zu kämpfen. Siehst du Martin und seinen älteren Bruder Anton schon?“

Henny blinzelte mehrfach, dann lächelte sie sehr freundlich. „Menschenkinder, die uns Gnome helfen? Das gab es noch nie in unserem Reich!“

„Es gab es auch noch nie, dass ein Gnom seinen Stein zerschlug und ihn Menschenkindern gab“, erwidere Harry.

Jetzt staunte Henny. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie ihren Mann an: „Unseren Stein - unsere Kraft?!“

„Ja, unseren Stein! Er zersprang in vier Teile! Jeder von uns trägt jetzt einen bei sich und damit, mit dieser Kraft der Gnome und der Menschen, können wir Mek bezwingen.“

Henny schüttelte immer noch verwundert ihren Kopf. So etwas Gewaltiges zu tun, hatte sie ihrem Harry nicht zugetraut. Sie wollte antworten, doch Harry ergänzte seine Rede: „Und stell dir vor, sie können zu zweit Teile zusammenfügen! Das kann doch sonst nur der Mek!“

„Teile zusammenfügen?! Wirklich?!“ Henny war fassungslos.

„Ja, und nun lass uns unseren Feind bestrafen!“, sagte Harry sehr energisch und griff nach Hennys Hand.

Doch die weigerte sich, mitzugehen. „Fünfzig Jahre war ich eingesperrt und elf davon mit einem Nagel durchbohrt. Jetzt muss ich erst einmal schauen, wie ich aussehe.“

Sie ging zu der Stelle der Scheune, wo das Dach ein riesiges Loch hatte, blickte in die Pfütze, die sich vom Regenwasser gebildet hatte und jammerte: „Nein, wie hässlich ich geworden bin! Oh weh, wie sehe ich nur aus! So kann ich doch nicht unter Gnome gehen! Und Menschenkinder müssen doch in mir ein Scheusal sehen!“

„Alle umdrehen!“, befahl sie. Harry und die Jungs taten das. Die Brüder hörten Harry murmeln: „Oh, diese Frau. Jetzt denkt sie an Schönheit!“

Henny hörte ihn nicht, dafür hörten die Drei Wassergeplätscher und eine Henny, die kurz darauf mit freundlicher Stimme fragte: „Na, wie sehe ich aus?“

Harry und die Kinder sahen eine anmutige junge hübsche Frau, sauber und adrett gekleidet, zwar in einer Mode, die die Menschen vor einigen Hundert Jahren trugen, aber sie schien direkt für Henny geschneidert zu sein.

„Oh, meine Henny!“, jubelte Harry. „Du siehst so hübsch aus, wie zu unserer Hochzeit!“

„Genug des Lobes“, antwortete ihm Henny mit strahlendem Gesicht. Wir wollen jetzt diesen Bösewicht bestrafen.“

Vor der Scheune fragte Anton: „Wisst ihr denn, wo der Mek jetzt ist?“

„Oh ja“, antwortete ihm Harry, „seinen Berg sieht man aus jeder Richtung. Den sieht sogar ein Gnom bei Tageslicht! Und außerdem sendet dieser Berg eine Strahlung aus, die jedem, ich meine natürlich jedem Gnom, anzeigt: Hier ist die Macht! Hier bin ich - der Obergnom Mek! Sieh Anton, dort hinter dem ersten Hügel muss sich der `Weiße Stein´ erheben. Es ist der höchste Berg im Gnomenland.“

„Der höchste Berg? Martin, ich glaube Harry meint den `Melibok´.“Anton war sich seiner Sache sehr sicher.

Henny bewies jetzt, dass sie einen scharfen Verstand besaß. „Melibok? Melibok?“, murmelte sie. Dann schrie sie hinaus: „So also hat dieser Gnom sich den Namen Mek zugelegt! Er hat Menschen belauscht und sich den Menschennamen für den `Weißen Stein´ als Namen für seine Macht gegeben. Uns hat dieser Obergnom eingeredet, dieser Name sei ihm vom `Großen Geist´ verliehen worden. So ein Betrüger! Ein Halunke! Und ein Tyrann!“

„Was hat denn Melibok mit Mek zu tun?“, fragte Harry erstaunt.

„Aber Harry, streng deinen Kopf ein wenig an. Na? Weißt du es jetzt?“ Harry verneinte.

„Nimm die ersten beiden Buchstaben, na ... m und e und dann den letzten. Füge sie zu einem neuen Wort zusammen. Jetzt ...?“

„Ach, was bist du doch für ein kluges Weib“, strahlte Harry. Und sich an die Brüder wendend, rief er freudig aus: „Habe ich nicht eine dreimal kluge Frau geheiratet! Und eine hübsche dazu!“

„Lass gut sein, mein lieber Harry“, säuselte Henny sehr angetan vom Lob ihres Mannes. „Eile du voraus, die Menschenkinder nehmen wir in die Mitte. So können wir sie nicht verlieren. Ich laufe am Ende. Am großen Felsen treffen wir uns. Auf geht's!“

Und alle Vier stürmten los. Anton und Martin hatten wieder Mühe, diesem Wirbelwind Harry zu folgen. Aber auch seine Henny war eine exzellente Läuferin. Immer und immer wieder fragte sie: „Geht es noch? Könnt ihr noch eilen?“

„Ja, wir können noch“, antwortete Anton mit keuchendem Atem. Auch, wenn die Menschenkinder in einem unheimlichen Tempo über Wiesen, Felder, Waldwege und sogar Autobahnen liefen, den Harry konnten sie nie erreichen. Um Harry nicht aus den Augen zu verlieren, sind sie sogar auf der Autobahn über die fahrenden Autos gesprungen, sodass ihnen Henny ein großes Lob für ihre Geschicklichkeit aussprach.

An einem mächtigen Felsvorsprung erwartete sie Harry. Ihm sah man keinerlei Anstrengung an. Dafür japsten die Brüder nach Luft. „Oh, waren wir schnell!“, stöhnte Anton. Das waren doch bestimmt 30 Kilometer?! Wenn ich nur halb so schnell in der Menschenwelt laufen könnte!“

„Ja“, antwortete ihm Henny, „mein Harry ist der beste Läufer im ganzen Gnomenland.“ Und schelmisch fügte sie hinzu: „Deswegen habe ich ihn auch zum Mann genommen.“

Harry hörte diesem Gespräch nicht zu. Er war bereits um den Felsvorsprung gegangen, um den Eingang zu Meks Reich zu finden. Aber wie er auch seine Augen anstrengte, keine Spalte, kein Riss im Felsen deutete auf den Eingang hin.

„Das kann es doch nicht geben, Henny?!“, rief er verzweifelt. „Mek hat doch garantiert seine Macht nicht aufgegeben! Er hat doch bestimmt wieder eine Gemeinheit vor. Oder er weiß, dass wir ihn für seine Lügen und Schandtaten bestrafen wollen, und hat sich deswegen eingesteint.“

„So kann es sein“, murmelte Henny. Sie grübelte über etwas nach. Dann kletterte sie auf den Berg bis zur großen Eiche.

Martin fragte inzwischen Harry, was man unter „einsteinen“ versteht. Und Harry erklärte es den Kindern: „Ein Gnom kann bei Gefahr alle Eingänge schließen. So ist er geschützt, zugleich aber auch Gefangener im eigenen Stein. Er ist `eingesteint´!“

„Hast du dich auch schon mal eingesteint?“, fragte ihn Anton.

„Nein, noch nie“, bekam er zur Antwort. „Der Gnom, der dies tut, riskiert sein Leben. Nur der Herr des weißen Steines, also dieser Mek, hat die Macht, das Einsteinen ohne Gefahr an Leib und Leben zu überstehen.“

Aufgeregt kam Henny zu ihnen geeilt. „Ich habe mich nicht getäuscht! Ich habe es auch nicht vergessen! Harry, als uns Mek verbannte, sandte mir der Älteste, der Herr des `Violetten Steines´ einen Gedankenfetzen: `Alte Eiche! Alte Eiche! Alte Eiche!´ Wieder und immer wieder! Ich hatte mich darüber sehr verwundert. Jetzt habe ich die Antwort. An der alten Eiche fand ich diese Botschaft.“ Sie zog ein buntes Tüchlein aus ihrer Rocktasche. „Weißt du, was das heißt?“ Sie schaute Harry fragend an. Diesmal verstand Harry sofort: „Versammlung auf dem `Bunten Stein´! Auf geht´s!“

Und wieder ging es über Stock und Stein. Auf dem Gipfel des „Bunten Steines“ wurden sie von den anwesenden Gnomen mit einer tiefen Verbeugung begrüßt. Der Älteste, er besaß einen langen weißen Vollbart, trat würdevoll zu den Ankömmlingen. Mit sanfter und wohlklingender Stimme sagte er: „Wir warten schon den zweiten Tag auf euch. Seid herzlich willkommen! Willkommen in eurer Heimat! Willkommen bei uns!“ Und er verbeugte sich wieder sehr würdevoll. Auch Harry und Henny taten es ihm gleich und verbeugten sich mehrmals. Anton flüsterte Martin zu: „Du, das ist ein Ritual. Wir verneigen uns auch. Das ist bestimmt nicht falsch.“ Und die Brüder verbeugten sich auch mehrmals vor dem alten Gnom. Zur Verwunderung der Menschenkinder beantwortete nicht nur der Alte ihre Verbeugung, nein alle Gnome - Männer, Frauen und Kinder - verbeugten sich dreimal und die Jungs vernahmen ein Raunen: „Willkommen seid ihr Menschenkinder im Gnomenreich! Wir danken euch für die Befreiung unseres Bruders und unserer Schwester! Willkommen und Dank!“

Verlegen versuchte Martin, sich hinter Anton zu verbergen. Der Grund dafür: Ein Gnomkind kam zu ihm und legte ihm ein buntes Tuch in die Hände. „Danke für die Befreiung unserer Schwester! Willkommen als Gnom auf dem `Bunten Stein´!“.

Auch Anton bekam ein buntes Tuch überreicht. Ihm wurde für die Befreiung des Harrys aus seinem Koffer gedankt. Und natürlich wurde er auch als Gnom auf dem „Bunten Stein“ willkommen geheißen.

Der alte Gnom sprach jetzt direkt Anton und Martin an: „Seid ihr jemals in Gefahr, dann wickelt den roten Stein, Harrys Stein, in das bunte Tuch. Es wird eure Kräfte für eine kurze Zeit verdoppeln.“

„Ihr wisst, was ich tat?“, fragte jetzt Harry sehr erstaunt.

„Wir wissen und zwar alles!“, antwortete der Älteste. „Wir wissen, dass du etwas getan hast, was noch nie ein Gnom tat. Wir wissen auch, dass du die Menschenkinder geprüft und für würdig befunden hast! Wir wissen, dass du dies tatest, um Recht für Unrecht zu setzen. Ausdrücklich heißen wir dein Tun richtig. Das hat die Vollversammlung beschlossen.“

Dem Harry sah man an, dass ihm ein „großer Stein“ vom Herzen fiel. Immer und immer wieder hatte er sich gefragt, ob sein Handeln richtig war. In seinem Reich, tief unten im „Roten Stein“, folgte er einer Eingebung, war sich aber nicht sicher, Richtiges zu tun.

Auch Henny strahlte vor Freude und drückte ihren Harry.

Der Alte bat jetzt die Gnome und die Brüder zur Versammlung. Alle setzten sich ins weiche Gras. Martin und Anton bemühten sich, in Harrys Nähe einen Sitzplatz zu nehmen. Doch der Alte forderte sie auf, den Ehrenplatz auf dem Stein einzunehmen. So mussten sie wohl oder übel Harry und Henny verlassen und thronten auf dem Stein sitzend über den versammelten Gnomen.

Der Alte führte weiter das Wort. Da sich ihr ehemaliger Obergnom eingesteint hatte, bat er alle Anwesenden um ihre Vorschläge, wie man Mek in seinem Stein bezwingen könnte. Doch kein einziger Vorschlag wurde angenommen, denn immer und immer wieder hörten die Brüder den Alten sagen: „Dazu reicht die Kraft eines Gnoms nicht aus.“

„Martin“, flüsterte Anton, „wenn die Gnome den Mek nicht bezwingen können, vielleicht können wir es. Wir sind doch Menschen!“

Und Martin antwortete ihm sehr laut: „Mach doch den Vorschlag!“

Alle Blicke waren sofort auf die Menschenkinder gerichtet. „Ihr möchtet uns etwas sagen? Sprecht nur und habt keine Scheu!“

Anton räusperte sich. „Vielleicht können wir Menschen Mek bezwingen. Wir haben Gnom-Kräfte und sind doch Menschen!“

Ein Raunen ging durch die Reihen der Gnome. Mit einer solchen Variante des Kampfes konnten sich die Gnome nicht anfreunden. So sprach auch der Älteste: „Nein, auch eure Kraft reicht nicht aus!“

„Aber wir beide zusammen haben dieselbe Kraft, wie Mek. Wir können zwei Dinge zusammenführen. Das kann außer Mek kein Gnom! Stimmt doch Harry?“

Und ihr Freund Harry bestätigte die ungeheure Kraft, die in den Brüdern schlummerte. Als er erzählte, wie die Brüder die Schale zusammengefügt hatten, ging wieder ein Raunen durch die Reihen der Gnome. Ein noch junger Gnom rief: „Vielleicht können sie doch gemeinsam den Mek bezwingen! Sollen sie es doch probieren, wenn sie den Mut dafür haben!“

Die fragenden Blicke der Gnome musste Harry beantworten. „Ja“, sagte er, „sie sind mutige, ehrliche und beherrschte Menschenkinder.“

Nach einer sehr langen Pause, wandte sich der Alte direkt an die Brüder: „Würdet ihr diesen Kampf für uns wagen? Mek ist gefährlich, hinterhältig, verfügt aber über ungeheure Kräfte, die wir nicht besitzen. Würdet ihr für uns eurer Leben riskieren?“

Jetzt wurde den Brüdern bewusst, dass dies ein richtiger Kampf werden könnte. „Leben riskieren“ hatte der Alte gesagt. Martin schaute fast hilflos zu seinem großen Bruder. Anton sagte mit sehr ernstem Gesicht: „Martin, wenn wir beide als Brüder zusammenhalten, kann Mek uns nicht bezwingen. Wir beide schaffen es. Wir werden Mek besiegen. Ich fühle es!“

Anton nickte Martin zu, der nickte jetzt auch zustimmend. So erklärte jetzt Anton den Gnomen: „Wir sind bereit zum Kampf! Sagt, was wir tun können!“

„Als Erstes müsst ihr eure Kraft testen. Mek hat sich eingesteint. Versucht, den Felsen zu öffnen!“

Anton und Martin schritten zu dem Felsen. Jeder suchte sich einen guten Vorsprung im Stein und auf Antons Kommando hin wollten sie den Felsen so öffnen. Die Gnome starrten auf die Jungs. Es war, als würden sie versuchen, mit ihren Blicken den Kindern noch ihre eigene Kraft geben zu wollen. Und bereits der erste Versuch war erfolgreich. Mit großer Anstrengung gelang es ihnen, den Berg zu öffnen.

Ein Freudentanz brach unter den Gnomen aus. „Das sind Menschen! Sie sind dem Mek nicht nur ebenbürtig, nein überlegen sind sie ihm!“, schrie der junge Gnom, eilte zu den Brüdern und drückte ihnen die Hände.

Auch der Alte war sehr beeindruckt. Schnell stellte er die Ruhe wieder her. „Ihr habt uns überzeugt! Ihr verfügt über mehr Kräfte, als jeder von uns. Unsere guten Wünsche begleiten euch, denn kein Gnom kann mit euch in den Stein gehen. Um Mek seine Kraft zu nehmen, müsst ihr den weißen Stein zerschlagen. Wie wir unseren ehemaligen Obergnom kennen, wird er mit Hinterlist und Falschheit versuchen, euch davon abzubringen. Also seid auf der Hut! Achtet immer auf seine Augen. Dort könnt ihr seine Falschheit am besten erkennen.“

Alle Gnome erhoben sich. Sie sangen ein Lied in einer Sprache, die Martin und Anton nicht kannten. Aber bereits beim Singen der ersten Strophe fühlten die Brüder eine angenehme wohlige Wärme in sich, die sich dann in dem Gefühl der Geborgenheit und des Schutzes ausdrückte.

Dann wurden Anton und Martin verabschiedet. Nach einem uralten Ritual der Gnome erhielten sie einen Trank, indem alle anwesenden Berggeister einen kleinen Edelstein in klares Wasser taten. Das Glas mussten die Jungs gut schwenken, um dann den Inhalt, natürlich ohne Steine, in einem Zuge hinunterzukippen. Damit sollte die Schutzwirkung gegen feindlichen Zauber erhöht werden. Andere Kräfte konnten ihnen die Gnome nicht mehr mitgeben.

Als die Brüder zum Fels gingen, erhoben sich alle Gnome und verbeugten sich tief. Martin und Anton hatten dafür keinen Blick mehr übrig. All ihre Gedanken waren auf diesen bevorstehenden Kampf gerichtet. Als Erstes erweiterten sie die Spalte im Fels und begaben sich, immer und immer wieder die Felsen zur Seite drückend, tiefer und tiefer in Meks Reich. So wie einst Harry im Berg selbst leuchtete, so leuchteten auch die Brüder selbst. Um sich nicht zu verirren, denn sie mussten ja die Kernhöhle des Meks erreichen, ließen sie sich von kleinen Nebengängen, die immer wieder sichtbar wurden, nicht ablenken. „Immer gerade aus, dann kommt ihr direkt zu Mek. Jeder Gnom baut seine Höhle auf die gleiche Art und Weise. Ihr könnt euch nicht verirren.“ Das hatte ihnen der Alte per Gedankenübertragung noch mit auf den Weg gegeben. Und sie richteten sich genau nach dieser Anweisung.

Nach vielen Hundert Metern öffnete sich der Gang – Meks Höhle lag direkt vor ihnen. „So Martin, jetzt kommt der Kampf. Und ich weiß, wir werden Mek besiegen! Gehen wir zu Mek!“

Und sie gingen in das Zentrum der Höhle. Dort auf einem steinernen Thron saß Mek, der Obergnom. Er war ausgesprochen hässlich. Seine lange Nase, das vorstehende Kinn, die wässrigen Augen waren die hervorstechenden Merkmale des Berggeistes. Jetzt begann er mit hoher Fistelstimme zu sprechen: „Viele Hundert Jahre wartete ich schon auf Besuch. Es freut mich, Menschenkinder zu begrüßen. Kommt und setzt euch.“

Er winkte die Jungs mit einem ungewöhnlich langen Zeigefinger zu sich. Dann zeigte er auf zwei Steine, die seinem Thron gegenüberlagen. Die Brüder setzten sich. Mek lächelte freundlich. „Besucher, die Mek erfreuen, werden immer reich beschenkt. Schaut, das ist für euch: Die erlesensten Steine - verkauft sie und ihr seid reiche Leute. Nehmt alles, was ihr hier seht.“ Und er zeigte auf einen Haufen bunter Edelsteine, die zu glitzern und glänzen begannen. Der rote Rubin versprühte Feuer, der blaue Topas schien das Himmelblau eingefangen zu haben, die Saphire erstrahlten daneben im klaren Blau und der grüne fast faustgroße Smaragd schien alleine schon ein Vermögen wert zu sein. Oben auf dem Steinhaufen lag der König der Edelsteine – der Diamant. Er funkelte und glitzerte so, dass er die Augen blendete.

„Behalte deine Schätze, Mek!“ Anton war bemüht, sehr forsch zu sprechen. „Wir wollen nur den `Weißen Stein´, sonst nichts!“

Kaum war das Wort “Weißer Stein“ gefallen, brüllte Meks so gewaltig auf, dass es in den Ohren der Jungs dröhnte. „Nie und nimmer! Ihr wollt meine Macht! Nehmt das dafür!“

Und ehe Anton und Martin antworten konnten, rollten mächtige Steine auf die Jungs zu. Noch konnten sie ihnen mit gewaltigen Sprüngen ausweichen, doch dann ließ Mek Steine von der Höhlendecke fallen. Ein Stein traf Martin so unglücklich, dass er bewusstlos von Meks zufriedenem Grinsen begleitet zu Boden sank. Anton konnte seinem Bruder nicht helfen, denn jetzt musste er die Kraft des Meks erst einmal lähmen. So hob er mit seinen gewaltigen Gnomkräften Steine auf und bewarf damit den hässlichen Berggeist. Anton warf so schnell und so geschickt, dass Mek mit der Abwehr des Angriffes voll beschäftigt war und keine anderen Zauber ausführen konnte. Ein Wurf gelang Anton, um den Gnom außer Gefecht zu setzen. Er traf den Gnom voll auf dem Kopf und betäubte ihn. Jetzt konnte Anton sich um seinen verletzten Bruder kümmern. An der Stirn klaffte eine Fleischwunde, aus der ein wenig Blut austrat. Anton holte in seinen Händen aus einer klaren Quelle Wasser und träufelte es über Martins Gesicht. Der schlug sofort die Augen auf. Doch er brauchte einige Augenblicke, um sich zu orientieren. „Mir brummt der Schädel, Anton. Was ist passiert?“, fragte er.

Mek hat uns mit Steinen bombardiert. Du wurdest am Kopf getroffen.“

Jetzt war Martin hellwach. „Mek, wo ist Mek!“, schrie er. „Beruhige dich, Martin.“ Anton redete besänftigend auf Martin ein. „Ich konnte ihn außer Gefecht setzen. Noch schläft er. Wir müssen ihn im Auge behalten. Martin, nimm dein buntes Tuch und wickele Harrys Stein darin ein. Ich werde es genauso machen. Damit können wir unsere Kräfte für eine kurze Zeit verdoppeln.“ Und so taten es die Brüder. Martin fühlte, kaum, dass er den Stein berührt hatte, ein warmes wohltuendes Gefühl im ganzen Körper. Sein Schädelbrummen verstummte und Anton konnte sehen, wie sich die Stirnwunde schloss, zu bluten aufhörte und wenige Augenblicke später nur noch eine fast unsichtbare Narbe noch zu erkennen war.

„Das sind wahre Wunderkräfte!“, rief Anton. Martin tastete seine Stirn ab. „Ich fühle keinen Schmerz. Mir ist, als wäre nie etwas geschehen!“, antwortete Martin.

Anton übernahm wieder die Führung. „Wir müssen Mek im Auge behalten, denn noch ist er mächtig. Ich bleibe hier und bewache ihn. Martin, du musst versuchen, den `Weißen Stein´ zu finden. Dann können wir in die zweite Kampfrunde gehen.“ Und so ging Martin und suchte das Versteck des „Weißen Steines“.

Er brauchte nicht lange suchen. Mek hatte den „Weißen Stein“ hinter einer Felswand versteckt. Der Stein leuchtete aber so hell, dass durch Ritzen und Spalten im Fels das Licht Martin den Weg zeigte. Für ihn war es eine Kleinigkeit, die nur grob geschaffene Felswand zu zerstören. Jetzt sah er den „Weißen Stein“. Eine solche Pracht, solch ein Glitzern und Leuchten hatte Martin noch nie gesehen. Dann streckte er die Hand nach dem Stein aus. Kaum hatte er ihn berührt, erfüllte ein fürchterliches Gebrüll die Höhle. Mek raste wie irrsinnig. Er beschmiss Anton mit Steinen, sandte einen Zauberfluch nach dem anderen gen Anton, doch irgendwie hatten diese Zauber keine Kraft mehr. Hatte Mek bereits einen Teil seiner Kraft verloren? Das, was er jedenfalls noch besaß, reichte aus, um Anton in Schwierigkeiten zu bringen. So rief Anton nach Martin, der sofort angerast kam. „Wir müssen den Mek bändigen. Hast du eine Idee?“, fragte Anton. Und Martin nickte: „Kein Gnom kann von Menschen Geschaffenes zerstören. Erinnerst du dich an den Nagel, den Harry nicht herausziehen konnte. Wir müssten Mek fesseln.“

Gesagt, getan! Anton zog seinen Gürtel aus der Hose und in einem günstigen Augenblick warfen sie sich auf den Gnom. Der zappelte, strampelte und biss um sich. Die Jungs umwickelten den Ledergürtel so oft es nur ging um den Berggeist. Bald lag er gebündelt vor ihnen. Nun befahl Anton dem Gnom, sie zum „Weißen Stein“ zu führen. Fluchend und böse Zauber gegen die Jungs aussprechend trippelte Mek zu seinem Stein. Doch wie wunderte sich Martin. Der „Weiße Stein“ lag zwar noch an seinem Platz, wurde jetzt aber von einem Käfig aus reinstem Gold umschlossen. Anton, der versuchte, den Käfig zu öffnen, zog aufschreiend die Hand zurück. Der scheinbar goldene Käfig glühte nur in der Farbe des Goldes. Antons Hand schmerzte furchtbar. So griff er schnell nach Harrys Stein in der Hosentasche und sofort merkte er, wie der Schmerz nachließ und die Hand verheilte.

Schadenfroh verfolgte Mek das Geschehen. „Nie bekommt ihr meinen Stein! Seht, diesen Zauber kann außer mir kein Gnom und erst recht keine widerlichen, kleinen, anmaßenden Menschenkinder. Seht!“

Ein goldener Schlüssel löste sich aus der Tür und zerbrach in der Luft in zwei Teile. „Den könnt ihr nicht zusammenfügen, das kann nur der Große Mek! Nie bekommt ihr meinen Stein, meine Macht!“

„Na, dann schau mal her, Mek. Sieh, was wir können!“ Anton winkte Martin zu sich. Beide nahmen sehr vorsichtig einen Teil des Schlüssels. Die Schlüsselteile waren eiskalt. Die Brüder führten die Teile zusammen. Der Schlüssel glühte, ohne aber die Jungs zu verbrennen. Mek, dies sehen, fluchte zuerst, dann ging das Fluchen in Gewimmer über. Er krümmte sich, als würde er riesige Schmerzen erleiden. Während Anton Mek nicht aus den Augen ließ, schloss Martin den Käfig auf und nahm den „Weißen Stein“. Vorsichtig trug er ihn in die große Halle. Dort stand ein Ambossstein und in einer Nische lag ein riesiger Hammer, wie die Jungs solch einen schon bei Harry gesehen hatten. „Willst du ihn zerschlagen, Anton!“, rief Martin. „Mach es selbst, ich habe Mek“, antwortete ihm Anton.

Und Martin holte zum Schlag aus. Mit einem gewaltigen Donnerknall zersprang der Stein in Tausend Teile. Der Schlag war so gewaltig, dass der ganze Berg erschüttert wurde. Später erfuhren die Brüder, dass ein gewaltiges Grollen, das die Gnome draußen vor dem Berg hörten, ihnen verkündete: Der „Weiße Stein“ ist zerstört, Meks Macht ist dahin! Sofort führten die Gnome Freudentänze auf.

Mit Mek gingen inzwischen seltsame Vorgänge vor. Er hörte auf zu wimmern, sein ganzer Körper nahm die Farbe des Höhlengesteins an und die Brüder konnten sehen, wie von den Füßen her, Mek zu Stein wurde. Antons Gürtel fiel zu Boden. Als Anton seinen Gürtel aufnahm, berührte er Mek vorsichtig. Doch er fühlte nur kalten Stein.

„Martin, wir haben es geschafft! Lass uns schnell nach draußen gehen!“

Der Weg nach draußen war ohne Hindernisse. Ja, die Brüder hatten das Gefühl, war ein Gang zu schmal, so öffnete er sich selbstständig. Vor dem Eingang standen alle Gnome. Als sie Anton und Martin erblickten, begann ein Freudengeschrei. Die Berge widerhallten von den Rufen und dem Lachen der Gnome. Der Älteste hatte sichtbar Mühe, die Ruhe wieder herzustellen. Als es ihm nach mehreren Versuchen endlich gelang, verneigte er sich vor den Menschenkindern und dankte ihnen. Am Ende seiner Rede sagte er: „Wir Gnome werden das, was ihr für uns getan habt, nie vergessen. Wir werden euer Leben mit unseren guten Wünschen begleiten.“ Noch wussten die Brüder nicht, was er damit meinte. Später ahnten sie, dass es Gnome mit ihren besonderen Fähigkeiten sind, die ihnen oft hilfreich beistanden.

Als der Alte endete, wurden die Brüder gebeten, ihren Kampf zu schildern. Als Anton dann erwähnte, dass Mek zu Stein wurde, ging ein Raunen durch die Reihen der Gnome. Harry flüsterte den Jungs zu: „Mek ist auf tausend Jahre verbannt. Das ist seine selbst gewählte Strafe.“

Noch einmal ergriff der Älteste das Wort. „Hört, ihr Gnome! Unser Herrscher ist zu Stein geworden. Wir wählen uns unseren neuen Herrn. Ich schlage euch Quickladonabiluduumkaretonakar vor. Er hat bewiesen, dass er Mut und Entschlossenheit besitzt. Er wäre ein gerechter Herrscher.“ Die Gnome klatschten Zustimmung. Die Jungs schauten sich um, wer wohl diesen sonderbaren Namen besitzt. Zu ihrem Erstaunen erhob sich ihr Freund Harry. Verlegen ging er zu dem Alten. „Hört, ihr Brüder und Schwestern, ihr Freunde! Was Macht aus einem Gnom machen kann, hat uns Mek gezeigt. Brauchen wir überhaupt einen Herrn? Wenn wir etwas zu besprechen und zu entscheiden haben, treffen wir uns hier und der Älteste unter uns soll den Vorsitz unserer Versammlung führen.“

Die Gnome schwiegen. Dann ergriff der junge Gnom das Wort: „Ich finde den Vorschlag von Harry gut. Ich wäre dafür.“ Auch die anderen Gnome stimmten zu. So konnte der Alte die Versammlung der Gnome mit dem Satz „Es war heute ein guter Tag für unser uraltes Geschlecht!“ beenden.

Als Harry sich wieder zu seinen Menschenfreunden begab, fragte ihn Martin: „Haben alle Gnome so seltsame Namen und warum nennst du dich dann Harry?“

Henny lächelte und antwortete für ihren Mann: „Alle Gnome haben sehr, sehr lange Namen - für menschliche Zungen oft nicht aussprechbar. Unser Harry belauscht gern Menschen. Und einmal hat er ein junges Liebespaar belauscht. Der junge Mann hieß Harry und sein Mädchen Henny. Er hat mir erzählt, wie liebevoll die beiden zueinander waren. Er meinte, wir wären auch solch ein Liebespaar und gab uns die Namen der Menschen.“ Harry lächelte verlegen, erhielt aber sogleich einen Kuss von seiner Henny.

Anton spürte mit einem Male eine seltsame Unruhe. Er sagte dieses Harry und der rief den Gnomen zu: „Anton und Martin müssen zurück ins Menschenreich!“

 Alle Gnome verstummten. Sie erhoben sich und begannen wieder ein Lied zu singen. Und wieder spürten die Brüder ein wohliges Gefühl, ein Gefühl der Geborgenheit und des Schutzes. Am Ende riefen alle Gnome im Chor: „Danke für alles! Unsere guten Wünsche begleiten euch!“

Dann wurde es den Brüdern ganz schwarz vor Augen. Als sie wieder sehen konnten, standen sie auf der Terrasse. Ihre Mutter kam gerade heraus. „Gut, dass ihr pünktlich seid. Das Essen steht auf dem Tisch.“

„Wir kommen!“, antwortete Anton. Er wandte sich zu Martin und flüsterte: „Hast du noch den Stein und das Tuch?“ Martin kramte und holte den roten Stein, Harrys Stein, hervor. „Hier ist der Stein, aber das Tuch fehlt.“

„Meins ist auch weg. Nach dem Essen schauen wir nach, um was für einen Stein es sich handelt.“

Und recht schnell fanden sie im Mineralienführer ihren Stein. Es war ein blutroter Granat, ein Stein, der zum „heiligen“ Stein der Brüder wurde.