Kinderseite Nr. 2: "Der goldene Becher"

"Der goldene Becher"   Teil I

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von Joachim Größer (2007)

 

„Anton, ich bin so aufgeregt! Ich schaff das nicht!“, flüsterte Martin seinem großen Bruder zu. Der antwortete ihm genauso leise: „Du machst den Ersten! Du schlägst sie alle! Du warst nicht nur der Beste deiner Klasse, sondern der ganzen Schule! Geh noch mal in Gedanken deine Geschichte durch und hör nicht auf die Erzählungen der anderen.“

Martin schloss die Augen. Fast schien es, er wäre eingeschlafen – wären da nicht seine Hände, die nervös seine „innere Erzählung“ begleiteten.

„Du bist dran!“, zischte Anton. „Martin! Du bist dran!“ Erst der dritte Aufruf und ein Puff in die Rippen ließen Martin hochschnellen. „Komme ich jetzt schon dran?“, fragte er erschrocken.

„Geh schon auf die Bühne! Los, beweg dich!“ Martin bekam noch einen brüderlichen Schubs und dann stolperte er auf die Bühne. Klein, hilflos, verlassen kam er sich vor.

„Was will ich hier? Warum habe ich mich nur gemeldet! Ich bekomme bestimmt kein Wort heraus!“ - So dachte der 10-jährige Martin. Dann hörte er ganz von fern her eine Stimme, die seinen Namen und seine Schule nannte. Und noch während der Ansager sprach, begann Martin mit seiner Erzählung. Das heißt, er glaubte zu sprechen. Zu hören war nur ein komisches Kratzen, ein Räuspern. Vielleicht kam das auch nur von seiner Hand, die das Mikrofon hielt und einfach das tat, was sie nicht tun sollte, nämlich sich vor Aufregung zu schütteln.

„So, nun lauschen wir der Erzählung des Martins, Schüler der 4. Klasse!“, sagte der Ansager. Martin räusperte sich ganz laut und begann seine Erzählung. Doch bereits nach zwei Sätzen kam ein Zuruf der Zuhörer: „Lauter! Wir verstehen dich nicht!“

Und so begann Martin zum dritten Male. Jetzt sprach er ruhiger und lauter, riskierte einen Blick zu seinem Bruder. Der nickte und strahlte übers ganze Gesicht. „Der Start ist also geglückt“, sagte sich Martin und seine Worte sprudelten jetzt nur so aus seinem Mund. Er erzählte und erzählte, wurde selbst zum Helden seiner märchenhaften Erzählung, und als er mal wieder einen Blick in die Zuschauerreihen riskierte, sah er dort die Schüler der ersten und zweiten Klasse mit hochrotem Gesicht und aufgerissenen Augen ihm zuhören. „Jetzt bring ich die Geschichte zu Ende!“ Dieser Gedanke beflügelte ihn. Und er brachte seine Erzählung zu Ende. Donnernder Applaus, Füßegetrappel und einzelne Pfiffe sagten ihm: „Gut gemacht.“

„Gut gemacht, Martin!“, sagte auf seinem Platz Anton und schlug seinem kleinen Bruder mächtig auf die Schulter. „Ich bin richtig stolz auf dich, Brüderchen!“

Während die Jury tagte, lief ein Zeichentrickfilm. So richtig genießen konnte Martin diesen Film, obwohl die Helden Tom und Jerry zu sehen waren, nicht. In Gedanken ging er noch mal seine Geschichte „Im Kopfe“ durch, prüfte, ob er nicht etwas vergessen hatte, stellte dann aber zufrieden fest: „Alles gesagt! Nichts vergessen!“ Später, auf dem Nachhauseweg meinte Anton dann sogar, dass er noch viele Ergänzungen während des Erzählens hineinfabuliert hätte. Er, Anton, kannte die Variante jedenfalls nicht.

Nun trat der Vorsitzende der Jury vor. Er begann mit dem dritten Platz. Martin war nicht dabei. Dann nannte er den zweiten Sieger. Wieder war Martin nicht dabei. Und auch zum Sieger dieses Erzählwettbewerbes wurde Martin nicht gekürt. Höflicher Applaus begleitete die drei Prämierten auf ihre Plätze. Enttäuscht stand Martin auf und wollte den Saal verlassen.

„Halt, Martin! Wohin?!“, rief der Vorsitzende der Jury. „Auf die Bühne, nicht nach draußen! Komm!“ Verwundert stolperte Martin auf die Bühne. „Was sollte er hier? Die anderen haben doch die Preise bekommen!“ Das waren seine Gedanken, während er auf die Dielen der Bühne starrte. Wie vorhin hörte er nur von fern die Stimme des Vorsitzenden. Jetzt wurde sein Name genannt und was sagte der Mann da: „ Martin ist von allen 20 Mitgliedern der Jury zum Empfänger des Dichterlorbeers gekürt worden. Seine Erzählkunst war für sein Alter beeindruckend, seine selbst erfundene märchenhafte Erzählung hatte Witz, war logisch aufgebaut und es wurden keine bekannten Märchen kopiert. Herzlichen Glückwunsch Martin!“

Jetzt stand Martin mit hochrotem Kopf auf der Bühne. Ihm wurde ein grüner Lorbeerkranz aufgesetzt. Heftiger Applaus der Zuhörer bestätigten der Jury, dass der Richtige zum „Dichterkönig“ gekürt wurde. Alle Mitglieder der Jury gratulierten ihm. So viele Hände hatte er noch nie geschüttelt. Ganz zum Schluss kam ein kleiner alter Mann auf ihn zu. „Brav erzählt!“, murmelte er sehr leise, aber noch so laut, dass Martin ihn verstehen konnte. „Nimm diesen goldenen Becher als Lohn für deine Erzählung.“ Er reichte Martin den Becher und flüsterte dann so leise, dass Martin mehr erahnte, als dass er die Worte hörte. Und doch waren sie in seinem Kopf – die Worte des kleinen, alten Mannes mit dem weißen schütteren Bart: „Um Mitternacht drei Schluck Wasser aus diesem Becher getrunken und du reist in die Welt der Märchen. Drei Schluck beim ersten Hahnenkrähen und du wirst wieder in die Menschenwelt zurückkehren!“ Kaum war das letzte Wort gesagt, drehte sich der Alte um und verließ mit zittrigen Beinen die Bühne. Verwundert schaute ihm Martin nach.

Stolz trug Martin seinen Lorbeerkranz als Dichterkönig nach Hause. Doch immer wieder kamen ihm die Worte des Alten in den Sinn. Abends im Bett hielt er es nicht mehr aus und musste Anton von dem Alten, seinem Geschenk und seinen Worten erzählen. Als Anton meinte, dass er bestimmt zur Jury gehörte, verneinte Martin dies energisch, da er den Vorsitzenden die anderen Jury-Mitglieder fragen gehört hatte, wer der Alte sei. Keiner kannte, keiner hatte ihn zuvor gesehen!

„Na, dann probier es doch einfach aus!“, meinte Anton lakonisch. Er war viel zu müde, um sich mit Martin über nicht existierende Alte zu unterhalten.

„Das möchte ich doch, Anton!“, erwiderte Martin „Aber ich möchte, dass du dabei bist. Machst du mit?“

„Mach mich wach, wenn es so weit ist“, murmelte Anton, schon im Halbschlaf.

Das reichte. Martin war erleichtert. Mit seinem Bruder zusammen fühlte er sich sicher und irgendwie beschützt – das Unternehmen konnte starten. Vorsichtshalber stellte er sich den Wecker auf 10 Minuten vor Mitternacht. Damit das Klingeln seine Eltern nicht weckte, legte er ihn unter das Kopfkissen und versuchte, einzuschlafen. Leicht weggeschlummert, schreckte er hoch. Er bräuchte doch Wasser für seinen Versuch! Also schlich er in die Küche und füllte den goldenen Becher mit Wasser. Unbemerkt von seinen Eltern erreichte er wieder das Kinderzimmer. Jetzt war er viel zu munter, um noch einmal einzuschlafen. Immerhin zeigte die Uhr schon zwei Minuten vor 11, als er beschloss, sich anzuziehen und auf die Mitternachtsstunde zu warten.

Dann endlich war es so weit. Zehn Minuten vor Mitternacht schüttelte er Anton wach. „Los, aufstehen Anton! Du hast mir versprochen, mich in die Märchenwelt zu begleiten. Aufstehen Anton!“ Aber Anton drehte sich nur auf die andere Seite. Was Martin zu hören bekam, klang wie „Lass mich schlafen! Ich will noch nicht aufstehen“.

Jetzt wurde Martin grob. Erst zog er Anton die Bettdecke weg, dann knallte er mit voller Kraft die Hand auf Antons Hinterteil und schon hielt er den mit Wasser gefüllten Becher über Antons Gesicht. Wütend fauchte er Anton an. „Versprechen muss man halten! Wenn du jetzt nicht aufstehst, dann kriegst du die ganze Ladung Wasser ins Gesicht! Also?“

„Ist ja gut, Brüderchen!“, maulte Anton. „Ich werde schon mitkommen.“

Verschlafen zog sich Anton an. Martin öffnete das Fenster. „Jetzt hören wir die Turmuhr schlagen und können rechtzeitig aus dem Becher trinken.“

„Ja, ja, trink nur“, antwortete Anton dabei mächtig gähnend. „Du trinkst doch auch?!“, fragte Martin erschrocken nach. „Aber ja, Brüderchen“, erwiderte Anton.

„Dann ist´s ja gut. Und hör endlich mit deinem blöden `Brüderchen´ auf!“

„Ist gut, Brüderchen!“, antwortete Anton jetzt grienend. Endlich war er richtig wach. Es war aber auch höchste Zeit, denn die nahe Kirchturmuhr schlug zur 12. Stunde – Mitternacht.

Hastig nahm Martin den Becher und trank: den ersten Schluck, den zweiten. Noch merkte er gar nichts. Dann nahm er den dritten Schluck. Jetzt wurde es ihm ganz dunkel vor Augen. Er rief noch schnell: „Hier Anton, der Becher! Nimm drei Schluck und bring den Becher mit!“

Genauso plötzlich, wie es dunkel um Martin wurde, genauso plötzlich war es hell und klar. Er befand sich unweit des Hauses auf einer kleinen Lichtung im Wald. Und dann sah Martin, Anton wie aus einem Schatten sich bilden. Das ging sekundenschnell. „Wau!“, hörte Martin Anton rufen. „Das ist ja wirklich ganz schön verrückt! Dein alter Mann hat also nicht gelogen!“

„Warum soll ich Martin belügen?“ Die Stimme kam aus dem Tannenwald. Heraus schritt der Alte. Er strich über seinen weißen schütteren Bart und lächelte den Brüdern freundlich zu. „Ich freue mich, dass ihr meinem Wunsch nachgekommen seid. Es ist gut, dass du deinen Bruder mitgebracht hast. Zwei sind immer besser als einer, wenn es darum geht, Heldentaten zu vollbringen.“ Wieder lächelte der Alte.

„He, wir sollen Heldentaten vollbringen? Habe ich das richtig gehört?“, fragte Anton erstaunt. Martin schaute nur verdattert den Alten an. Damit hatte er nicht gerechnet.

„Ja, darum wollten wir Bewohner der `Anderen Welt´ euch bitten.“

„Wie, der `Anderen Welt´? Hast du meinem Bruder nicht erzählt, dass er mithilfe des goldenen Bechers in das Märchenreich kommen kann?! Ist das die `Andere Welt´?“

„Hört mir zu. Nachdem ich zu euch gesprochen habe, könnt ihr euch entscheiden: Ihr könnt uns helfen oder ihr nehmt sofort drei Schluck aus dem goldenen Becher und ihr seid zurück in der Menschenwelt.“

„Wir hören, alter Mann“, antwortete ihm Anton und Martin nickte zustimmend.

„Ich bin der Märchenerzähler. Ich wandere zwischen der Menschenwelt und unserer Welt. Den Menschen erzähle ich von uns, von den Feen, den Wichteln, den Hexen und Teufeln, den Drachen und den Riesen und verbinde dies mit fast wahren Begebenheiten aus unserer, der `Anderen Welt´. Ich habe die Fähigkeit, mich in der Menschenwelt unsichtbar zu machen, kann auch verschiedene Gestalten annehmen. Meine echte Gestalt ist aber die jetzige und die ist meine liebste. Ich las in eurer Stadt von dem großen Erzählwettbewerb und habe dir gut zugehört. Martin, du hast nicht nur eine wunderschöne Märchengeschichte erzählt, nein – sie ist auch wahr!“

„Wahr?!“, schrie Martin. „Die kann doch nicht wahr sein, die hab ich doch nur erfunden!“

„Doch, doch! Sie ist wahr und das ist unser Problem. All das, was du beschrieben hast, das erleben wir zurzeit. Wir leiden unter der Herrschaft des bösen Zauberers Rebuaz und du Martin bist der Einzige, der uns von seiner Herrschaft befreien kann. Er tyrannisiert uns, verlangt Sklavenarbeit von allen Bewohnern der `Anderen Welt´ und hat jetzt auch noch unsere Prinzessin geraubt. Kommt dir das bekannt vor, Martin?“

„Ja“, antwortete Martin. „So hatte ich mir das ausgedacht.“

„Und das ist die Wahrheit. Deine Erzählung hat mir gezeigt, wie wir den bösen Zauberer Rebuaz besiegen können. Nur ...“ Der Alte machte eine lange Pause, holte dann tief Luft und sagte den entscheidenden Satz: „Nur – nur du allein Martin kannst den Zauberer besiegen. Du musst genauso vorgehen, wie du es in deinem Märchen erzählt hast. Du musst der mutige Junge sein, der den Kampf aufnimmt. Handle so, wie in deinem Märchen und du kannst diese Heldentat vollbringen.“

Dem Martin glühten vor Aufregung die Ohren. Er, der Martin, Schüler der vierten Klasse, soll richtig gegen Riesen, Drachen und Zauberer kämpfen. Er soll zum Helden werden?

Anton sah das gelassener: „Martin, das ist halb so schlimm. Vergiss nicht, wir sind in der `Anderen Welt´, der Märchenwelt. Hier geschehen doch immer Wunder, und warum soll nicht ein Martin eine Heldentat vollbringen können?!“

„Meinst du wirklich?“, fragte Martin seinen älteren Bruder.

„Ja, im Ernst und außerdem bleibe ich bei dir und werde dir immer beistehen und helfen!“ Anton spielte jetzt sehr deutlich den Älteren heraus.

„Anton, beistehen kannst du deinem Bruder, aber die Handlungen müssen von Martin durchgeführt werden. So hat er sein Märchen erzählt und nur so kann er den bösen Zauberer Rebuaz bezwingen. Das dürft ihr beide niemals vergessen. Greifst du in die Handlung ein, Anton - dann ist alles verloren. Unser Märchenreich wird vom bösen Zauberer völlig beherrscht werden.“ Vielsagend nickte der Alte mit dem Kopf.

„Anton, sag ehrlich, soll ich es wagen?“, flüsterte Martin. Und Anton erwiderte ihm auch leise: „Tu es! Ich weiß, du schaffst das! Du bist ein Kämpfer!“

Mit hochrotem Kopf und vor Aufregung stammelnd, sagte Martin zum Alten: „Ich will es wagen. Aber nur, wenn mich mein Bruder begleiten darf.“

„Begleiten darf er dich. Aber, ich wiederhole es noch einmal, er darf nicht handeln, Martin. Nur du musst der Kämpfer sein!“

Der Alte hob die Hände gen Himmel und als hätten die Bewohner der „Anderen Welt“ nur auf dieses Zeichen gewartet, raschelte er im Gras, schaukelten die Zweige der Bäume, hörte man zuerst leise, dann immer lauter werdende Stimmen. Und dann zeigten sich die Wesen der „Anderen Welt“. Es waren Wichtel und feengleiche Geschöpfe, Berg-, Erd- und Luftgeister, Zwerge, Elfen und Trolle, das Einhorn und der Zentaur. Im nahen Bach erhob sich der Wassergeist samt Töchter aus dem Wasser und die Nixe winkte ihre Gespielinnen zum Schauen herbei. Auch sahen die Brüder Wesen, die in noch keinem Märchen beschrieben waren. Sie alle, es waren mehr als einhundert, klatschten jetzt vor Freude über Martins Zusage in die Hände. „Dank dir Martin! Martin, du bist unser Kämpfer!“, riefen sie und ein kleines Elfkind wisperte: „Martin, du wirst ein Held!“

Der so Gefeierte, stand verlegen mit hochrotem Kopf, und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Plötzlich herrschte Stille, kein Laut drang zu den Ohren der Jungs. Die Wesen der „Anderen Welt“ erstarrten. Aus dem Nichts formten sich zwei Gestalten: der König des Märchenreiches und seine Gemahlin. Mit dröhnender Stimme forderte der König Martin auf, näher zu kommen. Doch der zögerte, dieser König hatte ihn verschreckt. Noch einmal befahl der König: „Martin, zu mir!“ Und zögernd, um nicht zu sagen ängstlich, ging Martin drei Schritte auf den König zu. Der wollte wieder befehlen, doch da fiel ihm die Königin mit freundlicher Stimme ins Wort: „Komm nur näher, lieber Martin. Fürchte dich nicht vor meinem Gemahl. Er will immer vor Fremden den mächtigen König herausstellen und glaubt, mit lauten Worten und Befehlen sich Geltung verschaffen zu können. Er ist aber sonst ein wirklich netter König. Nicht war, mein Brummbär?!“

Der so in aller Öffentlichkeit Gescholtene blickte verlegen, dann zwinkerte er Martin freundlich zu und mit ganz normaler Stimme bat er: „Ich wollte dich nicht erschrecken. Komm nur näher, du auch Anton.“

Martin und Anton gingen zum Königspaar. Direkt vor dem König verharrten sie, Anton verbeugte sich leicht und Martin tat es ihm gleich. Freundlich winkte die Königin und aus dem Nichts standen zwei hohe mit rotem Samt bezogene goldene Stühle auf der Wiese. „Nehmt nur Platz“, sagte der König schmunzelnd. Und die Brüder krochen jetzt etwas sehr unbeholfen auf die viel zu hohen Stühle. Die Königin, das sehend, schnipste mit den Fingern und die Stühle schrumpften auf normale Größe. Jetzt saßen die Brüder vor dem Königspaar.

„Wir freuen uns, dass ihr uns helfen wollt, unsere kleine Prinzessin aus den Händen des Zauberers Rebuaz zu befreien. Alle Bewohner der `Anderen Welt´ werden dir helfen, Martin. Ihre Hilfe kann aber nur so sein, wie du sie in deinem Märchen geschildert hast. Unser Märchenerzähler hat uns mit seinen enormen Fähigkeiten deinen Auftritt auf diesem Erzählerwettstreit direkt gezeigt. Seit dieser Minute kennen wir dich und wir wissen, unsere Leidenszeit geht zu Ende.“ Der König lächelte freundlich. Dann fuhr er fast beschwörend fort: „Martin, tu alles so, wie in deiner Erzählung und du wirst der Sieger sein!“

Die Königin erhob sich. „Bist du bereit, Martin?“ Martin nickte nur. „Dann können wir dich verabschieden.“ Martin, benommen von dieser Audienz, wollte aufstehen, doch der Stuhl ließ ihn nicht los. Er musste die Huldigung der Wesen der „ Anderen Welt“ über sich ergehen lassen. Alle kamen, wünschten ihm Glück, sprachen Schutzzauber aus, gaben ihm ihre persönlichen Glücksbringer und die Elfen und Nixen bedeckten sein Gesicht mit Hunderten von Küssen. Als er endlich die Verabschiedung überstanden hatte, konnte er den goldenen Stuhl verlassen. „Anton, komm schnell weg“, zischte er seinem Bruder zu. Der feixte übers ganze Gesicht und antwortete ihm leise: „So geküsst und geherzt wurde ich noch nie. Wie war es denn?“ Statt einer Antwort fauchte Martin nur.

Jetzt erhob sich auch der König. „Geh und besieg den bösen Zauberer! Wir erwarten dich hier!“ Kaum war das letzte Wort verklungen, als alle Wesen der Märchenwelt sich in Nichts auflösten. Die Brüder standen allein auf der Waldwiese.

„Jetzt Martin, bist du der Bestimmer! Du weißt, ich muss mich zurückhalten. Ich werde aber höllisch aufpassen, dass dir nichts passiert!“

„Danke, Anton“, erwiderte ihm Martin erleichtert. „Im Moment ist mir, als hätte ich vor Aufregung meine Geschichte vergessen.“

„Ach quatsch, vergessen! Wie begann deine Geschichte? Der mutige Karl kommt durch Zufall in den Märchenwald und dort sieht er ... Na? Ist dein Gedächtnis wieder aufgefrischt?“

„Ja, ich weiß wieder alles. Also los, suchen wir zuerst das Einhorn!“

Und Martin marschierte los, immer gerade aus - seiner „Nase nach“. Anton folgte ihm in gebührendem Abstand, denn er wollte die Begegnung mit dem Einhorn nicht stören. Als Martin die große Wiese erreichte, trabte ein schneeweißes Einhorn wiehernd auf ihn zu. Martin sprach mit ihm und das Einhorn knickte mit den Vorderbeinen ein, sodass Martin bequem aufsteigen konnte. Anton machte sich schon auf einen langen Dauerlauf gefasst, als hinter ihm eine tiefe Männerstimme verkündete: „Die Gemeinschaft der `Anderen Welt´ hat beschlossen, dass ich dir zur Verfügung stehe. Sitz auf, Anton!“

Ein Zentaur stand vor Anton. Auch der Zentaur kniete, wie das Einhorn, und Anton saß auf. Hui, konnte der Zentaur schnell laufen. So sehr er sich aber auch bemühte, das schneeweiße Einhorn einzuholen, der Abstand zwischen ihnen wurde doch größer. Bald war Martin mit seinem Einhorn nicht mehr auszumachen. Als Anton deswegen seine Ängste dem Zentaur mitteilte, erklärte ihm sein Pferdemensch mit keuchendem Atem: „Martin wird gut beschützt. Das Einhorn hat eine solche Kraft, dass selbst der größte Bär es niemals angreifen wird.“

Das beruhigte zwar Anton etwas, aber insgeheim dachte er, dass doch Martin allein keinen Beschützer hätte. Nur seinen Zentaur brauchte er nicht antreiben. Der gab sein bestes, aber die enorme Kraft des Einhorns besaß er nicht. Es war, als könnte der Zentaur Gedanken lesen, denn er fragte Anton mit keuchendem Atem: „Weißt du Martins erstes Ziel?“

„Ja, in seinem Märchen muss er das `Sehende Auge´ finden. Weißt du jetzt, wo Martin hinreitet?“

„Das Auge ist im Besitz der Hexe. Nur sie wird es nicht freiwillig herausgeben!“, antwortete der Zentaur. „Aber jetzt weiß ich, welchen Weg ich einschlagen kann. Einen Weg, den das Einhorn nicht kennt. Wir werden mit ihm bei der Hexe ankommen.“ Und der Zentaur lief jetzt abseits des Weges, geradewegs in einen tiefen dunklen Wald. Die Äste der Tannen hingen so tief, dass Anton von ihnen gepeitscht wurde. Trotzdem lief der Zentaur nicht langsamer. Erst auf einer Lichtung hielt er an. Er legte die Hände wie ein Schallrohr vor den Mund und rief: „Freunde, kommt und helft! Wir sind auf dem Weg zum `Sehenden Auge´!“

„Zum `Sehenden Auge´, wirklich zum Auge?“, wisperte es.

„Ja und bitte leuchtet uns. Anton will zu seinem Bruder. Der wird den bösen Zauberer besiegen! Kommt schnell und leuchtet!“

„Den bösen Zauberer besiegen! Unserem ärgsten Feind! Wir kommen, wir eilen!“

Jetzt sah Anton Hunderte von Irrlichtern, die einen sonst nicht sichtbaren Pfad beleuchteten. Dieser Pfad führte durch das schwarze Moor. Ein Fehltritt und der Zentaur und mit ihm Anton, wären für immer vom Moor verschluckt. Vorsichtig, sehr vorsichtig setzte der Zentaur die Hufe auf den weichen nachgebenden Untergrund.

„Nur keine Scheu, wir kennen den Weg und wir leuchten dir!“, wisperte es mit Hunderten feinsten Stimmchen.

Noch wenige Meter und der Zentaur spürte wieder festen Boden. „Danke!“, rief er und galoppierte mit neuer Kraft davon.

„Erzähl uns von dem Kampf!“, baten die Irrlichter und der Zentaur erwiderte: „Auf dem Rückweg komme ich zu euch!“

Der tiefe finstere Wald wurde lichter und lichter. Vor ihnen lag eine prächtige Wiese und hinter der Wiese erhob sich ein steiler Fels, auf dessen Gipfel eine Hütte stand. Anton sah jetzt, wie das Einhorn mit Martin zu dem Felsen lief. Dort sprang Martin vom Einhorn und versuchte, den Felsen zu erklimmen. Doch irgendwie kam er nicht weiter. Immer wieder und wieder rutschte er von dem glatten Gestein ab. „Schnell, mein Freund! Ich muss meinem Bruder helfen!“, schrie Anton und der Zentaur preschte durch das Gras. Kaum hatte der Zentaur das Einhorn erreicht, als Anton vom Rücken sprang und schreiend zu Martin lief: „Warte, ich helfe dir!“

„Da darfst mir nicht helfen! Ich muss das alleine schaffen“, antwortete ihm Martin. Jetzt war für Anton guter Rat teuer. Helfen durfte er dem Martin wirklich nicht. Plötzlich hatte er eine Idee, die er auch sofort umsetzte. „Ich suche mir einen guten Kletterweg“, rief er Martin zu. Und Martin sah, wie sein Bruder sich gewandt zwischen den Steinen und Felsvorsprüngen nach oben kämpfte. „Ich brauche ihm doch nur auf seinem Kletterweg folgen“, murmelte Martin. „Er hilft mir doch nicht!“ Und so kletterte er vorsichtig seinem großen Bruder hinterher. Unterhalb des Gipfels wartete Anton. „Ich warte hier“, flüsterte er Martin zu. „Hab keine Angst vor der Hexe. In deinem Märchen war sie eine gute Hexe!“

„Ich weiß“, zischte Martin zurück.

Nach wenigen Metern hatte Martin den Gipfel erreicht. „Hexe, liebe Hexe!, rief er. Doch keine Tür öffnete sich. „Hexe, bist du zu Hause?“, fragte er laut schreiend.

„Ja, warum brüllst du denn so?!“, hörte Martin eine Stimme. Doch so sehr er suchte, die Person, die zur Stimme gehörte, sah er nicht. Nur eine schwarze Rauchfahne kroch aus dem Schornstein. „Na, warum schreist du so laut?“

„Ich, ich ... möchte zur guten Hexe“, antwortete Martin eingeschüchtert.

„Soooo? Und was willst du von ihr?“

„Ich will sie um das `Sehende Auge´ bitten.“

„Was? Das Auge?! Mein `Sehendes Auge!“, brüllte jetzt die Stimme und die schwarze Rauchfahne senkte sich zu Boden und dort formte sie sich zu einer wirklich hässlich anzusehenden Hexe. Mit krummem Buckel, roten vor Zorn Funken sprühenden Augen, langem ungepflegtem Haar stand sie vor Martin und drohte ihm mit einem gewaltigen Knotenstock.

„Was willst du mit meinem Auge, sprich!“, fauchte sie Martin an. Der wich erschrocken zurück. Dann stammelte er: „Die Bewohner der `Anderen Welt´ baten mich, die geraubte Prinzessin zu befreien und den bösen Zauberer zu besiegen. Dein Auge kann mir den Weg zeigen.“

„Du, du willst diesen Zauberer Rebuaz besiegen?!“ Dann lachte die Hexe so laut, dass das Echo ihres Lachens von den fernen Bergen widerhallte.

Jetzt wurde Martin trotzig: „Ja, und nur ich habe die Kraft dazu!“

Verwundert schaute ihn die Hexe an. Sie schüttelte den Kopf, drehte mehrere Runde um Martin, ja, sie stippte ihn sogar mit dem langen spinnendünnen Zeigefinger an. „Du, du bist der Kämpfer, von dem mir die Eule erzählte.“ Und Martin bekräftigte seine Aussage, indem er der Hexe alles erzählte. Die saß sehr ruhig auf einem Stein und hörte dem Martin aufmerksam zu. Als Martin geendet hatte, verwandelte sie sich zu einer hübschen Frau, mittleren Alters, die jetzt sehr freundlich zu Martin sagte: „Ich glaube dir. Und ich glaube auch, dass du den Rebuaz besiegen wirst. Du musst wissen, dieser Grobian, dieser Flegel hat mir zuerst die Heirat versprochen und dann hat er mich wegen meiner Hässlichkeit verhöhnt und verspottet. Sag selbst, seh ich so hässlich aus?“ Sie drehte sich kokett wie ein junges Mädchen vor Martin. „Na, wie sehe ich aus?“, fragte sie nochmals. Und Martin antwortete ihr: „Sie erinnern mich an meine Tante, echt. Sie sehen genauso hübsch aus.“

Dem Martin schwanden alle Sinne, als die Hexe ihn vor Freude abküsste.

„Du wärest der rechte Bräutigam für mich. Nein, hast du das schön gesagt!“, flötete die Hexe, strahlte den Martin mit ihren himmelblauen Augen an, zog einen Spiegel aus ihrer Rocktasche und betrachtete sich zufrieden darin.

„Liebe Hexe, könnten Sie mir ...?“

Aber ehe Martin das Wort „ Sehende Auge“ aussprechen konnte, antwortete die Hexe: „Das `Sehende Auge´ kannst du nur erringen, nicht erhalten. Drei Aufgaben musst du erfüllen. Dann hast du das Recht, das Auge zu benutzen. Versagst du aber bei den Aufgaben, kann es dir schlimm ergeben, Martin!“ Sie schaute Martin durchdringend an. „Wie entscheidest du dich?“

Martin brauchte keine Bedenkzeit. „Stellen Sie mir die Aufgaben“, sagte er betont forsch.

„Gut, so sei es! Du musst deine Klugheit, deinen Mut und deine Aufrichtigkeit beweisen. Womit möchtest du beginnen?“

„Entscheiden Sie, liebe Hexe“, antwortete Martin, vor Aufregung sehr nervös.

Anton, der wenige Meter unterhalb des Gipfels alles mit angehört hatte, drückte seinem Bruder die Daumen. „Du schaffst das Martin. Los, du schaffst das!“, murmelte er. Plötzlich wurde er von starken Händen gepackt. Ein fürchterlicher Gestank kroch in seine Nase. Ihm wurde speiübel. „Ha, ein Mensch! Ein Braten zum Fest!“, hörte Anton ein Geschöpf sagen. Die Hörner auf dem Kopf, der Pferdefuß, ein langer Schwanz und dann dieser Gestank, es musste Schwefel sein – das, das konnte nur der Teufel sein! Behaarte Hände packten Anton, hoben ihn hoch und trugen ihn zum Gipfel. „Schwester, sieh nur! Ich habe einen Menschen! Das gibt einen Festbraten!“

Doch ehe die Hexe antworten konnte, schrie Martin: „Lass sofort meinen Bruder los! Er hat mit dieser Sache nichts zu tun! Loslassen, habe ich gesagt!“

Verwundert schaute der Teufel auf Martin. „He, da ist noch solch schöner Festtagsbraten, zart und doch knusprig. Na, dann nehme ich dich!“

Er ließ Anton, der inzwischen durch die Umklammerung sein Bewusstsein verloren hatte, einfach zu Boden plumpsen. Martin sehend, wie sein bewusstloser Bruder wie ein Mehlsack hingeworfen wurde, sprang voller Zorn auf des Teufels Rücken. Er griff die langen Ohren und zog mit aller Kraft, sodass der Teufel vor Schmerzen aufschrie. Martin ließ die Ohren los, griff die Nase des Teufels und drehte sie so gut er konnte herum. Wieder ertönte ein Schmerzensschrei so laut, dass die Raben auf dem fernen Berg erschrocken davonflogen. „Ich werde dich lehren, Menschen als Braten zu betrachten!“, schrie Martin erbost. „Du widerliches stinkendes Untier! Du bist ein Ungeheuer!“

Martin rutschte vom Rücken, ergriff den langen Schwanz des Teufels und zog aus Leibeskräften daran. Er zog und zog, der Teufel wimmerte und konnte sich nicht befreien. Als Martin den Schwanz so lang gezogen hatte, dass er ihn um den einsamen Baum wickeln konnte, bat der Teufel um Gnade: „Aufhören! Ich werde euch nicht verspeisen!“

In diesem Moment schnipste die Hexe mit dem Finger und der Teufel, aber auch Martin erstarrten. Martin nahm alles wahr, konnte aber keinen Finger, selbst die Zunge nicht bewegen. Und genauso erging es dem Teufel. Die Hexe schritt zu Anton, hob in sanft auf und trug ihn ins Haus. Dort bestrich sie sein Gesicht mit den Händen. Anton schlug die Augen auf. „Wo bin ich? Was ist geschehen?“, fragte er verwundert die junge Frau, die ihm zulächelte.

„Du bist im Hexenschloss und Schlimmes ist mit dir nicht geschehen. Mein Zauber hat dich beschützt. Aber einen tollen kleinen Bruder hast du. Er hat bereits die Prüfung der Aufrichtigkeit und des Mutes geschafft. Nicht schlecht für solch einen kleinen Knirps!“

Sie lächelte Anton an. Der verstand so gut wie gar nichts. Also erzählte die Hexe von den drei Prüfungen und dass sie ihren Bruder, den Teufel, dafür ausersehen hatte, Martins Mut zu prüfen. Und dass sie von Martins Aufrichtigkeit, Gutes zu vollbringen, jetzt fest überzeugt sei. Nur eine Prüfung muss er noch ablegen: Er muss seine Klugheit beweisen.

Die Hexe erhob sich, ging zur Tür und forderte Anton auf, mit nach draußen zu gehen. Dort löste sie zuerst die Starre ihres Bruders, des Teufels. „So“, sagte sie, „jetzt zeige dich in deiner netten Gestalt.“ Und der Teufel drehte sich einmal um sich selbst und vor Anton stand ein junger fescher Mann, der ihm lächelnd die Hand reichte.

„Entschuldige, lieber Anton!“, sagte er lächelnd. „Ich musste grob zu dir sein. Meine Schwester hat dich aber gut beschützt!“

Martin, in seiner Starre, nahm aber alles mit Bewusstsein wahr. Nichts änderte sich an seiner Haltung, keinen Finger und kein Augenlied konnte er bewegen. Der Zauber der Hexe wirkte noch. „Martin!“, sprach jetzt die Hexe. „Zwei Prüfungen hast du bereits erfolgreich bestanden. Mein Bruder und ich bescheinigen dir Aufrichtigkeit und Mut. Nun zur dritten Aufgabe. Bist du bereit?!“

 

Fortsetzung hier!