Kinderseite Nr. 2:  "Der Gaul" - Teil II

"Der Gaul" - Teil II

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von Joachim Größer (2007)

 

„Hör mal zu“, sagte Anton leise zu seinem jüngeren Bruder, „das hier ist eine komische Geschichte.“ Und Anton las aus einem Polizeibericht vor: „Seit 10 Tagen häufen sich die Beschwerden von Bewohnern, die über kleine Diebstähle klagen. Wiederholt wurde ein etwa 14 Jahre alter Junge gesehen, der völlig verwahrlost aussehend, verantwortlich für diese Diebstähle sein soll.“

Anton legte die Zeitung zur Seite. „Martin, wenn ich an verrückte Sachen glauben würde, könnte man meinen, unser Gernot aus der Ritterzeit lebt jetzt bei uns.“

Hatte Martin bisher nur mit halbem Ohr seinem Bruder zugehört, jetzt, als der Name „Gernot“ fiel, war er hellwach. „Du meinst..? Wirklich, du meinst der Gernot könnte der Dieb sein?“

„Na ja, die Beschreibung, die hier steht, passt zu Gernot. Auch das Alter, die Haarfarbe und dass er im Walde leben soll – all das macht mich so stutzig. Auch wird gemeldet, dass Hühner, Kaninchen, Tauben, Obst und Gemüse aus Gärten gestohlen wurden. Der Junge muss Hunger haben – und deshalb diese Diebstähle. Nur, wie soll Gernot, wenn er der Dieb ist, in unsere Zeit gekommen sein?“

„So wie wir, Anton!“ Martin schaute sich um, ob auch wirklich niemand außer ihnen im Zimmer war. Leise erzählte er: „Als wir nach unserem verrückten Abenteuer, als Engel in der Ritterzeit, zurück zum Gaul gekommen sind, hast du mir auf den Stein geholfen. Ich hatte für einen kurzen Moment geglaubt, Gernot an der Wegbiegung stehen zu sehen. Wenn ich mich nicht getäuscht habe, sah uns Gernot wirklich zu. Er sah, wie ich dem Gaul dreimal auf die linke Arschbacke gehauen habe. Und dann muss er auch gesehen haben, dass wir ganz plötzlich nicht mehr da waren. Wäre das eine Erklärung?“

„Das könnte so gewesen sein!“, erwiderte Anton. „Und wenn das so ist, dann müssen wir Gernot finden – oder was meinst du?“

„Ja, das müssen wir! Wenn das wirklich Gernot ...?“

Martin machte ein nachdenkliches Gesicht. Er legte die Stirn in Falten und tippte mit dem Zeigefinger an die Nase. „Also, wenn das wirklich Gernot aus der Ritterzeit ist, wieso klappt dann seine Rückkehr in seine Zeit nicht mehr?“

„Eine gute Frage, Martin. Die Antwort holen wir uns von Gernot!“, antwortete Anton.

„Du willst Gernot suchen?“, fragte Martin.

„Natürlich“, erwiderte Anton, „wenn es Gernot ist, dann braucht er unsere Hilfe. Er spricht kein Wort Hochdeutsch - er weiß nicht, wo er ist. Wir haben ihm vorgeflunkert, dass wir Engel seien - vielleicht glaubt er jetzt, auch im Himmel zu sein. Wenn wir ihm nicht helfen, bleibt für ihn nur die Wahl: Entweder schnappt ihn die Polizei oder er verhungert im Wald.“

„Du hast recht, Anton! Wir müssen Gernot finden!“

So schnell, wie dieser Entschluss gefasst war, so schnell packte man Nahrungsmittel und Kleidung ein. Da die Eltern zur Arbeit waren, hinterließ Anton einen Zettel, auf dem stand: „Wir unternehmen eine Tagestour. Sind zum Abendbrot zu Hause.“

Die Jungs hatten zwar an Nahrung und Kleidung gedacht, aber wie sie Gernot finden wollten, das wussten sie nicht.

„Wir verlassen uns auf unser Glück“, meinte Anton, als ihn Martin danach fragte. Und einen glücklichen Zufall brauchten sie wirklich. Immerhin war das Gebiet, welches sie durchsuchen mussten, riesengroß. Und Gernot, aufgewachsen mit der Natur, wusste bestimmt, wie er sich tagsüber gut verstecken konnte.

Als die Jungs in ihrem Zielgebiet, es war der Waldnerturm, angekommen waren, fuhren sie langsam die Waldwege ab. Ständig riefen sie: „Gernot!“ Martin meinte, dass sich vielleicht Gernot zeigen würde, wenn sie ihre eigenen Namen rufen würde. Anton versuchte das sogleich: „Gernot! Gernot! Hier sind Martin und Anton! Wir sind die Engel – die Gottesengel!“ Und Martin rief im Althochdeutschen: „Gotes engil!“ und „Himili!“

Doch kein Gernot zeigte sich ihnen. Einmal glaubte Anton, eine Gestalt hinter Büschen zu sehen – doch niemand antwortete oder zeigte sich ihnen. Nach fast zwei Stunden Suche beschlossen die Brüder, Mittag zu machen. Sie setzten sich auf Steine, die nahe dem Turm am Waldrand lagen. Auf einen Stein legten sie ihr Essen: belegte Butterbrote, Äpfel, Birnen, Bananen und zwei Apfelsinen. Anton, der mit dem Rücken zum Wald saß, glaubte, im Wald leises Knacken zu hören. Ihm war, als würde ein Mensch oder ein Tier dort herumschleichen.

„Martin“, flüsterte er, „schiele mal zum Wald. Siehst du was?“

„Ja, am Boden bewegt sich etwas ganz langsam. Meinst du, dass das Gernot ist?“

„Bestimmt“, zischelte Anton, „wir lassen das Essen liegen und gehen zum Turm.“

Nahe des Turmes fanden sie eine Feuerstelle, Knochen lagen verstreut, ebenso Taubenfedern.

„Hier lebt Gernot“, sagte Anton und zeigte auf die Spuren menschlicher Tätigkeit. Martin, der seine Augen nicht vom Waldrand lassen konnte, stieß Anton an. „Gernot schleicht aus dem Wald.“ Anton drehte sich betont langsam um und dann sahen die Brüder ihren Freund aus der Ritterzeit. Er huschte in zerlumpten Kleidern aus dem Wald, grabschte nach dem Essen, steckte sich ein Butterbrot in den Mund und verschwand mit vollen Händen zurück in den Wald.

Martin wollte hinterher, doch Anton hielt ihn zurück. „Gernot ist viel zu verschüchtert. Wir müssen ihn überlisten.“ Sie gingen zurück zu ihren Fahrrädern und Anton holte Gernots Geschenk, das handgeschmiedete Messer, aus dem Rucksack und steckte es sich in den Gürtel. „Komm Martin, ich glaube, ich weiß, wo Gernot ist!“ Und ehe Martin fragen konnte, radelte Anton davon – Richtung steinerner Gaul. Martin, der ihn einholte, wollte schneller fahren. Doch Anton meinte nur: „Wir sind doch schneller als Gernot!“

Am Gaul angekommen, sagte Anton: „Los Martin, setzt dich auf den Gaul. Gernot soll dich sehen. Und haue dem Gaul kräftig auf die linke Arschbacke!“

„Nee, Anton! Das mach mal schön selber! Mir reicht der letzte Ausflug in die Ritterzeit.“

„Na gut“, griente Anton, „dann setze dich nur drauf. Ich schleiche mich von hinten an Gernot heran. Alles klar?“

„Ja, ja! Aber auf den Gaul klatsche ich wirklich nicht!“

Anton prüfte, ob Gernots Messer noch im Gürtel steckte und ging in den Wald – in die entgegengesetzte Richtung. Nach etwa dreißig Metern, jetzt konnte ihn Gernot bestimmt nicht mehr sehen, hastete er, einen großen Bogen schlagend, vorsichtig durchs Gebüsch. Als er glaubte, sich jetzt an Gernot von hinten anschleichen zu können, bewegte er sich sehr vorsichtig und langsam durch den dichten Wald. Kein knackender Ast verriet seine Anwesenheit. Und sein Plan hatte Erfolg. Unmittelbar hinter sehr dichtem Gestrüpp lag Gernot und beobachtete Martin, der auf dem steinernen Gaul saß und in den Wald starrte. Anton zog Gernots Messer aus dem Gürtel, hielt es sichtbar hoch und rief leise: „Gernot! Taschenmesser!“ Gernot fuhr augenblicklich herum, bereit, die Flucht anzutreten. Anton hielt immer noch das Messer hoch. Jetzt sagte er: „Taaascccchenmeeßer!“ So hatte damals Gernot Antons Geschenk ausgesprochen. Verwirrt und verängstigt schaute Gernot zu Anton. Nochmals sagte Anton langsam und sehr deutlich: „Taaascccchenmeeßer!“

Gernot griff hastig in seine Tasche und holte Antons Geschenk heraus. Er streckte die Hand, in der das Taschenmesser lag, aus und rief immer noch ängstlich: „Taaascccchenmeeßer!“

Anton hastete die wenigen Meter durchs Gestrüpp und umarmte Gernot. Mit dieser Umarmung drückte er aus, dass er froh war, Gernot gefunden zu haben, und dass ihm sein Freund aus der Ritterzeit nun nicht mehr entkommen konnte. Doch Gernot wollte nicht fliehen! Er strahlte jetzt übers ganze Gesicht und umarmte Anton wieder und immer wieder. Zwischen zwei Umarmungen fragte er: „Martin?“ Und Anton zog Gernot zum steinernen Gaul. Dort empfing sie schon freudestrahlend Martin. „Gernot! Gernot, wir haben dich doch gefunden!“, rief er und rutschte vom Gaul. Und Gernot umarmte Martin und Martin umarmte Gernot.

Nach dieser Begrüßung mussten die Brüder Gernots Redeschwall erdulden. In seiner althochdeutschen Sprache erzählte er, wie er in diese andere Zeit gekommen ist - nur, dass die andere Zeit für ihn der Himmel war. Zwar verstand Anton ab und zu ein Wort dieser uralten deutschen Sprache, aber für das Verstehen waren Gernots Gesten und seine Mimik viel aufschlussreicher. Mit der Demonstration, wie Gernot versuchte, in den „ Himili“ zu kommen, hatte auch Martin kein Verständigungsprobleme. Er schwang sich auf den steinernen Gaul, den er als „Stennenros“ benannte, klatschte dreimal kräftig mit der Hand auf die linke Arschbacke und rief: „Sine heime!“ Dann schaute er hilflos die Brüder an, zuckte mit den Schultern und zeigte ein verzweifeltes Gesicht. Jetzt war der Rat der beiden Brüder gefragt. Doch die zuckten auch nur mit den Schultern. Gernot wandte sich ab und verbarg hinter seinen Händen sein tränenüberströmtes Gesicht. So verzweifelt, wie er war, die Jungs konnten ihm nicht helfen – nur trösten.

Aber die Brüder hatten doch eine Vorstellung davon, was Gernot in den wenigen Tagen in dieser, in ihrer Welt, erlebt hatte: Er wurde zum Dieb, um nicht zu verhungern. Von Hunden gehetzt, verkroch er sich im tiefsten Wald und traute sich nur noch nachts in die Nähe menschlicher Behausungen. Immer und immer wieder kehrte er zum „Stennenros“ zurück, kletterte auf den Gaul und klatschte ihm auf die linke und rechte Arschbacke – doch es gab kein zurück.

Plötzlich rutschte Gernot vom steinernen Gaul und versteckte sich im dichtesten Gebüsch. Pferdewiehern war zu hören und dann sahen Anton und Martin mehrere Reiter. Schon glaubte Martin wieder in der Ritterzeit zu sein, doch zu seiner Freude waren es nur die Freizeitreiter. Auch erkannte er alte Bekannte. Ein Mädchen scherzte, als sie die Jungs sah: „Hallo, ihr Schneeglöckchenpflücker! Immer noch keins gefunden?!“

Und Anton frotzelte zurück: „Wenn ich ein Sträußchen voll habe, schenke ich es dir!“

Mit „Ich nehme dich beim Wort!“ verabschiedete sie sich lachend.

Lange dauerte es, bis Gernot aus seinem Gestrüpp herauskroch. Anton versuchte ihm jetzt klar zu machen, dass er mit ihnen mitkommen solle. Anton tippte auf sich und Martin und dann auf Gernot und sagte sehr deutlich: „Nach Hause! Mitkommen! Wir gehen heim!“

„Ah, heim?!“ Gernot hatte verstanden. Er tippte die Brüder an und dann sich und nickte zustimmend. „Anton, Martin, Gernot heim!“

Jetzt mussten sie Gernot noch dazu bringen, sich umzuziehen – sich zeitgemäß zu kleiden. Anton nahm vom Gepäckträger den Beutel mit seinen Sachen und breitete sie vor Gernot aus. Ein blaues T-Shirt, blaue Jeans, Socken und Sandalen sollte Gernot anziehen. Zuerst zeigte sich Gernot etwas begriffsstutzig, dann, als Martin begann, ihn auszuziehen, lachte er und zeigte mit strahlendem Gesicht auf die Sachen. Nach wenigen Minuten stand ein Junge mit ungepflegten Haaren und schmutzigem Gesicht vor den Brüdern. Anton zückte einen großen Kamm. Den gab er Gernot und der wusste sofort, was Anton von ihm verlangte. Die Haare waren aber durch den Aufenthalt im Wald so verschmutzt und verfilzt, dass das Kämmen mehr ein Durchreißen der Haare war. Als Nächstes sollte sich Gernot das Gesicht und die Hände waschen. Anton ging davon aus, dass Gernot garantiert wusste, wo eine Quelle in der Nähe war. So fragte er ihn: „Wasser? Quelle? Brunnen?“ Und er zeigte auf sein Gesicht und machte eindeutige Handbewegungen.

„Ah, Prunnen, Uuazzer!“, erwiderte Gernot und ging in den Wald. Martin blieb bei den Fahrrädern zurück, Anton folgte Gernot. Der ging zielstrebig etwa 100 Meter zu einer nahen Schlucht und dort an der Oberkante sprudelte klares sauberes Wasser heraus. Gernot musste lange sein Gesicht und vor allem die Hände waschen, ehe sich Anton mit dem Ergebnis zufriedengab.

Nun konnte es zurück in das Zuhause der Brüder gehen. Gernot sah jetzt aus, wie eben ein Vierzehnjähriger aussieht, der das Herumstromern im Wald liebt und dem Wasser und Kamm zwar nicht unbekannt sind, aber der es wenig anwendet. Bevor sie den Weg ins Heimatdorf antraten, erhielt Gernot Anweisungen. So versuchte ihm Anton klar zu machen, dass er nicht sprechen dürfe, wenn ihnen andere Menschen begegnen würden. Auch solle er die Brüder nachahmen, wenn er Unbekanntes erleben würde. Mit vielen Gesten, mit Mimik und vielen, vielen Worten, die Gernot garantiert nicht verstand, gaben die Jungs ihr Bestes in diesem einseitigen Gespräch.

Der Weg nach Hause ging flott. Zuerst musste sich Gernot bei Anton auf die Querstange des Rades setzen. Ging es bergauf, stieg er ab und lief neben dem Fahrrad her. Die Jungs staunten über die enorme Ausdauer, die Gernot besaß. Auch als Anton mit Gernot tauschen wollte und Gernot auf dem Rad fahren sollte, lehnte dieser mit eindeutigen Handbewegungen ab. So waren sie schnell zu Hause und hofften, dass ihnen bei ihrer Mutter noch eine gute Erklärung für das Mitbringen eines unbekannten und stummen Jungens einfallen würde.

Doch das Glück war ihnen gewogen. Auf dem Tisch lag ein Zettel, auf dem stand: „Muss Papa abholen. Papas Auto ist defekt. Essen steht im Kühlschrank. Es kann spät werden! Gruß Mama!“

„Und wo willst du Gernot unterbringen?“, fragte Martin.

„Ich dachte eigentlich an den Garten“, erwiderte Anton, „wir wollten doch sowieso das Zelt aufstellen und damit hätte Gernot eine Bleibe.“

„Soll er immer bei uns bleiben?“

„Weiß ich doch auch nicht, Martin. Wir müssen unbedingt herausbekommen, warum Gernot nicht in die Vergangenheit zurückkehren kann. Aber zuerst kümmern wir uns um Gernot.“

Gernot stand seitdem sie das Haus betreten hatten still und stumm und schaute nur mit großen Augen. Alles, was er sah, war ihm fremd. Fremd waren die Tapeten an den Wänden, fremd die komischen kastenähnliche Dinge, die mit Knöpfen versehen waren, fremd auch die Sessel und die Couch. Als Anton ihn in das Bad zog und Wasser in die Badewanne einlaufen ließ, erstarrte Gernot.

„Uuazzer! Prunnen!“, rief er dann erschrocken. Anton gab ihm zu verstehen, dass er sich ausziehen sollte. Das tat dann Gernot auch zögerlich, doch der Aufforderung, in die Wanne zu steigen, kam er nicht nach. Ängstlich starrte er Anton an und winkte dann energisch ab. So blieb Anton nichts anderes übrig, als mit gutem Beispiel voranzugehen. Staunend sah Gernot zu, dann stieg auch er sehr zögerlich in die Wanne. Wieder staunte er, als er warmes Wasser vorfand. Anton nahm die Seife und wusch sich, Gernot ahmte ihn nach. Dabei roch er immer und immer wieder an dem Seifenstück. Das Haarewaschen entwickelte sich fast zur Katastrophe. Zwar sah Gernot genau zu, wie Anton die Shampooflasche benutzte, wollte aber, bevor er diese gelbe Flüssigkeit auf die Haare träufelte, eine Kostprobe davon nehmen. Er träufelte sich einige Tropfen auf die Zunge und spukte diese sofort aus, um dann Badewasser zu trinken. Damit wollte er sich den Mund ausspülen. Doch der Schaum schmeckte noch widerlicher.

„Bääääa!! Bääääa!!“, schrie er und spuckte und spuckte.

“Martin!“, schrie Anton. „Bringe mal schnell ein großes Glas Apfelsaft!“

Mit dem Apfelsaft spülte Gernot den Mund aus. Dann merkte er, dass dieses süße Wasser sehr gut schmeckte. So leerte er das Glas in einem Zug und bat Martin mit einer eindeutigen Geste um mehr.

Die nächste Beinahe-Katastrophe löste der Fön aus. Gernot hatte so gewaltige Angst vor diesem kleinen Töne erzeugenden und heiße Luft ausstrahlenden Ding, dass er zurückwich und über die Toilette stolperte. Er hielt sich krampfhaft am Toilettenpapierhalter fest, erwischte das Ende der Papierrolle und rollte es beim Sturz ab. Auf der Erde saß nun ein völlig verängstigter Junge und schaute dem Anton zu, wir der sich schmunzelnd die Haare trocknete.

Martin hatte in der Zwischenzeit das Essen vorbereitet. Zwar hatte ihre Mutter Abendbrot in den Kühlschrank gelegt, doch Martin wollte für Gernot ihr Lieblingsessen bereiten. So kamen jetzt dampfende Nudeln, Ketchup, geriebener Käse und gebratene Wurststückchen auf den Tisch. Gernot schaute zuerst nur den Brüdern zu. Dann griff er selbst in die Schüsseln und probierte zaghaft. Beim Ketchup verzog er das Gesicht, doch bald erhellte das sich wieder und Gernot spachtelte unwahrscheinliche Mengen an dampfenden Nudeln in sich hinein.

„Mannomann“, griente Martin, „hast du einen Kohldampf!“ Er und Anton nahmen sich keinen Nachschlag. Allerdings wären sie damit auch zu spät gekommen. Gernot putzte alle Schüsseln in unheimlich kurzer Zeit ratzeputz leer.

Martin räumte den Tisch ab, Anton wollte in den Keller gehen, um das kleine Zelt und die Luftmatratzen zu holen. Damit Gernot sich nicht langweilt, schaltete er den Fernseher an.

Wie von der Tarantel gestochen fuhr Gernot in die Höhe, als die ersten Bilder zu sehen waren. Ein Mann trat vor ein Mikrofon und begann zu erzählen.

Gernot versteckte sich hinter Anton, vorsichtig lugte er auf den Bildschirm. Da dieser Kasten nicht spuckte oder biss, auch strömte keine heiße Luft aus, wurde Gernot mutiger und ging zum Fernseher. Sehr vorsichtig tastete er den Bildschirm ab. Ein leichtes Kribbeln an der Hand und Gernot war wieder hinter Anton verschwunden. Der stand nur grinsend da und überlegte, wie er einem Jungen, der nur die Technik kennt, die es vor 1000 Jahren gab, einen Fernseher erklären solle. Aber die Antwort gab Gernot. „Goukelari!“, rief er aus und zeigte auf den Fernseher.

„Goukelari?“, fragte Anton zurück und zeigte mit dem Hochziehen der Schultern sein Unverständnis.

„Goukelari!“, erwiderte Gernot mit ernster Mine.

Martin kam aus der Küche ins Wohnzimmer. „Anton“, meinte er, „Gernot meint vielleicht Gaukler. Das klingt doch so ähnlich.“

„Martin“, antwortete Anton etwas ärgerlich, „der Mann im Fernsehen ist kein Gaukler, sondern er berichtet aus dem Parlament.“

„Aber ein bisschen ähnlich klingt das Wort doch!“ Martin gab so schnell nicht auf. Er nahm sich drei Äpfel und jonglierte mit diesen, was natürlich nicht klappte. Aber Gernot verstand trotzdem Martins Absicht.

„Ja, ja!“, rief er aus. „Goukelari! Goukelari!“ Er ging zum Fernseher und umfuhr das Gerät vorsichtig mit seinen Händen. „Goukelari!“

„Mensch Martin, du hast recht! Gernot meint mit `Goukelari´ nicht den Mann, sondern das Größere, den Oberbegriff – in dem Falle den Fernseher. Nur, wie kann man dazu sagen?“

„Vielleicht Zauberei?!“ Martin gab die Antwort.

„Das wissen wir gleich!“, erwiderte Anton, schaltete den Fernseher ab und dafür das Radio ein. Wieder zuckte Gernot zusammen und lauschte der Rockband. „Goukelari?“, fragte Anton und Gernot nickte heftig. Martin schaltete das Licht ein und zeigte auf die hellbrennenden Birnen. „Goukerali?“ Und Gernot nickte. Seinem Gesichtsausdruck sah man an, dass er diese Welt nicht verstand. Seine Gedanken fasste er in der Frage „Himili?“ zusammen.

Anton schüttelte den Kopf. Er tippte auf Martin und auf sich und sagte: „Unsere Wohnung, unser Heim! Hier ist nicht der Himmel!“

Martin brachte ein Bild, auf dem die Brüder und ihre Eltern zu sehen waren. „Anton, Martin, Mama, Vater“, sagte er und tippte dabei auf die genannten Personen, „unser Heim.“

Gernot wiederholte leise für sich: „Anton, Martin, Mama, Vater, Heim.“

„Du, Martin“, fragte Anton seinen Bruder, „wollen wir Gernot ein Bild von sich selbst schenken? Wir nehmen Papas alte Sofortbildkamera.“

Gesagt – getan! Wenige Minuten später hielt Gernot sein Bild in der Hand. Er ging zum Spiegel im Flur und schaute in den Spiegel und dann aufs Bild.

„Gernot!“, sagte er sehr überzeugt. „Gernot von Heppburg!“

Es war, als hätte Gernot vor dem Spiegel sein Selbstvertrauen wiedererlangt. Er streckte den Kopf in die Höhe und schaute sich unternehmenslustig um. Er ging zum Fernseher und bat: „Goukelari?“ Und Anton erfüllte ihm den Wunsch. Er schaltete mit der Fernbedienung verschiedene Programme ein, zeigte dem wieder staunenden Gernot die Funktion der Fernbedienung und drückte diese dann dem Gernot in die Hände. Zuerst zögerlich, dann sehr mutig, zappte der sich nun durch die Programme. Anton war indessen in den Keller gegangen, Martin, der in der Küche hantierte, hörte „Jee!“ und „Ooh!“

Als er in die Wohnstube kam, sah er Gernot mit strahlendem Gesicht vor dem Fernseher sitzen. Gernot staunte über die fremden Bilder einer unbekannten Welt, und als er mitbekam, dass Martin ins Zimmer getreten war, rief er: „Goukelari, nicht böse! Goukelari  gut!“.

„Gernot!“, rief Martin. „Gernot, du hast zum ersten Mal in unserer Sprache gesprochen!“ Und er haute Gernot vor Freude auf die Schulter.

Nur ungern trennte sich Gernot von der Faszination des Fernsehens. Aber da die Brüder nicht wollten, dass ihre Eltern von Gernot erfuhren, trieben sie ihn jetzt zur Eile. Wie sollte man auch zwei Erwachsenen erklären, dass ihre Kinder Besuch aus einer Zeit um 1000 unserer Zeitrechnung haben? So schrieben sie auf einen großen Zettel: Sind im Garten und übernachten im Zelt. Jetzt konnten sie sich darauf verlassen, dass ihre Eltern keine Nachforschungen anstellen würden, denn dieses Übernachten im Zelt war im warmen Sommer schon Tradition.

Die nächsten Tage mit Gernot waren nicht nur für ihren Gast aus der anderen Zeit aufregend, nein – auch für Anton und Martin brachten sie hundertfache Überraschungen. Obwohl Gernot bestimmt ein mutiger Junge war und seine Ausbildung als Knappe am Hofe des Fürsten viel Kampfgeist verlangte, diese neue Welt brachte ihn aber manchmal zum Verzweifeln. In einem Schnellkurs lernte Gernot das sichere Fahrradfahren. Aber Straßenverkehrsregeln missachtete er ständig. Er fuhr dort, wo es ihm einfiel. Nach einem Beinahe-Zusammenstoß mit einem schweren LKW entschlossen sich die Brüder, nur noch Wald- und Feldwege zu benutzen. Außerdem wollten sie das Fahrrad ihrer Mutter, welches sie Gernot gegeben hatten, auch nicht als Schrott zurück in den Keller stellen.

So gestaltete sich der Tagesausflug zur Heppburg als ruhige Wanderfahrt. Gernot freute sich auf den Besuch der Burg. „Ich, Gernot von Heppburg – Heppburg Heim!“, rief er freudestrahlend als Martin ihm erklärte, wohin der Fahrradausflug gehe.

Die erste Enttäuschung erlebte Gernot, als sie von Ferne zum ersten Male die Heppburg sahen. „Dort, Gernot! Sieh! Deine Burg, die Heppburg!“, rief ihm Anton zu und zeigte auf die Burgsilhouette. „Nicht Heppburg!“, erwiderte Gernot enttäuscht. „Heppburg groß! Heppburg stark! Heppburg schön!“ Er zeigte 6 Finger und zeichnete 6 Türme in die staubige Erde. Dann zeigte er auf die ferne Burg und schüttelte den Kopf. „Nicht Heppburg!“

Die große Enttäuschung konnten die Brüder an Gernots Gesicht ablesen, als sie die Burganlage betraten. „Wo Heim?“, fragte Gernot. Er ließ das Fahrrad fallen und stürzte in die Burg. „Wo Haus? Wo Heim?“ Er, Gernot, stand mitten in der Heppburg und suchte vergeblich den Wohnpalas. Nur angeschmiegt an die starken Burgmauern lud eine kleine Gaststätte zum Verweilen ein. Die Eisfahne verführte die Jungs zum Ausgeben ihres Taschengeldes. Für Gernot bedeutete das Eisessen eine kleine Entschädigung. Es schmeckte ihm so gut, dass er fünf verschiedene Sorten probierte und erst als Anton energisch verneinte und ihm das leere Portemonnaie zeigte, gab er sich zufrieden.

Auf dem Rückweg durchstreiften sie das kleine Städtchen am Fuße der Heppburg. Gernot kam aus dem Staunen nicht heraus. Autos und große LKW`s kannte er ja schon. Jetzt sah und hörte er eine Straßenbahn, erlebte, wie auf der Brücke über ihnen ein Schnellzug mit unheimlichem Getöse dahinbrauste. Aber das Aufregendste war für Gernot der Besuch des kleinen Flugplatzes. Er erlebte, wie eine kleine Propellermaschine startete und er schrie sein Erstaunen hinaus: „Uoegele! Himili! Uoegele groß!“ Er bewegte die Arme wie ein Vogel die Flügel und rief wieder und wieder: „Uoegele!“ Als er dann sah, wie ein Mann in einen solchen großen „Vogel“ einstieg, gab es für ihn kein Halten mehr. Er rannte auf das Flugfeld und hinderte so den Piloten am Starten. Als der Pilot die Kanzel öffnete und schimpfend ausstieg, kletterte Gernot flink in das Flugzeug und rief: „Uoegele! Himili!“

Der Pilot staunte nur noch, sein ganzer Ärger war verflogen. „Ja, was bist du denn für einer?“, sagte er grienend. „So was, wie dich, habe ich ja noch nie erlebt.“

Anton und Martin, die inzwischen auch zum Flugzeug gerannt waren, versuchten eine Erklärung. „Er kommt vom anderen Ende der Welt“, erklärte Anton und Martin fügte hinzu: „Für ihn ist unsere Welt ganz anders.“

„Soll ich mit ihm mal eine kleine Runde fliegen?“, fragte der Pilot die Brüder. Und da diese sofort nickten, stieg er ein und ab ging es mit Gernot in den „Himili“. Aus der kleinen Runde wurde ein Rundflug um die Heppburg.

Ein überglücklicher Gernot von Heppburg entstieg dem Flugzeug. Wieder und wieder umarmte er den Piloten und beschwor seine Dankbarkeit. Dem Wortschwall war zu entnehmen, dass Gernot als Vogel zur Sonne im Himmel geflogen sei. So jedenfalls interpretierte Anton Gernots Rede, in der die Worte „Uoegele!“, „Himili!“, und „Sunna!“ immer wieder vorkamen.

Die Fahrt zurück in das Städtchen endete mit einem mächtigen Sturz, der Gernot einige blutige Schrammen einbrachte. Obwohl er erst Anfänger im Fahrradfahren war, fuhr er nämlich freihändig und demonstrierte mit wedelnden Armen, wie das Flugzeug sich in die Lüfte erhoben hatte. „Gernot Uoegele!“, schrie er und „flatterte“ als Vogel. Ein Sturz beendete dann seine Demonstration.

Am Brunnen nahe dem Marktplatz wusch Anton die Wunden aus. Ihre Fahrräder hatten sie an einem kleinen Buchladen abgestellt. Während sich Anton mit Martins Hilfe um Gernots Schrammen kümmerte, hatte Gernot nur noch Augen für ein Buch, das er im Schaufenster entdeckte. Kaum war Anton mit der Behandlung der Wunden fertig, als Gernot zielstrebig in den Buchladen ging. Er schaute sich zwar zuerst ängstlich um, ging aber trotzdem zum Schaufenster und griff in die Auslage. Freudig rief er aus: „Heppburg groß! Heppburg schön!“ Jetzt erst wurde die Verkäuferin auf Gernot aufmerksam. „Willst du es kaufen?“, fragte sie. Als Antwort erhielt sie aber nur: „Heppburg Heim!“ Mit dem Buch in der Hand und lachendem Gesicht wollte Gernot die Buchhandlung verlassen. Anton hielt ihn an der Tür auf und entschuldigte Gernots Verhalten: „Er ist nicht von hier!“ Die Verkäuferin stand immer noch ratlos an der Kasse und erst Antons Frage nach dem Preis löste ihre Erstarrung. „Nur 12,50“, sagte sie, „es ist ein Sonderangebot.“ Anton winkte Martin herein. Der hatte von draußen durch die Scheibe den Vorgang beobachtet und betrat neugierig den Buchladen.

„Martin, hast du noch Geld? Gernot will unbedingt das Buch haben.“

Und Martin suchte seinen Brustbeutel und entnahm ihm zwei Fünf-Euro-Scheine. „Das ist alles, sonst nur noch Kleingeld“, sagte er.

„Los, gib alles her“, erwiderte Anton. Die Verkäuferin half beim Zählen der Münzen. Gernot stand abseits und presste das Buch mit beiden Armen an seine Brust. Nie im Leben würde er dieses Buch wieder herausgeben –  das drückte seine ganze Haltung aus.

„Es fehlen noch 70 Cent“, sagte die Verkäuferin und schaute dabei fast verlegen die Brüder an. Jetzt begann ein großes Taschenausräumen. Viele Dinge fanden sich in Hosen- und Hemdtaschen der Jungs, aber keine 70 Cent.

„Na gut“, sagte jetzt die Verkäuferin gutmütig, „der Schutzumschlag war schon eingerissen. Ihr bekommt das Buch für 11,80 €. Einverstanden?“

Ein überglücklicher Gernot verließ mit den Brüdern den kleinen Laden. Mit vielen Gesten und    noch mehr Reden gelang es Anton, von Gernot das Buch zu erhalten. Er blätterte es durch, stutzte und las erstaunt laut vor: „Gernot von Heppburg war bereits als Jugendlicher seinen Zeitgenossen im Denken und Handeln weit überlegen. Aufgeschlossen für alles Neue, reiste er viel und weit und galt als einer der begabtesten Denker des Hochmittelalters. Besonders bemühte er sich um technische Verbesserungen. Auf einem alten Pergament, das von den Fachleuten eindeutig ins 11. Jh. datiert wurde, entdeckte man eine Skizze, die ein Fluggerät darstellen soll. Erstaunlich ist, dass dieses Fluggerät einem kleinen Flugzeug unserer Tage sehr ähnlich sieht.“

„Mensch Gernot!“, rief Martin aus. „Du wirst eine Berühmtheit!“

„Und Martin“, ergänzte Anton, „Gernot kommt wieder zurück in seine Zeit! Ist doch klar – oder?“

„Ja, du hast recht“, erwiderte Martin. „Aber wie, das steht wohl nicht in dem schlauen Buch?!“

Gernot verstand von all dem nichts. Erst als Martin das Buch in die Hand nahm und weitere Seiten umblätterte, schrie Gernot: „Min Fater!“ Er zeigte auf ein Bildnis und wiederholte: „Min Fater!“

Martin las den Text laut vor: „Gernot von Heppburg übernahm die Regentschaft noch als junger Mann.“

„Gernot, das bist du“, erklärte Anton. Doch Gernot beharrte auf seine Meinung: „Min Fater, ein Edilesman!“

Es war für Gernot ein aufregender Tag. Wieder zurück im Garten lag er im Zelt, blätterte in seinem Buch und kommentierte die Abbildungen in althochdeutscher Sprache.

Der nächste Tag war ein verregneter Tag. So entschlossen sich die Brüder, Gernot in die Geheimnisse der modernen Welt und ihrer Kommunikation einzuführen. Anton startete den Computer und Martin kommentierte: „Goukerali!“

Und wieder als Zauberei empfand Gernot die Faszination der Bilder. Anton hatte den Begriff „Heppburg“ in die Suchmaschine eingegeben und Gernot begleitete jeden Seitenaufruf mit wildem Geschrei. Die Brüder waren selbst erstaunt, wie viel über die Geschichte der Heppburg und ihrer Besitzer im Internet zu finden war. Und immer wieder tauchte der Name ihres Freundes „Gernot von Heppburg“ auf. Viele Historiker mussten sich mit diesem Menschen beschäftigt haben. Über eins waren sich alle einig: Gernot von Heppburg war von Ideen besessen und im Denken und Handeln seiner Zeit um viele Jahrhunderte voraus. Und dass Gernot mutig war und Neues entdecken wollte, bewies er ja schon als Junge. Er war ja den beiden „Engeln“ gefolgt und hatte das „Stennenros“ zum Schlüssel in eine andere Welt genutzt. Und dass Gernot ein wissbegieriger Junge war, das erlebten die Brüder immer wieder. Zwar fehlten ihm die Zusammenhänge und er bezeichnete dann das Unbekannte mit dem Wort „Goukelari“ – Zauberei. Er versuchte aber, eine Erklärung dafür zu finden. So wollte er jetzt von Anton wissen, wo die vielen Bilder von der Heppburg herkämen. Er kroch hinter den Bildschirm, klopfte ihn ab und auf Antons Proteste antwortete er immer wieder mit der Frage: „Goukelari?“

Um Ruhe vor Gernots Fragen zu haben, entschloss sich Anton, den Computer zu öffnen. Er hoffte, dass, wenn Gernot das Strippengewirr sieht, er zufrieden mit dieser Erklärung sei.

„Oh!“, staunte auch Gernot, griff aber in den Computer hinein und zuckte sofort zurück. „Fiur!“, schrie er und schüttelte die Hand. Dann starrte er in den Computer um das Feuer, das ihm die Hand scheinbar verbrannte, zu entdecken.

„Oh!“, kommentierte er das Nichtvorhandene. „Goukelari!“

Bereits mehrere Tage war Gernot bei den Brüdern. Bisher konnten sie ihren Gast aus einer anderen Zeit vor ihren Eltern gut verstecken. Ihre Mutter wunderte sich nur über den unheimlichen Appetit, den ihre Jungs entwickelten. Ihr Vater sah zwar bei einem überraschenden Besuch im Garten einen fremden Jungen in den nahen Wald laufen und wunderte sich, dass im Zelt drei Luftmatratzen lagen, fasste aber keinen Argwohn. Gernot lernte in diesen Tagen viele neue Wörter, beherrschte jetzt arabische Zahlen und begann sogar, in seinem Buch mit Martins Hilfe zu buchstabieren. Die Tage vergingen und die Sorge der Brüder um das weitere Schicksal ihres Freundes wurde immer größer. Bald startete ihre Urlaubsreise mit den Eltern. Wo sollte Gernot dann bleiben? Sollten sie ihre Eltern in das Geheimnis um Gernot einweihen? Würde man ihnen überhaupt so etwas Verrücktes glauben?

Ein glücklicher Umstand oder besser ein Einfall brachte die Lösung. Es war eine sternenklare Nacht und die drei Jungs betrachteten das Himmelsgewölbe. Als der Mond aufging, zeigte er sich fast in voller Größe. „Martin!“, schrie Anton auf. „Weißt du, was für einen Mond wir hatten, als wir in die andere Zeit kamen?“ Und da Martin nur verständnislos mit dem Kopf verneinte, erwiderte Anton erregt: „Es ist fast vier Wochen her, als wir diese Zeitreise antraten! Es muss mit dem Mond zusammenhängen! Ich brauche unbedingt einen Mondkalender!“

„Du meinst, dass der Vollmond der Auslöser für diesen Zeitsprung war?“, fragte jetzt Martin nach. „Genau, das meine ich!“, antwortete Anton erregt. „Bei vielen Völkern wurde der Mond verehrt. Vielleicht ist doch etwas Wahres an dem Mythos dran und der Mond hat dieses Wunder vollbracht. Kann doch sein?“

In aller Frühe radelte Anton am nächsten Tag nach Hause. Seine Eltern saßen noch am Frühstückstisch und staunten über den frühen Besuch ihres Ältesten. Mit den Worten „Ich muss unbedingt etwas nachlesen!“ stürzte er ins Kinderzimmer und kramte seinen Kalender hervor.

Pech – hier waren keine Mondphasen eingetragen. „Könnt ihr mir sagen, wann wir Vollmond haben?“, fragte er seine Eltern. Die unverständlichen Blicke beantwortete Anton schnell mit einer Ausrede: „Wenn diese Nacht wieder so klar ist, wollen wir mit dem Fernglas den Mond beobachten.“

„Hier, schau nach!“, sagte sein Vater und legte Anton seinen Terminkalender auf den Tisch.

Das „Danke Papa!“ wurde mit einem sehr freudigen Gesichtsausdruck verbunden. Stand doch dort, dass in dieser Nacht Vollmond sei.

So schnell, wie Anton gekommen war, so schnell verschwand er wieder. Er nahm nur noch schnell ein vorbereitetes sogenanntes Fresspaket in Empfang und stürzte, drei Stufen mit einem Satz nehmend, auf die Straße.

„Was ist denn in Anton gefahren?“, kommentierte seine Mutter das Verhalten ihres Ältesten, erwartete aber keine Antwort von ihrem Mann.

„Gernot!“, schrie Anton schon von Weitem. „Gernot, heute kommst du nach Hause! Heute geht's heim!“

Gernot krabbelte aus seinem Schlafsack und fragte verwundert: „Heute heim?“

„Ja, heute geht es heim! Wir haben Vollmond. Als wir zu dir in deine Zeit kamen, war auch Vollmond. Heute klappt es! Heute haust du dem steinernen Gaul dreimal kräftig auf die linke Arschbacke und du bist wieder heim, bei deiner Mutter und deinem Vater - zu Hause in deiner Zeit!“

Hinter Gernot steckte jetzt Martin sein verschlafenes Gesicht aus dem Zelt. „Meinst du das wirklich?“, fragte er noch ungläubig.

„Ja, Martin! Ja!“, erwiderte Anton. „Vor vier Wochen hatten wir Vollmond und heute ist wieder Vollmondnacht! Wir waren zwei Tage in der anderen Zeit und doch war es nur ein Tag in unserer Zeit. Vielleicht ist das mit Gernot genauso? Vielleicht war er dann nicht vier Wochen weg, sondern nur einen Tag? Vielleicht?“ Doch diese Frage konnte ihm keiner beantworten.

In aller Eile wurde gefrühstückt. Dann suchte Anton Gernots alte Sachen heraus und packte ein Bündel daraus. Die Fahrt zum „Stennenros“, zum steinernen Gaul, traten sie wieder nur mit zwei Rädern an. Abwechselnd lief einer der Jungs neben den Fahrrädern im Dauerlauf her und so bewältigten sie die zehn Kilometer bis zum frühen Mittag.

Am Gaul angekommen, zog Gernot nur widerstrebend seine alten Kleider an. „Du kannst nicht mit unserer Kleidung in deine Zeit“, erklärte Anton wieder und wieder. Als ihm aber Anton das Buch über die Heppburg abnehmen wollte, sagte Gernot sehr energisch: „Nein! Mein Buch!“ Er drückte es an sich, um es dann schnell im Hemd verschwinden zu lassen. Alles Reden half nicht. Gernot beharrte darauf, „sein“ Buch mitzunehmen.

Der Abschied kam. Die Jungs umarmten sich und man sah es ihnen an, dass ihnen der Abschied schwer viel. Gernot kletterte auf den steinernen Gaul, Anton und Martin fuhren mit ihren Rädern bis zur Wegbiegung. Jetzt standen sie dort, wo Martin damals glaubte, Gernot stehen zu sehen. Sie sahen, wie Gernot dreimal dem „Stennenros“ auf die linke Arschbacke haute. Auch hörten sie Gernot laut rufen. Dann war von ihrem Freund aus der anderen Zeit nichts mehr zu sehen. Das steinerne Pferd stand ohne Reiter.

„Sag mal Martin“, fragte Anton, „hast du verstanden, was Gernot gerufen hat?“

„So richtig nicht! Es klang wie: `Ich wiederkommen!´. Hast du das auch gehört, Anton?“