Geschichten aus der Zukunft

2. Der Außenposten

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von Joachim Größer (2017)

 

Seitdem die Weltregierung die Nachricht übermittelt bekam, dass eine außerirdische Macht sich unserem Sonnensystem und sich damit auch unserem Planeten nähern könnte, herrschte angespannte Unruhe auf der Erde. Die Regierung konsultierte alle führenden Wissenschaftsinstitute, und es wurden in aller Eile Verteidigungsstrategien erarbeitet. Die Rüstungsindustrie, die erst als unnütz und Ressourcen vernichtend abgeschafft wurde, erlebte ihre Wiedergeburt. Große Kampfeinheiten, Roboterarmeen wurden auf dem Erdmond, auf Mars und Venus stationiert. Auch wurden in aller Eile alle Raumfahrernationen verpflichtet, Weltraumstationen am Rande unseres Sonnensystems aufzubauen. Und in einer solchen Station lebte nun schon seit einem Erdenjahr der Kosmonaut Pawel Sergejewitsch Greg. Drei Personen, meistens nur Männer lebten und arbeiteten auf engstem Raum auf solch einem Außenposten. Acht Stunden Wache, acht Stunden Schlafen, acht Stunden Freizeit – das war ihr Lebensrhythmus im All. So verlief ein „Tag“ auf diesen Stationen.

Pawel Sergejewitsch war der Kommandant auf der russischen Außenstation. Bevor er für diesen Job auserwählt wurde, musste er eine Vielzahl an Eignungstests bestehen. Und einer der wichtigsten Tests war die psychologische Prüfung. Wie hält der Bewerber einen mehrjährigen Aufenthalt in einer kleinen Station im All psychisch aus? Ausgeklügelte Verfahren wurden angewandt, um den Geeigneten vom Ungeeigneten zu trennen. Die „Spreu vom Korn trennen“, so einfach erschien es der Kommission, die sich auf jahrelange Forschungsergebnisse stützte.

Pawel Sergejewitsch erfüllte alle Vorgaben, ja – die Kommission war auch aufgrund seiner Ausbildung der Meinung, dass er der richtige Kommandant für diesen russischen Außenposten sei. Der Astrophysiker war in seinem Job eine Koryphäe, als Mensch ausgeglichen und einfühlsam, beherrscht und entscheidungsfreudig, als Vorgesetzter und Partner geachtet und geschätzt.

Wie jubelte Pawel Sergejewitsch, als er den heiß begehrten Zulassungsbescheid erhielt! Wie stolz war sein 5-jähriger Sohn Viktor, wie herzte und küsste ihn seine Ljuba, sein „Täubchen“. Mit vielen Tränen und noch mehr guten Wünschen wurde er für drei Jahre zum Außenposten verabschiedet.

Und jetzt – nach einem Jahr; Pawel Greg hatte große Zweifel, dass er der Geeignete für diese Arbeit sei. Ursache für seine Zweifel war ein Vorfall während des letzten Wachdienstes. Routiniert überprüfte er alle Systeme, kontrollierte die mächtigen Super-Laserkanonen, die zur Eigenverteidigung einsetzbar waren, notierte im Logbuch: Alles in Ordnung, keine Beanstandungen!  

Acht Stunden Wachdienst – das hieß acht Stunden auf Bildschirme stieren, acht Stunden eine riesige Sternenkarte betrachten, acht Stunden drauf warten, dass endlich irgendetwas da draußen in den unendlichen Weiten des Universums geschehen würde. Und was das sein könnte – ja, das wusste niemand. Denn die Meldung, die die Erdenmenschen erschreckte, lautete eigentlich nur: „Wir werden euch besuchen!“

Und da Pawel Sergejewitsch seine Pflichten sehr ernst nahm, so saß er auch am 14. September, nach Erdenkalender berechnet, und stierte mal wieder auf die riesige Sternenkarte, die das gesamte obere Modul der Station bildete. So oft hatte er schon die Karte beobachtete, sodass er meinte, die Karte verinnerlicht zu haben.

Doch plötzlich, so einfach aus dem Nichts, veränderte sich die Sternenkarte. Ein Alarm ertönte und auf der Karte begann, ein Stern zu blinken. Ein Vorgang, auf den Pawel Greg so lange gewartet hatte. Jetzt gab es endlich eine Veränderung. Ein neuer Stern oder ein großer Planet wurde von den Apparaturen erfasst. Es könnte aber auch ein riesiges Raumschiff sein, das sich dem heimischen Sonnensystem nähert?!

Für jede Veränderung im Sternensystem gab es Vorgaben, wie der Kosmonaut zu handeln hatte. Zu allererst stand da die Meldung an die Erde. Dort wurde analysiert, dort und nur dort wurde gehandelt.

Pawel Sergejewitsch Greg schickte die Meldung ab. Doch kaum hatte er diese Pflicht erfüllt, fühlte er sich unwohl. Irgendwie war die Meldung an die Erde nur die halbe Wahrheit. Er starrte auf die Sternenkarte, als ob er von dieser eine Antwort für seine Zweifel erhalten könnte. Und dann geschah das, was in keiner Kladde, in keinem Computerprogramm gespeichert war. Es geschah etwas Ungeheures: Er wurde angesprochen, angesprochen von einer unbekannten und unsichtbaren Person.

„Pawel Sergejewitsch, du hast voreilig gehandelt. Jetzt bricht auf deinem Planeten noch größere Hektik aus. Ich hätte mich doch mehr beeilen sollen!“

Pawel suchte den kleinen Raum ab. Die Stimme war da! Er hatte sie gehört! Er hatte alles verstanden!  Nur sah er nicht die Person, die zu ihm sprach.

Dann: „Pawel, schau! Hier bin ich! Schau zur Sternenkarte!“ Und Kosmonaut Pawel Sergejewitsch Greg schaute auf die Sternkarte, die sich über ihn wölbte und erstarrte. Dort sah er eine Figur, kein Mensch, kein bekanntes Lebewesen, es war wie ein Schatten.

„Das mit dem ‚Schatten‘ ist gut, Pawel! Ich bin wirklich so etwas, wie ein Schatten! Ich bin meinem Planeten vorausgeeilt, um den Erdbewohnern über dich eine Botschaft zu übermitteln.“

Pawel zweifelte an seinem Verstand. Dieses Wesen, das sich selbst als „Schatten“ bezeichnet, konnte seine Gedanken lesen. Sein aufs Äußerste angespannte Gehirn analysierte diese Situation. Von Verrücktsein, den Verstand verloren zu haben, bis zur legendären Krankheit, die alle Weltraumfahrer fürchteten – dem Weltraumkoller – reichten seine Vermutungen.

„Weltraumkoller? Weltraumkoller!!!“ Pawel schrie, doch kein Mensch hörte ihn.

„Nein, nein Pawel“, hörte er den Schatten, „keine Krankheit ist das. Das ist nur eine etwas modernere Kommunikation. Ich spreche mit dir, indem ich deine Gedanken lesen. Da du aber nicht meine Gedanken lesen kannst, spreche ich sie aus. So einfach ist das!“

„So einfach ist das!“ Pawel zweifelte wirklich an seinem Verstand. Nirgendwo war geschrieben, dass ein „Schatten“ zu einem Menschen sprechen kann! Keine Uni, keine Hochschule hätte solch einen Quatsch gelehrt! Kein Kosmonaut wurde je auf solch mögliches Ereignis hingewiesen!

Der Schatten übernahm jetzt das Handeln. „Pawel, ich erzähle, ich erzähle in deiner Sprache, du hörst nur zu – dann entscheidest du, nur du und nicht die Erde! Einverstanden?“

Pawel nickte. Hatte er eine Wahl?! Und nun lauschte er der Erzählung des Schattens:

„Wir haben ein Signal aufgefangen, ein Signal, das nur von intelligenten Lebewesen ausgesendet sein konnte. Da wir auch, so wie ihr Erdenmenschen, auf der Suche nach intelligenten Lebewesen im Universum sind, beschloss unser Rat, Kontakt zur Erde aufzunehmen. Wir wussten nicht wie, also versuchten wir es mit unseren Möglichkeiten. Ein Weltraumreisender wurde zum Botschaftsüberbringer. Wir benutzten ihn und er übermittelte euch die Botschaft von unserem Besuch, von dem friedlichen Besuch. Er sollte euch auch sagen, dass wir mit unserem Planeten reisen und dass wir außerhalb eures Sonnensystems mit euch in Kontakt treten würden. Unsere Zivilisation ist hoch entwickelt. Der Gedanke, dass wir in kriegerischer Absicht als Eroberer kämen, war für uns absurd. Wir wollen nur mit euch kommunizieren. Allerdings machten wir zwei Fehler. Das war erstens, dass wir dachten, unsere Botschaft, die wir dem Weltraumreisenden mitgegeben haben, kommt bei der Erdbevölkerung so an, wie wir sie übermittelten. Und zweitens haben wir eure wissenschaftlichen und technischen Ressourcen höher eingeschätzt. Ich habe alle deine Kameraden auf allen Außenposten getestet. Du hast am besten abgeschnitten. Du wirst der beste Übermittler unserer Botschaft für die Menschheit sein.“

Pawel Sergejewitsch dröhnte der Kopf. Dann stieß er Wortfetzen aus: „War das der amerikanische Astronaut, der Jimmy Mc Clain, der eure Botschaft übermitteln sollte?“

„Ja, es war Jimmy, ein netter Mensch, aber für diese Aufgabe ungeeignet. Was wurde aus ihm?“

„Jimmy erkrankte an dem berüchtigten Weltraumkoller. Er verlor für mehrere Tage den Verstand. Und als er wieder gesund wurde, hat er immerzu geschrien: „Sie kommen zu uns! Sie wollen zu uns! Sie kommen! Sie kommen!“

„Wenn das alles war, was er übermittelt hat, dann war er das falsche Medium! Du, Pawel Sergejewitsch, du wirst es besser machen. Willst du?“

Pawel Greg schloss die Augen. Ihm war nicht klar, ob er bei normalem Verstand sei oder schon dem Virus des Weltraumkollers verfallen ist.

„Pawel, es gibt diese Krankheit, diesen Weltraumkoller gar nicht. Wir sind für diese Abnormalität verantwortlich. Für uns ist es die einfachste Form, mit Fremden in Kontakt zu kommen. Bist du dabei?“

Pawel wollte Zeit zum Nachdenken, die aber ließ ihm sein Besuch nicht. „Bist du dabei?“

„Ja!“ Zuerst sehr leise, dann laut brüllend „Ja, ich bin dabei!“

„Gut, dein Schatten wird dich jetzt verlassen und wir beide begeben uns schneller als jedes Raumschiff zu meinem Heimatplaneten. Dein Körper bleibt dir erhalten. Nichts kann mit ihm geschehen, denn du wirst ihn nach dieser Reise wieder erhalten und wirst den Erdenbewohnern von uns und unserer Freundschaft berichten.“

Kaum war das letzte Wort verklungen, da gab es einen Pawel Sergejewitsch Greg nicht mehr. Seine menschlich Hülle saß auf dem Arbeitssessel. Die Augen waren starr auf die Sternkarte gerichtet. Sein Schatten eilte in unvorstellbarer Geschwindigkeit zu dem Planeten, der als „Raumschiff“ durch das All flog.

Wladimir Iwanow war die Ablösung für Pawel Sergejewitsch. Als er den Wachraum betrat, erstarrte er. „Aljoscha! Aljoscha!“, schrie er und ein völlig verschlafener Aljoscha Petrowitsch erschien in der Luke. „Was brüllst du so? Da wachen selbst die Toten auf!“

„Pawel ist tot!“

„Blödsinn, wie sollte er?!“

„Sieh selbst! Er ist tot!“

Aljoscha ging zum Arbeitssessel und erstarrte. Doch schnell hatte er sich gefasst. Er fühlte den Puls, hielt sein Gesicht an Pawels geöffneten Mund und schrie dann den Wladimir an: „Pawel lebt! Er atmet, er hat einen ruhigen Puls! Hast du verstanden Wladimir, unser Pawel lebt!“

„Ist das die berüchtigte …“

„Ich denke ja!“

„Ist die ansteckend?“ Zaghaft fragte Wladimir das.

„Ach Jungchen. Die Kommission hätte doch einen älteren, erfahrenen Weltraumfahrer zum Außenposten schicken sollen. Nein, Wladimir! Diese Krankheit ist nicht ansteckend und sie ist bisher nur ein einziges Mal bei einem Amerikaner aufgetreten. Beruhigt?!“

Aljoscha Petrowitsch handelte umsichtig und entschlossen. Er informierte alle anderen Außenposten und die Leitzentrale auf der Erde. Auch wenn er wusste, dass viele Tage vergehen werden, ehe er eine Rückmeldung bekam, blieb er ruhig. Wichtig war, dass die Arbeit auf diesem Außenposten weiter lief und dass ihr Freund und Vorgesetzter Pawel Sergejewitsch bis zum Eintreffen der Ersatzrakete am Leben blieb. Also wurde Pawel vorsichtig auf sein Bett gelegt, Kabel für eine künstliche Ernährung und für die Überwachung der Körperfunktionen wurden angeschlossen. Mehr konnten Aljoscha und Wladimir nicht tun. Alle Maßnahmen zur Erhaltung des Lebens des Kosmonauten Pawel Sergejewitsch Greg waren eingeleitet. Jetzt hieß es warten.

Die „Tage“ auf dem russischen Außenposten vergingen. Aljoscha und Wladimir arbeiteten nach einem vorgegebenen Notprogramm. Mit der Ersatzrakete wird ein neuer Kosmonaut Pawels Platz einnehmen und Pawel wird zur Behandlung in einem speziellen lebenserhaltenen Container den Weg zur Erde antreten.

Wladimir war einer der jüngsten Kosmonauten, die für diesen Außenposten auserwählt wurde. Er war sehr einfühlsam und zeichnete sich durch ein hohes Pflichtbewusstsein aus. Für ihn war dieses Ereignis die erste Begegnung mit dem Tod. Immer wieder sah er Pawels Gesicht, die großen geöffneten Augen, der stiere Blick. So, nur so konnte der Tod aussehen.

Um seine Angst vor dem Tod zu überwinden, ging er in der Freizeit zu Pawels Lager, setzte sich zu ihm und sprach mit ihm. Aljoscha, der jetzt der Kommandant für den Außenposten war, beobachtete ihn argwöhnisch. Wenn nämlich Wladimir jetzt durch dieses Ereignis auch ausfallen würde, wäre der russische Außenposten nicht mehr einsatzbereit.

Die „Tage“ vergingen ohne ein wichtiges Ereignis. Die Ankunft der Ersatzrakete war in drei Tagen geplant. Dann wäre man wieder zu dritt – ein normales Leben würde wieder auf dem Außenposten einkehren.

Als man den Funkspruch erhielt „Ersatzrakete wird in 72 Erdentagen die Außenstation erreichen!“, da setzte sich Wladimir zu Pawels Krankenlager.

„Pawel, in 72 Tagen ist die Rakete da. Du fliegst zur Erde und dort werden dich die allerbesten Ärzte des ganzen Universums wieder heilen. Du wirst gesund und kommst wieder zu unserem Außenposten! Ja Pawel, nicht mehr lange und du …“

„Was redest du da für einen Blödsinn, Wladimir! Wer ist krank? Ich etwa?“

„Aljoscha!!!“

Und Aljoscha tat etwas, was absolut verboten war: Er verließ die Leitzentrale und stürzte zu Wladimir.

„Da, der Pawel lebt!“

„Natürlich lebe ich! Aljoscha, wer ist in der Leitzentrale? Niemand! Alle in die Leitzentrale!“

Pawel war ganz Kommandant. Und Aljoscha und Wladimir folgten ihm.

„Aljoscha, Wladimir hört mir zu. Ich bin nicht krank, ich hatte nur eine Begegnung mit unseren Besuchern. Ich habe eine Botschaft zu verkünden und ich werde dies jetzt tun! Diese Botschaft geht an alle Außenposten und an alle Staaten der Erde und natürlich an die Weltregierung.“

Eigenhändig schaltete er alle Kommunikationskanäle frei und dann verkündete er seine Botschaft: „Mein Name ist Pawel Sergejewitsch Greg. Ich bin der Kommandant auf dem russischen Außenposten. Ich hatte Besuch von dem intelligenten Volk des Universums, welches zu uns kommen will. Sie suchen so wie wir nach intelligentem Leben im Universum. Sie sind hoch entwickelt, verfügen über Wissen, das wir so nicht haben und sie kommen in Frieden. Mein Besucher war die ‚Seele‘ eines hohen Würdenträgers. Er bat mich, mit ihm seinen Planeten zu besuchen. Und damit dies auch schnell geschehen kann, reiste meine ‚Seele‘ mit ihm zum Planeten, den sie Mirrar nennen. Mirrar ist Planet und Raumschiff zugleich. Sie durcheilen mit ihrem Heimatplaneten durch das All und sie werden am Rande unseres Sonnensystems mit uns in den direkten Kontakt treten. Sie nehmen keinen Einfluss auf unser Sonnensystem, sie kennen keine Waffen, sie zerstören kein Leben! Und jeder Astronom kann ihren Planeten im Universum aufsuchen und seinen Weg verfolgen.“

Pawel holte tief Luft, um sogleich fortzufahren. Er gab den Astronomen und den Besatzungen der Außenposten eine lange Zahlenreihe. Beenden tat er seine Ansprache: „In wenigen Erdentagen werde ich mich zurück zur Erde begeben. Ich werde mein Wissen über diesen Planeten Mirrar und seine Bewohner der Weltregierung übermitteln. Es hat gesprochen Pawel Sergejewitsch Greg, Kommandant des russischen Außenpostens.“

Wladimir starrte Pawel an. „Deine Seele war auf dem Planeten Mirrar?! Deine Seele …?“