Die Rentnerclique: 4. Das Burggespenst

Das Burggespenst

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(von Joachim Größer)

 

Es ist schon eine gewaltige Summe – 10.000 €. Will man damit aber eine schöne Urlaubsreise organisieren und das für 12 Personen, so muss man schnell feststellen: Es reicht nicht!

So erging es Maxi. Ihren Spielgewinn wollte sie nach dem Motto „Wie gewonnen - so verronnen!“ mit uns allen teilen. Oft sprachen die Frauen darüber, wie man den Urlaub gestalten könnte.

Wir Männer redeten nicht, wir handelten! An jedem Skatabend wurde mindestens einer, manchmal wurden auch gleich mehrere von uns und dass sogar zweimal, in die „Ecke“ geschickt. Der Oberlehrer als „Hüter des Schatzes vom Glücksschwein“ war sehr freizügig in der Verhängung der Strafen. So konnte er denn auch nach sechs Wochen härtester Bestrafungen verkünden: „Maxi, unser Ecken-Schwein ist voll! Wir müssen es schlachten. Die Männer wollen dir das Geld für deine Urlaubsplanung geben.“

Eine strahlende Maxi nahm das Ecken-Schwein entgegen und nach der Auszählung verkündete Maxi: „Leute, es reicht! Der Urlaub kann gebucht werden!“

„Wohin geht es?“, fragte ich neugierig und erhielt sofort zur Antwort: „Überraschung!“

Und so ließen wir uns überraschen. Nur hatten wir unsere Frauen in Verdacht, dass sie alle wussten, wohin der nächste Urlaub gehen soll.

Vier Wochen später packte meine Karla derbe Stiefel ein, auch wetterfeste Kleidung und verbot mir kategorisch, meinen „Oldie“ zur Fahrt flott zu machen. „Wir brauchen Autos und keine Museumsschlitten!“ Das war ihre Meinung und damit verletzte sie meine „Auto-Seele“ mächtig. „Entweder du nimmst das richtige Auto oder der Chemiker fährt diesmal.“

„Und wer bestimmt das, he?“, fragte ich keck.

„Wir Frauen haben das beschlossen und wir haben auch beschlossen, dass ihr euch an unsere Beschlüsse zu halten habt!“

„O weh, die Frauen haben das Sagen!“ Das dachte ich nur, ich wagte es nur zu denken – nicht auszusprechen. Waren doch unsere Frauen gemeinsam damit beschäftigt, uns mit dieser Urlaubsfahrt zu überraschen.

In diesen Tagen wurde von uns der „Frauen-Tratsch-Verein“ umbenannt in den „Frauen-Wir sagen nichts!-Verein“.

So fuhren wir denn an einem wunderschönen Herbsttag ins Ungewisse. Keiner der Männer kannte das Ziel. Trotz aller Tricks und kleinen Hinterlistigkeiten von der Männerseite her, wir hatten nichts herausgefunden. Das war sehr ungewöhnlich und so vermuteten wir, es wird ein besonders ungewöhnlicher Urlaub.

Ungewöhnlich war der lange Anfahrtsweg. Sehr ungewöhnlich, dass wir die Autos - nach einer Fahrt auf einer schmalen und holprigen Straße, auf der es kein Gegenverkehr geben durfte - auf einem kleinen Parkplatz mitten im Wald abstellen mussten. Und noch ungewöhnlicher war, dass Maxi das Kommando gab: „Rucksäcke und anderes Gepäck schultern! Auf geht’s!“ Und schon verrückt war, dass uns auf halbem Weg, und es war nur ein Saumweg, ein Mann mit sechs Eseln – oder waren es Maulesel oder Maultiere? – entgegen kam.

Ein Mann mittleren Alters, gekleidet in derben Arbeitssachen, mit einem kecken Tiroler-Hütchen auf seinem Wuschelkopf, empfing uns und begrüßte uns in einer Sprache, von der ich annahm, dieser gute Mensch glaubte, er spräche deutsch.

Und da keiner von uns verstand, was wir sollten, schnappte er sich die zierlichste der Frauen, es war Lydia und hievte sie mit einem gekonnten Schwung auf einen der Esel. Ihr Jauchzer - oder war es ein Schrei?! - kam zu spät. Sie saß schon fest auf dem Esel und der tat, was eigentlich Esel nie tun sollen, er setzte sich auf Befehl seines Herrn in Bewegung.

„Auf die Esel, meine Damen!“, rief jetzt der Naturmensch amüsiert und für deutsche Ohren auch verständlich. „Die Herren könnten sich jetzt schon mit dem Gepäck in Bewegung setzen!“

Eine Frau, ein Jauchzer, ein Esel – fünfmal hörten wir das noch. Und dann spürten wir den heißen Atem der Esel in unserem Rücken.

„Geht’s nicht etwas schneller, meine Herren?!“ Der Mensch wurde uns „Lasteseln“ sehr unangenehm. Der Jurist versuchte zu murren: „Wäre es nicht sinnvoller, die Esel tragen das Gepäck und unsere Frauen laufen?!“

„Ich erfülle nur den Wunsch Ihrer Frauen, mein Herr. Frau und Gepäck sind zu schwer für die kleinen Tiere. Der Tierschutz würde mir sonst die Eselhaltung verbieten.“

Wir wurden das Gefühl nicht los, der Mann griente innerlich, als er diese Worte sprach.

Unsere Frauen sprachen gar nicht, ja, sie quietschten noch nicht einmal vor Vergnügen. Erst als der Weg so steinig und schmal wurde und links ein steiler Abhang den Pfad begrenzte, hielt Lydia den Esel an und verlangte ängstlich, absteigen zu dürfen. So übernahm der Esel das Gepäck und wurde zum … Lastesel.

Und da Lydia dies vorgab, stiegen auch die anderen unserer lieben Frauen von ihrem Reittier und betrachteten uns mitleidig. Meine Karla wischte mir sogar den Schweiß von der Stirn. „Jetzt geht’s leichter, Fred“, säuselte sie.

Von wegen leichter. Die Jüngsten waren wir ja nun wirklich nicht mehr. Und als der Chemiker als Erster ganz oben auf dem Berg Gemäuer durch die Bäume schimmern sah, knurrte er nur: „Da hoch müssen wir?!“

Ja, wir mussten! Unsere Frauen hatten das sich so ausgedacht. Dafür, dass uns die Zunge zum Hals heraushing, das Hemd Schweißflecken bekam - mein Arzt, würde er mich so sehen, mal wieder sagen könnte: „Na Herr Kern, etwas mehr Bewegung! Ihr Kreislauf muss angekurbelt werden!“ – all dafür haben die Frauen Maxis Gewinn und unsere vielen „Marsch in die Ecke – 50 Euro ins Schwein!“ geopfert.

Endlich waren wir oben! Wir sahen wenig von der wunderschönen alten halb verfallenen Burg – oder war es nur noch eine Ruine? Der Mensch mit den Eseln bat alle zu einem Umtrunk ins Haus, Verzeihung, ich wollte sagen: in die Burg.

Ja, es war eine Burg. Liebevoll hergerichtet, spartanisch eingerichtet wie vor 600 Jahren, mit einem Bier, das aus dem tiefen kalten Burgkeller kam und so köstlich schmeckte, wie Bier selten schmeckt. Jeder der Männer bekam einen großen Humpen und auch unsere Frauen griffen danach. Doch das „schwache Geschlecht“ war Gott sei Dank zu schwach, um den ganzen Humpen auszutrinken. So schütteten wir das Bier der Frauen in unsere brennenden Kehlen. Danach sah die Welt schon bedeutend besser aus.

Die Burgherrin kam, uns zu begrüßen. Sie sprach das feinste Deutsch, das man hier oben zwischen Himmel und Erde, nur sprechen konnte. Ihre Erläuterungen versöhnten uns wieder mit unseren Frauen, erzählte sie doch, dass ihr Mann - das war der Mensch mit den Eseln - und sie die Burgruine liebevoll restauriert hatten. Und da sie beide ein Faible für das Mittelalter hatten, wollten sie ein Hotel der besonderen Art schaffen. Viele Jahre, Tausende und aber Tausende Stunden haben sie in der Freizeit Kalk und Steine mit und ohne Esel den Berg hinaufgetragen.

„Nach einem Jahr hatte mein Mann seinen Bierbauch und 30 Kilo verloren. Nach dem zweiten Jahr wollte er nicht mehr ohne die Burg sein und im dritten Jahr empfingen wir die ersten Gäste. Es ist nicht jedermanns Geschmack, eine Woche oder auch zwei auf fließendes Wasser, elektrisches Licht, aufs Fernsehen und auf Zentralheizung zu verzichten. Wir haben versucht, alles, angefangen vom Bett bis zu den Speisen, nur so unseren Gästen anzubieten, wie es in der Zeit des Mittelalters auch gewesen war. Sie, meine lieben Gäste, haben für zwei Wochen gebucht. Sollte es Ihnen nach einer Woche bei uns nicht gefallen, dann werden wir Ihnen nur eine Woche berechnen. Es ist schließlich nicht jedermanns Sache, auf einem Esel zu reiten und ohne Auto auszukommen.“

Erstaunlich, Hoteliers, die den Gästen anbieten, nach einer Woche die Buchung zu stornieren?! Erstaunlich unser Zimmer, der Ausblick, die Heizung, das Essen; erstaunlich war alles und es war alles schön so! Keiner maulte mehr, jeder lobte Maxi für ihre Wahl. Und wir saßen in der großen Küche, die zugleich der Aufenthaltsraum war, am wärmenden offenen Herdfeuer und erfreute sich an den Erzählungen des Wirtes. Seine Erzählungen hatten Witz und seine Sprache besaß einen besonderen Charme.

So erzählte er über die ehemaligen Besitzer der Burg. Vieles hatte das Ehepaar im Laufe der Jahre zusammengetragen. Besonders interessant war der Bericht über das Rittergeschlecht, das um 1500 Eigentümer der Burg und der umgebenden Flur und des Waldes war.

Und so etwa ging der Bericht des Wirtes: „Da die Einnahmen, die die Hörigen dem Ritter entrichten mussten, immer bescheidener ausfielen, der Herr aber auf der Burg nicht den Luxus der damaligen Zeit missen wollte, verlegte man sich aufs Rauben. Die schmale holprige Straße, die heute zu dem Parkplatz führte, war damals eine wichtige Handelsstraße, auf der Güter weit vom Norden in den Süden und umgekehrt ihren Weg nahmen. Zuerst wurden die Wagen der Kaufleute ausgeraubt und die Kaufleute und ihre Knechte unter dem Gejohle der Burgmannschaft nackend in den Wald getrieben. Doch was sollte ein Herr mit vielen Säcken Pfeffer oder 10 Ballen flandrisches Tuch? Selbst Handel treiben? Das kam für einen Herrn nicht infrage. So verlegte man sich aufs Kidnapping, um es in Neudeutsch auszudrücken. Und dieses Geschäft war sehr lohnend. Ware und Kaufmann gegen Bares – das war die neue Gewinn-Maxime des Herrn.

Doch je reicher der Herr wurde, umso lauter schrien die Kaufleute nach dem Schutz durch den Landesherrn. Hatte der zuerst kein Interesse, den Ritter zu bekämpfen, so sollte sich das ändert, als die Kaufleute ihm vorrechneten, welch gewaltige Summen der Ritter als Lösegeld von ihren Familien erpresst hatte. Auch drohten ihm die reichen Kaufleute mit einem Schutz- und Trutz-Bündnis wider den Raubritter, sollte er, der Landesfürst, nicht Ordnung in seinem Reich halten. So sandte der Fürst eine für die damalige Zeit gewaltige Streitmacht gegen den Ritter. Mit zwei Kanonen wurde die Burg mehrere Tage lang beschossen und als das Tor aufgesprengt und die dicken Mauern gebrochen waren, stürmten an die 50 schwer bewaffnete Landsknechte in die Burg. Die wenigen Mann der Burgmannschaft baten um Gnade, der Ritter selbst soll sich vom Burgturm hinuntergestürzt haben. Bevor er sprang, soll er geschrien haben: ‚Nie kriegt der Fürst meinen Schatz! Da, wo ich hinspring, da soll er auch bleiben!‘ Und seine Frau und seine beiden Töchter sollen zugeschaut haben, wie der Mann, der Vater in den Tod sprang.

Die Edelfrau und ihre Töchter verbannte der Landesfürst ins Kloster. Mehrere Wochen sollen die Landsknechte Stein um Stein umgedreht haben, um den Schatz des Raubritters zu finden. Doch er blieb verschwunden. Der Ritter hat das geheime Versteck mit in den Tod genommen. Viel wurde in der Zwischenzeit getan, um den Schatz zu finden. Sagen entstanden und der Schatz wuchs in den Augen der Suchenden zu einem gigantischen Haufen aus Gold, Silber und Edelsteinen.“

Und so beendete der Wirt seinen Bericht: „Eine Sage erzählt, dass der Geist des Raubritters keine Ruhe findet. Nachts treibt er sein Unwesen um die Burg. Jeden, dem er begegnet, erschreckt er aufs Gewaltigste, damit ja keiner nach seinem Schatz suchen solle.

Da ja ein eigenes Burggespenst für Wirtsleute immer ein gutes Omen ist, haben wir uns auch ein eigenes Gespenst zugelegt. Erschrecken Sie also nicht, wenn Sie des Nachts auf den Klippen südlich unserer Burg, ein Leuchten und Blitzen sehen. Der Gottfried aus dem Dorf spielt unser Gespenst. Wir hatten auch schon Kindergruppen hier auf der Burg und da hatte meine Traudel den Gedanken, ihnen ein echtes Burggespenst zu präsentieren. Dem Gottfried, er ist ein bissel zurückgeblieben und mit seinen 30 Jahren selber noch ein Kind, machte es selbst so viel Spaß, dass er immer, wenn er mitbekommt, dass Gäste auf der Burg sind, sein weißes Gewand anlegt und mehrere Taschenlampen strahlen lässt. Und ich muss sagen, er macht‘s nicht schlecht, der Gottfried. Wenn er heute noch nicht spukt, morgen ganz bestimmt. Also erschrecken Sie nicht, wenn Sie ihn im Mondenschein bewundern können. Er kommt dann am Morgen auf die Burg und fragt, wie es den Gästen gefallen hat. Dann müssen Sie ihn tüchtig loben. Es ist ein liebenswerter Bursche, der Gottfried.“

So verbrachten wir also auf einer Burg unsere Urlaubstage. Wir schliefen auf Strohsäcken und deckten uns mit Tierfellen zu. Statt des Morgenkaffees gab es ein Getränk, das die Kräuter des Waldes und der Wiese vereinte. Das Mittagessen konnte deftiger nicht sein. Schwarzbrot und Wildbraten – es war ein Genuss der besonderen Art.

Da der goldene Herbst wirklich golden war, brachten wir immer am Nachmittag auf einer ausgedehnten Wanderung unseren Kreislauf in Schwung. Und wie der Wirt es verkündet hatte, spukte auch pünktlich ab dem zweiten Abend das Burggespenst und am Morgen lernten wir dann einen wirklich liebenswerten Gottfried kennen.

So verging eine Woche und wir waren mit Maxis Urlaubsplanung mehr als zufrieden. Und pünktlich nach einer Woche fragte uns die Wirtin: „Möchten Sie abreisen oder bleiben Sie?“

Der Techniker gab ihr die Antwort: „Also ich bleibe, bis der Keller kein Bier mehr hat!“

„O“, lachte da die Wirtin, „dann hätten wir einen Jahresgast!“

Und das wirklich Eigenartigste an diesem Urlaub war, dass keiner der Männer die Skatkarten auspackte. Ich war sowieso nicht drauf versessen, aber mein Bruder, der Jurist, der Oberlehrer, der Techniker und der Chemiker? Keiner nahm das Wort „Skat“ in den Mund, geschweige eine Skatkarte in die Hand. Wir genossen die Ruhe, die Völlerei, das Wandern bei herrlichstem Herbstwetter, das Piksen im Stroh und die vielen Humpen, die der Wirt jeden Abend mit einem „Wohl bekomm’s!“ auf den schweren Eichentisch stellte.

Auch hatten wir unser Vergnügen, dem Gottfried bei seinem Spuken zuzusehen. Er war dabei recht einfallsreich und so manches Mal befürchteten wir, dass er allzu waghalsig auf den Felsen sich tummelte. So standen wir auch am neunten Tage unseres Urlaubsaufenthaltes auf den Burgmauern und bewunderten unseren Gottfried. Er ließ es heulen und blitzen, machte mal wieder waghalsige Sprünge von einem Felsen zum anderen und dann kam eine Premiere: Er rasselte mit Ketten. Unseren Applaus hatte er sich verdient und wie ein Künstler verbeugte er sich, als er den Applaus hörte.

Der Abendnebel kroch den Berg hinauf, der Mond, es war ein wundervoller runder Mond, leuchtete in der klaren Luft besonders hell und ließ den Nebel und im Nebel das Burggespenst wirklich gespenstig aussehen. Schon rief der Jurist zu den Felsen hinüber: „Gute Nacht, Gespenst! Wir betten jetzt unsere müden Glieder im Stroh!“, als Antonia verwundert ausrief: „Da, ein zweites Gespenst!“

Ja wahrhaftig, ein zweites Gespenst, ebenfalls in ein weißes Tuch gehüllt und mit hellem Licht strahlend huschte zu unserem Gottfried.

„Da hat sich der Gottfried wohl Verstärkung geholt“, bemerkte mein Bruder Bob und wir winkten den beiden „Gespenstern“ zu und gingen in die Burgküche, unseren Schlummertrunk einzunehmen.

Überrascht waren wir am nächsten Morgen, als wir vergebens nach Gottfried Ausschau hielten. Auch der Wirt war verwundert, weil das bislang noch nicht vorgekommen sei. So machte ich den Vorschlag, doch mal das Gelände abzusuchen. Vielleicht sei dem Gottfried ja bei seinen waghalsigen Sprüngen etwas geschehen.

„Aber passen Sie auf, meine Herren!“, rief uns der Wirt noch hinterher. „Stürzen Sie mir nicht ab! Hier gibt es keinen Rettungswagen!“

So kletterten sechs mehr oder weniger beleibte alte Herren auf den Felsen herum, die gegenüber dem Burgberg eine ideale Kulisse für Gottfrieds Gespensterauftritte bildeten. Wir suchten jeden Meter ab, schauten in jede Spalte und hatten dann nur noch den sogenannten Kamin zum Durchsuchen. Zwischen den Felsen war eine Öffnung, viele Meter tief, die von Bergsteigern als Kamine bezeichnet werden. Nur wir waren keine Bergsteiger und doch mussten wir da hinunter. Hatten wir doch, wir glaubten es wenigstens, an einem kleinen Vorsprung einen weißen Tuchfetzen gesehen. Wir schauten uns gegenseitig an, wer es wagen könnte, da hinunterzusteigen. Ich war in der Männerrunde der Jüngste und noch ziemlich ohne Bauch. Ich traute mir zu, das Wagnis auf mich zu nehmen. Ich wollte wenigstens so weit klettern, dass ich etwas sehen konnte. Auch hatten wir auf Anraten des Wirtes ein Hanfseil mitgenommen, das zwar viel zu kurz, aber für meinen Kletterversuch ausreichend war.

Nun habe ich vom Klettern so viel Ahnung, wie der Esel vom Schreiben. Aber im Gegensatz zum Esel habe ich einige Bergsteigerfilme gesehen, und so wollte ich, wie meine legendären Vorbilder, den Kamin bezwingen. Und ich staunte selber: Es ging!

Schritt für Schritt – ich weiß nicht, wie man sonst dazu sagen könnte, hangelte ich mich am Seil hängend und die wohlgemeinten und zugleich dämlichen Sprüche der Skatbrüder hörend, den Kamin hinab. Und dieser Kamin hatte es schon in sich. Dann endlich war ich an dem Vorsprung, an dem das Stückchen weißes Tuch hing. Wir hatten richtig gesehen, es war ein Tuch aus weißem Leinen, ein Tuch, wie man es früher als Bettlaken verwendete.

„Noch einen Meter und ich müsste den Boden sehen können!“, schrie ich nach oben. Und dumpf hörte ich: „Das Seil geht zu Ende!“

Ich kümmerte mich nicht um das Seil, sondern hangelte mich weiter hinab, bis das Seil so straff gespannt war, dass ich nicht weiter kam. Aber dieser Standort genügte schon, um nach unten blicken zu können. Dort lag eine weiße Gestalt. Deutlich machte ich einen Menschen aus.

Ich brüllte so laut ich konnte: „Unten liegt ein Mensch! Holt ein langes Seil!“

Ich selbst suchte mir einen sichern Stand und löste das Seil. „Ich geh nach unten!“, schrie ich hinauf und hörte von oben: „Warte auf Hilfe!“

Doch warten wollte ich nicht. Da mein Abstieg bislang so gut geklappt hatte, meinte ich, den letzten Rest auch ohne Sicherungsseil zu schaffen. Und immerhin ging es um Gottfried, unserem liebenswerten Burggespenst.

Und es klappte! Schritt für Schritt, immer schön vorsichtig bezwang ich die letzten Meter. Hier unten war es zwar ziemlich duster, aber ich konnte Gottfrieds Gesicht erkennen. Als ich mich über ihn beugte, um nachzusehen, ob noch Leben in ihm sei, hörte ich ihn stöhnen.

„Gottfried lebt!“, brüllte ich so laut, wie ich konnte. „Holt Lydia!“

Ich konnte nichts für Gottfried tun – ich musste warten. Dann endlich hörte ich oben eine Stimme: „Ich komm runter!“

Und ich schrie hoch: „Nein, es ist zu eng! Lasst das Seil hinunter!“

Und dann bekam ich das Seil zu fassen. Ich schlang es vorsichtig um die Brust des verletzten Gottfrieds, und nachdem ich mehrmals geprüft hatte, dass alle Knoten und Schlaufen auch halten würden, rief ich hinauf: „Zieht vorsichtig hoch! Gottfried hängt dran!“

Gott sei Dank war der Kamin fast kerzengerade und ohne größere Vorsprünge. So sah ich zufrieden, wie der Gottfried langsam aber sicher die Unterwelt verließ.

Während man oben sich um den verletzten Gottfried kümmerte, hatte ich unten Muse, mir das Gestein und den Untergrund anzusehen. Das Licht reichte aus, um grobe Strukturen zu erkennen, für genaueres Betrachten brauchte ich aber eine Taschenlampe. Und trotzdem fiel mir am Boden etwas auf, das eigentlich nach den Gesetzen der Natur so nicht sein dürfte: die Streichrichtung der Gesteine. Ich kratzte an der Bodenerde und dann sah ich, dass eine mächtige Platte, auf der ich stand, den gesamten Boden abdeckte. Anheben ging nicht, also überlegte ich, wie ich dieses Problem lösen könnte. Doch da rief es auch schon von oben: „Fred, das Seil kommt! Wir ziehen dich hoch!“

Ich schrie zurück: „Nein, ich klettere mit Seil!“ Und so tat ich es auch.

Oben empfing mich meine Karla und betrachtete mich, wie man einen Helden wohl betrachtet.

Na ja, ein Held war ich bestimmt nicht, war nur der Jüngste und nur mit leichtem Bauchansatz ausgestattet – also musste ich ja der Kletterer sein.

Ich erkundigte mich nach dem Gottfried und erfuhr, dass der Wirt bereits mit dem Oberlehrer, dem Juristen und meinem Bruder auf dem Weg ins Tal waren. Immer zwei Mann tragen die Liege, und da der Weg zur Straße recht lang war, wollte man sich regelmäßig beim Tragen abwechseln. Auch Lydia war mitgegangen, auch wenn sie im Moment nichts für den Verletzten tun konnte. Nach ihrer Meinung hatte Gottfried eine Schädelverletzung und wahrscheinlich mehrere Knochenbrüche. Auch wäre er recht unterkühlt gewesen. Das aber sah Lydia als nicht so tragisch an, war doch Gottfried ein junger Mann, der vor Kraft nur so gestrotzt hatte.

Während ich mich mit einem kühlen Bier erfrischte, rätselten wir, wie dies hat geschehen können. Die Wirtin meinte, dass nicht nur der Rettungsdienst informiert worden wäre, sondern auch die Polizeistation im Ort. Der Polizist wolle mit ihrem Mann dann hier hinauf zur Burg kommen, um die Untersuchung durchzuführen.

Doch auf den Amtsträger wollten wir nicht warten und spekulierten kräftig drauf los. Und natürlich spielte da auch das zweite „Gespenst“, das mit einem Male bei unserem „Gespenst“ gesehen wurde, eine große Rolle. Und natürlich kamen wir auch auf den Schatz zu sprechen, auf Schatzsucher, auf ein Verbrechen!

Die Wirtin, die unserem Gespräch gelauscht hatte, meinte lachend zu unseren Spekulationen: „Ach geht’s meine Herrschaften, ein Verbrechen bei uns? Auf unserer Burg? Das glaub ich nimmer!“

Aber irgendwie hatte sich bei uns der Gedanke, hier liegt ein Verbrechen vor, festgesetzt. So erwarteten wir die Ankunft des Polizisten mit großer Anspannung.

Dann sahen wir ihn. Also, wir waren ja auch keine jungen Sprinter, die einen Burgberg im Dauerlauf erklimmen, aber unser Ordnungshüter, ca. um die 50 und mit einem äußerst respektablen Bierbauch ausgestattet, schwitzte, dass man meinen konnte, er käme gerade aus der Sauna. Schwer atmend erkundigte er sich, wo das Unglück geschehen sei. Ich versuchte, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass hier womöglich ein Gewaltverbrechen vorliegen könnte, doch der Amtsträger winkte nur müde lächelnd ab. „Bei uns? Ein Verbrechen? Versuchter Mord? Seit 30 Jahren gibt’s außer den üblichen Wirtshausschlägereien keine Delikte! Da geht die Fantasie mit Ihnen durch, mein Herr!“

So abgekanzelt hielt ich mich mit neuen Vermutungen zurück und betrachte den Herrn Polizisten, wie er zuerst genüsslich einen großen Humpen kühles Bier sich einverleibte und wie er dann mühsam durchs Gelände „rollte“ – das Wort „gehen“ wollte ich ihm nicht zugestehen.

Als er zu dem Kamin gekrochen war, konnte ich es mir doch nicht verkneifen, zu stänkern. „Da unten hat er gelegen, der Gottfried! Wollen Sie nicht hinuntersteigen, um den Tatort zu besichtigen?!“

Wenn Blicke töten könnten, ich wäre geröstet, gehenkt, erschossen, gevierteilt, vergiftet und was nicht alles noch gewesen. Wortlos verließ der Amtsträger den Tatort und sagte zum Wirt in einer Sprache, die wir nur erahnen konnten. Ich glaube, er hat dem Wirt gesagt, dass er von einem Unfall ausgehe und die Alten, damit meinte er garantiert uns, nur feine Spinner aus der Stadt seien, die sich wichtig machen wollten.

O, dieser Ordnungshüter! Was hätte ich drum gegeben, ihm seine Unfähigkeit nachweisen zu können – ich konnte es aber nicht! Noch nicht! So jedenfalls hoffte ich!

Schnaufend setzte sich der Dicke in Richtung Tal in Bewegung. Ich wünschte ihm nichts Böses, nur einen kleinen Ausrutscher, einen kleinen Beinbruch oder so etwas in dieser Richtung. Nein, unser Herr Polizist „rollte“ behäbig und sehr vorsichtig ins Tal.

Dafür erhielt die Wirtin jetzt eine gute Auskunft über ihr Handy. Unser „Gespenst“, unser Gottfried, ist außer Lebensgefahr und war zum ersten Male, ganz kurz zwar nur, bei Bewusstsein gewesen. Das war für uns Grund genug, einen Humpen zu trinken und auf die Genesung des Gottfrieds anzustoßen.

Jetzt hatte ich auch Gelegenheit, meine Freunde auf meine Beobachtung hinzuweisen. Ich schwor „Stein und Bein“, dass dies keine Anomalie im Stein gewesen sei. Die Steinplatte, auf der ich unten im Kamin gestanden habe, sei von Menschenhand dorthin befördert worden.

Wir fragten den Wirt, ob er schon einmal dort unten gewesen wäre, und erhielten die verwunderte Antwort: „Da unten? Warum?“

Wir konnten ihn nicht überzeugen, da unten mal selbst nachzusehen. So beschlossen wir, am Nachmittag auf die Wanderung zu verzichten und uns dafür im Bergsteigen zu üben. Das Wort „Schatz“ wurde nicht ausgesprochen, aber alle wollten daran glauben.

Ich meldete mich freiwillig für den Abstieg, nahm meinen Mut in beide Hände und kletterte vorsichtig hinunter. Die Schwierigkeit war, die Platte, auf der ich eigentlich stehen müsste, anzuheben. Doch irgendwie schaffte ich es mit vielen Verrenkungen und noch mehr saftigen Flüchen und die Steinplatte stand senkrecht – und ich stand mitten im Schatz!

Ich starrte auf das matt schimmernde Gold, auf Münzen aus Silber und Gold, auf eine Halskette, ich starrte und schwieg.

Oben wurde man unruhig. „Fred, was ist los?“ Aber erst beim dritten Rufen erwachte ich aus meiner Verzückung.

„Ich brauche einen Beutel!“, schrie ich hoch.

„Wozu brauchst du einen Beutel?“

„Ich brauche einen Beutel! Macht schnell!“

Nach mindestens 10 Minuten kam ein großer Beutel nach unten geflogen und ich sackte den Schatz ein.

„Hochziehen!“, schrie ich.

Und meine Freunde zogen den Schatz nach oben.

Dann hörte ich nur noch Freudenschreie und hatte schon Sorge, dass man mich hier unten vergessen würde. Doch meine Karla ließ sich nicht von Gold, Silber und Edelsteinen beeinflussen. Ich hörte sie mehrmals rufen: „Jetzt müsst ihr aber den Fred hochziehen!“

Dann endlich konnte ich das Seil um die Brust schlingen und langsam und immer auf Sicherheit bedacht, stieg ich nach oben.

So viele anerkennende Schläge auf meine Schultern hatte ich lange nicht mehr erhalten. Mir wurde die Ehre zuteil, den Wirtsleuten den Schatz des Raubritters auf den eichenen Tisch auszuschütten.

Der Mann sagte gar nichts und die Wirtin stöhnte nur: „Es ist wahr! Es ist wahr! Der Schatz! Es gibt ihn!“

Nachdem die erste Aufregung sich gelegt hatte, fragte die Wirtin: „Wem gehört nun der Schatz?“

Jetzt war der Jurist gefragt. Und er druckste herum, es dauerte lange, ehe er eine Antwort gab. „Eigentlich ist das Schatzsuchen nicht erlaubt. In diesem Falle aber wurde nicht nach einem Schatz gesucht, sondern nach Beweisen für ein Verbrechen – oder Fred?“

Ich nickte zustimmend.

„Also“, fuhr er fort, „gehört der Schatz dem Eigentümer. Der ist aber schon lange Tod, so nehme ich an. Ach, ich meine, dass das Geschlecht längst ausgestorben ist. Dann müsste der Schatz den Wirtsleuten gehören, wenn ihnen dieses Stück Land, wo sich diese Felsen befinden, auch gehört. Oder aber das Land würde dann Eigentümer sein. Das Land könnte auch Eigentümer sein, weil es sich um ein Kulturgut handelt. Aber all das müssten die Gerichte entscheiden!“

„Jo, Herr Jurist, jetzt bin ich genau so schlau, wie vor Ihrer Rede“, meinte der Wirt.

„Es muss geregelt werden“, erwiderte die Wirtin. „Morgen früh schaffen wir den Schatz ins Dorf und übergeben ihn dem Ortsvorsteher.“

„Ich würde damit noch warten“, meinte jetzt Martina.

„Warum denn?“, verwunderte sich ihr Mann, der Chemiker. „Die Rechtslage muss geklärt werden.“

„Ja schon, nur …“ Sie machte eine längere Pause. Dann fuhr sie stockend fort: „Der Polizist, also dieser Dicke, schloss von vornhinein ein Verbrechen aus. Wir alle haben aber gestern Abend das zweite ‚Gespenst‘ gesehen. Wenn es nun doch kein Unfall, sondern ein Verbrechen war, dann müssten wir doch den Täter suchen. Die Polizei macht das doch nicht!“

Alle starrten zu Martina.

„Wie, los sag schon, wie sollen wir das anstellen?“ Maxi war richtig rot vor Aufregung.

„Wir können diesen Verbrecher nur stellen, wenn er sich selber stellt!“

„Darauf können wir bis zum Jüngsten Gericht warten, Martina!“

„Aber nicht, wenn er in unsere Falle geht!“ Martina ließ sich nicht einschüchtern. „Morgen verbreiten wir im Dorf, dass bei der Bergung des Verletzten eine Goldmünze gefunden worden sei. Wir könnten auch eine Goldmünze als Beweis überall herumzeigen. Und wenn das Gerücht das zweite Gespenst erreicht,

dann …“

„Ja, dann schnappt die Falle zu!“

Und wir ließen die Falle zuschnappen! Am nächsten Tag besuchten wir gemeinsam mit den Wirtsleuten das Dorf. Überall, wo die Wirtsleute einkauften oder auch nur einen kurzen Plausch halten wollten, wurde die Story vom Raubritterschatz erzählt und die Meinung gestreut: „Der Gottfried ist ein Glückskind! Er hatte sehr viel Glück gehabt, dass er den Unfall überlebt hatte. Aber stellt euch vor, nachdem der Gottfried ins Tal gebracht wurde und der Dorfpolizist den Unfall aufgenommen hatte, haben unsere Gäste nochmals die Felsen abgesucht. Dieses Goldstück hat einer von ihnen doch wirklich gefunden. Jetzt vermuten wir, der Gottfried weiß vielleicht etwas von dem Schatz. Wir hoffen nur, er wird bald gesund und kann uns erzählen, ob er den Schatz gefunden hat.“

So oder so ähnlich wurde die Geschichte von den Wirtsleuten in ihrem Dialekt erzählt. Wir konnten trotz aller Sprachprobleme mit Vergnügen feststellen, dass die Wirtsleute äußerst kreative Menschen waren. Sie variierten diese Geschichte immerfort, nur die Grundidee blieb dieselbe: Der Schatz könnte dort liegen, wo der Gottfried abgestürzt ist!

Der Jurist hatte den Wirtsleuten vorher eingeschärft, ja nicht zu sagen, wo genau der Gottfried gefunden wurde. In der Hoffnung, dass der Polizist nichts über den Unfallort im Dorf erzählt habe, meinte der Jurist nämlich, dass unsere Falle nur so auch wirklich zur Falle werden könnte. Nur wenn einer in den Kamin steigt, um dort den Schatz zu suchen, dann haben wir den Verbrecher. Denn nur derjenige wüsste, wo er suchen sollte. Und so hofften wir, dass der dicke Polizist nicht nur zu faul zum Laufen und Klettern, sondern auch zu faul zum Reden war.

Für uns war dieser Vormittag auch recht interessant. Lernten wir doch mit diesem Dorf auch Menschen kennen, die weit abgeschieden von der Hektik einer Großstadt oder eines Industriegebietes, ihren gewohnten Tagesarbeiten nachgingen. Da grub der Großvater den kleinen Garten um, um doch nach jedem dritten Spatenstich zu suchen, mit wem er jetzt einen Schwatz machen könnte. Die Frau Metzgerin lobte laut ihre warmen „Brühwürst“ und ob wir wollten oder nicht, zwölf Portionen standen mit einem Male auf der Fleisch-Theke. Als ans Bezahlen ging, bekam der Techniker einen vorwurfsvollen Blick: „A geh, junger Mann, der Leutl wirst bezahlen müssen. Ist‘ doch das Zweitfrühstück!“

Der arme Leutl, gemeint war unser Wirt, wusste von nichts. Als wir ihn darüber aufklärten, meinte er nur: „Ist schon recht so. Sie sein meine Gäst doch!“

Den zweiten Halt zum Erfrischen machten wir beim Gastwirt, der nicht nur Gastwirt, sondern auch Bierbrauer war. Als wir den ersten Schluck zu uns nahmen, wussten wir, woher unser Wirt das wirklich gute Bier herbekam. Das Bezahlen ging so vor sich, wie zuvor beim Metzger.

Als wir uns im Schweiße unseres Angesichts den Berg hinaufmühten, sinnierte der Oberlehrer laut: „Es wäre zu überdenken, ob wir in Zukunft den Rest unseres kurzen Lebens nicht doch einem solch friedlichen Ort anvertrauen sollten!“

Darüber nachzudenken taten wir, doch keiner äußerte sich dazu. Mir kamen nämlich sofort all die vielen kleinen Dinge in Erinnerung, die ich hier, in dieser Abgeschiedenheit, niemals haben könnte. Und so glaube ich, ging es allen. Ich konnte mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass meine Karla auf ihren obligatorischen Einkaufsbummel, der durch mindestens fünf große Geschäfte ging, verzichten wollte.

Aber man wird ja mal nachdenken dürfen!

Dieses Nachdenken half, den steilen Aufstieg erträglicher zu machen. Auf halber Höhe fragte der Chemiker den Wirt, ob man nicht das Abendbier, unseren Schlummertrunk, auf die Heimkehr in die Burg vorziehen könnte.

Ein feixender Wirt meinte: „Jeder, der den Burgberg erklimmt, erhält seinen Humpen! Ist Tradition!“

Am frühen Abend bezogen wir unsere Aussichtsposten. So wollten wir jeden, der sich in der Nähe des Kamins zu schaffen machte, mit meiner Kamera fotografieren. Doch es kam keiner.

Da es auch des Nachts ruhig blieb, wir hatten sogar Stundenwachen eingeführt, hofften wir auf den nächsten Tag. Wir sahen ein Reh und einen Rotfuchs, in der Ferne hörten wir ein Kind greinen. Das war‘s! Sollte Martinas Plan doch nicht funktionieren? Wir wollten aber nicht zu früh aufgeben. Ja, wir überlegten sogar, unseren Aufenthalt auf der Burg zu verlängern.

Wir fragten bei den Wirtsleuten nach, die sofort begeistert von unserem Verlangen waren. „Die Wanderzeit ist vorbei, es kommen keine Gäste mehr. Natürlich können sie bleiben, auch zum halben Preis!“

Doch der zweite Abend brachte uns bereits den Erfolg. Der Oberlehrer und seine Frau Antonia hatten diese Wache. Sie sahen kurz vor Mitternacht ein Licht, das sich hüpfend zwischen den Felsen bewegte. Keine fünf Minuten später standen zwölf Rentner und die Wirtsleute bereit, den Verbrecher zu stellen.

Als das hüpfende Licht im Kamin verschwunden war, bewegten wir uns mit unseren Taschenlampen zum Kamin. Jetzt brauchten wir nur noch zu warten. Wir sahen den Strick, den der Übeltäter an einem Felsvorsprung gebunden hatte, wir sahen einen zuerst locker hängenden Strick, dann einen festgezurrten, wir sahen ein flackerndes Licht und dann sahen wir in das Gesicht. Und er – er sah nichts, blickte er doch in mehrere mit neuen Batterien bestückte Taschenlampenlichter.

„Schorsch? Du!“ Die Stimme des Wirtes klang verwundert und wütend zugleich. „Wie konntest du!“ Und er ging zum Kamin und seine Frau hielt ihn zurück.

„Nicht, Leutl!“, rief sie. Und Leutl beherrschte sich. „Das hätte ich niemals von dir gedacht!“ In diesem einen Satz packte der Wirt seine ganze Enttäuschung.

Wir erfuhren hinterher, dass der „Schorsch“, der eigentlich Georg hieß, sich immer für die Burg und ihre Geschichte interessiert hatte. Viele Stunden hatte er beim Wirt gehockt und dessen Erläuterungen zur Burg und der Geschichte gelauscht. „Und dabei ist es dem Kerl nur um den vermeintlichen Schatz gegangen! Der kommt mir nicht noch einmal auf die Burg!“

Aber jetzt war er auf der Burg, im Burgverlies – bei Wasser und Brot!

Ich drängte den Wirt, er möge doch sofort den Polizisten anrufen, damit der den Geständigen noch des Nachts abholen könnte. Der Wirt sah mich verwundert an: „Meinen Sie wirklich? Jetzt um Mitternacht den Hubermaier aus dem Bett holen?“

„Na, er ist doch hier die Amtsperson?!“, bemerkte ich gehässig.

Es wäre zu schön gewesen, den Dicken jetzt mitten in der Nacht hier auf der Burg begrüßen zu können. Doch meine Rache gelang mir nicht: Der Dicke blieb im Bett!

Ich hörte ihn nur furchtbar laut fluchen. Ich verstand grinsend, dass auch der Schlaf eines müden und abgearbeiteten Dorfpolizisten für Wirtsleute heilig zu sein hat und dass er erst in der Frühe den Schorsch abholen werde. Und dann sagte er noch etwas, dass ich leider nicht verstand. Dafür machte der Wirt ein böses Gesicht und knurrte, nachdem er das Handy ausgestellt hatte: „Blöder Kerl!“

Und der Wirt verweigerte am nächsten Morgen einem schwitzenden und keuchenden Hubermaier das obligatorische Gipfel-Bier. Dafür erhielt er den Schorsch.

„Hubermaier, der Schorsch hat, als wir ihn am Kamin in Empfang nahmen, vor 14 Menschen gestanden, mit dem Gottfried gerauft zu haben. Er wollte vom Gottfried wissen, ob der das Versteck des Schatzes gefunden habe. Doch der Gottfried wusste doch gar nichts. Da hat ihn der Schorsch bissel verprügeln wollen und da ist es geschehen: Der Gottfried stürzte beim Gerangel in den Kamin.“

Jetzt mischte ich mich ein: „Bis dahin Herr Hubermaier war es ein Unfall. Doch der Schorsch hat keine Hilfe geholt und hätte sogar in Kauf genommen, dass der arme Gottfried dort unten sein Grab gefunden hätte. Und das war und ist ein Verbrechen, Herr Polizist!“

„Ei ja, das solle der Richter sagen!“, murrte der Herr Polizist jetzt nur. Und dann besann sich die dicke Amtsperson und bedankte sich ganz artig bei uns Rentnern für die Aufklärung dieses Falles. Auch mit dem Wirt wechselte er einige Sätze in der einheimischen Mundart. Das Ergebnis dieses kleinen Plausches war, dass ein zufrieden lächelnder Wirt einen kühlen Trunk aus dem Keller holte und ein noch zufriedener Hubermaier den Bierschaum von den Lippen wischte. Jetzt war die Welt hier oben wieder in Ordnung!

Also, so ganz noch nicht. Denn der Wirt erwähnte mit keiner Silbe den gefundenen Schatz. Erst am Nachmittag, als der Wirt mit dem Juristen und seiner Frau den Schatz zum Ortsvorsteher brachte, erfuhr der Hubermaier von dem aufgefundenen Schatz des Raubritters. Er wurde als Zeuge und Amtsperson für das vom Juristen aufgesetzte Protokoll hinzugezogen.

Und dann sprach der Hubermaier das entscheidende versöhnliche Wort: „Leutl, sag deinen Gästen meinen herzlichsten Dank und auch dir und deiner Traudel meinen herzlichsten Dank. Ich hab einen Fehler g‘macht. Soll nicht wieder vorkommen.“

„Ach Hubermaier, wir machen doch alle mal einen Fehler.“ Nun war der Frieden endgültig wieder hergestellt.

Der Abend, es war leider unser letzter auf der Burg, konnte beschaulicher nicht sein. Vom Krankenhaus hörten wir die Kunde, dass der Gottfried bei Bewusstsein sei und dass die Ärzte sich sicher sind, dass Gottfried wieder voll genesen würde. Ja, es bestehe sogar die Hoffnung, dass die Schädelverletzung etwas in dem „kaputten“ Hirn des Gottfrieds „repariert“ haben könnte. Und wenn dies so wäre, dann wäre unser liebenswerter Gottfried ein wahrer Glückspilz. Da nach Meinung des Juristen, der Finder des Schatzes einen Finderlohn erhalten müsste, und ich alle Rechte am Finderlohn an den Gottfried abgetreten habe, müsste er ein ordentliches Sümmchen erhalten. Auch hatte sich der Jurist telefonisch bei guten Juristenfreunden kundig gemacht, und als er uns über die Recherchen seiner ehemaligen Kollegen berichtete, strahlten der Wirt und seine Frau.

„Wenn das so ist, dann kommen Sie jedes Jahr wieder zu uns auf die Burg!“, rief die Wirtin erfreut aus.

Und der Techniker meinte grinsend dazu: „Bei dem guten Bier wird das aber für Sie teurer, als der ganze Schatz Wert hatte!“

Und da auch das wirklich Geistige an einem solch schönen Abend nicht zu kurz kommen darf, hielt uns der Oberlehrer noch schnell einen Vortrag über die Wahrheiten und Unwahrheiten in den Sagen. Diesen Vortrag allerdings vernahmen wir nur noch leicht eingenebelt – oder heißt das vollgenebelt? Also betrunken waren wir nicht!

Hätten wir gewusst, dass zu Hause im Briefkasten des Juristen ein amtliches Schreiben lag, in dem der Scharfsinn und die Beharrlichkeit unserer „Rentnerclique“ gepriesen wurden, dann hätten wir auch auf unseren neuen Fall trinken können. So aber muss ich Sie leider, lieber Leser, auf die nächste Kurzgeschichte verweisen.

 

5. Episode "Der Geheimauftrag" - HIER!