Die Rentnerclique: 1. Die Beschattung

1. Die Beschattung

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 (von Joachim Größer)

 

Vielleicht kennen Sie dies Gefühl: Egal, wohin man geht, ständig glaubt man, man wird beobachtet. Ich muss leider gestehen, ich war besessen – von diesem Gefühl. Alles fing damit an, dass meine Frau meinte, draußen auf der Straße hätte sie jetzt zum dritten Male einen Mann gesehen.

„Na und?“, fragte ich verwundert. „Ist ein Mann auf der Straße, auch wenn diese abgelegen ist, etwas Besonderes?!“

„Ja, wenn er ständig um das Haus herumschleicht, ist es das wohl!“

So trat ich ans Fenster und beobachtete. Und siehe da, meine Frau hatte recht. Ein Mann - nicht groß, nicht dick oder dünn, unscheinbar mit halber Glatze, gekleidet wie Herr Meier oder Herr Schmidt - ein Mann, der aussah, wie tausend andere Männer aussehen, spazierte die Straße entlang. Dabei konnte man sein Bemühen erkennen, unser Haus nicht aus den Augen zu verlieren.

Lange stand ich und beobachtete diesen „Spaziergänger“. Dann, es war bestimmt eine Stunde vergangen, sah ich, wie er das Handy aus der Jackentasche nahm und telefonierte. Und mit einem Male hatte er es sehr eilig. Fast laufend verschwand er in die nächste Straße und gleich darauf sah ich ein Auto vorbeifahren - ein Auto, wie es Frau Meier oder Herr Schmidt auch fahren.

 Ich hatte diese kleine nichtssagende Episode schon längst vergessen, als ich beim Spaziergang in einem Park, ich suchte nach einem schönen Fotomotiv, den Weg verließ und über die Wiese laufend zu einer Hecke kam. Und wie ich meinen Blick schweifen lasse und mir den Turm, den ich fotogen ins Bild setzen wollte, anschaue, gehe ich, nach dem schönsten Blickwinkel suchend, rückwärts auf die Hecke zu.

Ich weiß nicht, wer verwunderter war: ich oder der Mann, der aus der Hecke trat.

Zuerst dachte ich, dass wohl seine Blase dringend entleert werden musste, doch dann sandte mein Gedächtnis eine Information, die lautete: Den Mann kennst du!

Ja, ich kannte ihn, ich hatte ihn schon einmal gesehen. Wo? Wann? In welchem Zusammenhang?

Lange brauchte ich nicht zu grübeln: Es war der „Spaziergänger“ aus unserer Straße.

Er machte ein dämliches Gesicht, allerdings weiß ich nicht, ob ich nicht genauso dämlich aussah, machte auf der Stelle kehrt und verschwand von der Wiese.

Das dritte Mal, dass ich glaubte, man beobachtet mich, erlebte ich auf einer Autofahrt. Obwohl ich abgelegene Straßen befuhr, war ständig ein blaues Kleinauto hinter mir. Ich glaube, es war ein Ford Fiesta. Auch als ich die Fahrt verlangsamte und bewusst so weit nach rechts fuhr, dass der Fahrer sein Auto vorbeisteuern konnte, verlangsamte auch der das Tempo und blieb in einem gebührenden Abstand hinter mir.

Jetzt wollte ich es wissen. „Katz und Maus“ hatte ich schon lange nicht mehr gespielt – jetzt reizte mich der blaue Ford. Ich nutzte eine scharfe Kurve, gab mächtig Gas, bremste vor einem Waldweg - wie ein Idiot - „schoss“ in den Waldweg und schaute in den Rückspiegel. Der Fahrer des blauen Fiesta hatte das Tempo erhöht und jagte die Straße entlang.

Meine Güte, wie oft habe ich in Filmen diesen Trick gesehen. Jetzt konnte ich feststellen, er funktionierte. Ich war nicht mehr der Gejagte, jetzt jagte ich! Zwar hielt ich gebührenden Abstand zu meinem Verfolger, aber der musste wohl glauben, ich sei immer noch vor ihm. Allerdings staunte ich nicht schlecht, was solch ein kleines Auto mit so wenigen PS, wie es normalerweise ein Fiesta nur hat, leisten konnte. Nun hatte ich Schwierigkeiten, dran zu bleiben. Auch war mir sein Fahrstil denn doch etwas zu riskant. So verabschiedete ich mich mit einem freundlichen Aufblinken und fuhr, die nächste Kreuzung nutzend, auf die Hauptstraße. Dieses Aufblinken allerdings brachte meinen Verfolger wieder hinter mich, wie ich mich schmunzelnd im Rückspiegel überzeugen konnte. Als ich mein Ziel erreicht hatte und mein Auto verließ, schien meine Person wohl nicht mehr in seinem Fokus zu sein, denn ich sah den blauen Fiesta an diesem Tag nicht noch einmal.

Und noch ein Ereignis ließ mich kaum noch daran zweifeln, dass ich beschattet werde. Es war Einkaufstag, für meine Frau und für mich. Der Weg in die nächste größere Stadt bescherte mir wieder einen Verfolger, der konsequent alle unnötigen Umwege mit mir mitfuhr. Zwei Männer machte ich in dem mich verfolgenden Fahrzeug aus. An einer Ampelkreuzung kamen sie so nahe, dass ich ihre Gesichter erkennen konnte. Mein „Bekannter“ allerdings saß nicht im Auto. Schon sagte ich zu mir: „Du leidest ja an Verfolgungswahn!“, als diese beiden Figuren aus dem Auto auf demselben Parkplatz fuhren, dieselben Geschäfte aufsuchten und mich, wie ich unschwer, aus den Augenwinkeln schauend, erkennen konnte, nicht aus ihrem Blickfeld ließen. Nein, diese Beschattung war vorhanden und ich leide nicht an einem Verfolgungswahn. So beschloss ich, mich zu wehren. Als diese beiden Männer mit mir den vierten Laden aufsuchten, suchte ich ihre Nähe und sagte mit sehr lauter Stimme, dabei die beiden Männer anstierend: „So etwas gibt es doch nicht! Da verfolgen mich die ganze Zeit diese beiden Männer! He, was wollen Sie? Jetzt können Sie mich sprechen!“

Der Jüngere der beiden, sie taten sehr beschäftigt und kramten in einem Wühltisch für Damenunterwäsche, bekam einen roten Kopf und drehte sich weg. Der Ältere tat so, als habe er nichts gehört und wühlte weiter in den Damen-Slips.

Die Leute in diesem Geschäft, es war relativ voll, schauten sehr verwundert über meine Reaktion und suchten die Männer, die ich so direkt angesprochen hatte. Doch nach einem verwunderten Aufschauen gingen sie ihrem Einkauf nach.

Nicht so meine beiden Beschatter. Der Jüngere flüsterte dem Älteren etwas zu und beide verließen den Wühltisch in Richtung Ausgang. Dafür erwartete ich sie im nächsten Laden, aber sie kamen mir nicht nach.

Ich muss ergänzen, dass meine Frau eine ungeheure Energie entwickelt, wenn es bei uns heißt: Es ist Einkaufstag. Fünf Läden, ob große oder kleine, fünf sind das Minimum. Ich stehe dann meistens mehr oder weniger gelangweilt in den Gängen, oft tue ich sehr interessiert, wobei das, was sich meine Frau ansieht, oftmals wirklich nicht interessant ist. Sie hat zwar stets dazu eine andere Meinung, aber das ist ja ihr gutes Recht.

An diesem Tag kam mir ihr langes Verweilen in den Läden sehr zupassen, konnte ich doch sehr gut selbst beobachten. Und so sah ich in diesem fünften Laden einen Mann, mittleren Alters, der auffällig zu uns schaute. Meine Frau war mit dem Begutachten von Hosen beschäftigt und ich „begutachtete“ ebenfalls. Dann schnappte ich mir einige Hosen, ging damit zu diesem Mann und sprach ihn direkt an: „Sie sind doch der Geschäftsführer dieses Hauses. Können Sie mir nicht raten …“

Weiter kam ich nicht. Er wehrte hochroten Kopfes ab und erklärte kurz angebunden: „Ich bin nur Kunde.“

Und dieser „Kunde“ verschwand sehr schnell - allerdings, ohne einzukaufen.

All diese Vorgänge beschäftigten mich mächtig. Ich grübelte, wer wohl ein Interesse an meiner Person haben könnte. Die tollsten Antworten fand mein Verstand: Detektei-Büro, Geheimdienst, Verschwörer. Selbst ausländische Geheimdienste, die ja nach den Presseinformationen ungehindert im Land ihr „Geschäft“ betreiben, hatte ich im Sinn.

Mein Verstand sagte mir: „Solch ein Quatsch! Ich bin kein Staatsfeind, bin seit kurzer Zeit nicht mehr berufstätig – also auch völlig uninteressant für Detektive, die von Unternehmern auf ihre Angestellten losgelassen werden. Auch besitze ich keine Reichtümer – bin nur ein älterer Mann, der von seiner Rente lebt, bin ein Bürger, wie Millionen andere auch.“

Ich überlegte, ob ich zur Polizei gehen sollte. Dann sagte ich mir aber: „Was willst du denen sagen? Dass du bespitzelt wirst? Sie wollen Fakten haben - habe ich die? Entweder halten sie dich für einen Spinner, einen Aufschneider oder gar für einen Psychopaten! Vielleicht holen sie einen Gutachter und der begutachtet mich: Klapsmühle! Nein danke! Keine Polizei!“

Aber ich wusste, ich musste etwas tun. Die Beschattung hörte nicht auf. Ich bemerkte, dass man mich fotografierte und dass man dies so dreist tat, dass es mir auffallen musste – oder waren diese Leute einfach nur zu blöd, um so etwas geschickter anzustellen.

Dies war der Moment, wo ich mir sagte: „Wehre dich!“

Aber wie anfangen? Seit meiner Kindheit habe ich nicht mehr „Räuber und Gendarm“ gespielt. Dann hatte ich den Einfall: „Mach es wie die Beschatter – nur besser!“

Also, ich muss sagen, die nächsten Wochen waren so erlebnisreich, dass selbst ein Rentnerdasein zum Ereignis werden konnte. Ich kaufte mir eine Digitalkamera und knipste meine Beschatter. Im PC hatte ich bald eine hübsche Galerie jüngerer und älterer Männer, die in verschiedenen Kleidungen mehr oder weniger gut getroffen waren. Schnell bekam ich mit, wer mich am Montag, wer am Dienstag usw. usf. sich die „Ehre“ gab, mich auf Schritt und Tritt zu begleitete. Und ich bereitete diesen Herren so manches „Vergnügen“. Einen reichlich Dicken jagte ich mehrfach durch den ausgedehnten Stadtwald. Auch wenn er immer langsamer wurde, der Dicke gab nicht auf. Auch häufige Turmbesteigungen gönnte ich meinem Kreislauf. Bald reizte dies nicht mehr, da der Herr dann immer auf der Straße wartete. Erst, nachdem ich einen anderen Ausgang aus der Kirche genommen hatte, blieb mein „Schatten“ mir erhalten.

Diese Herren hatten längst mitbekommen, dass ich sie veralbere. Dachte ich: „Jetzt sind sie weg!“, so hatte ich mich schon geirrt. Also musste eine neue Taktik her. Ich beschloss, meinen älteren Bruder in dieses „Spiel“ einzubeziehen.

Er sah mir zwar nicht sehr ähnlich, hatte aber meine Figur und schien damit als mein Doppelgänger geeignet. Da er einen schönen Vollbart trug, meinte ich, ein Bart in meinem Gesicht würde unserem Vorhaben nützlich sein. Meine Frau empfand zwar meinen Bart als kleine „Katastrophe“, aber der Blick in den Spiegel gab mir recht: Mein Bruder und ich sahen uns nun ähnlicher. Die Haare wurden gleich geschnitten, mein Bruder studierte an meinem PC die Fotos meiner Beschatter. Auch gaben wir diesen ominösen Herren Namen, damit wir sie besser auseinanderhalten konnten.

Dann kam der große Augenblick! Mein Bruder besuchte mich, zog meine Sachen an und verließ nach kurzer Zeit das Haus. Hinter der Gardine stehend, sah ich, wie einer der Beschatter, wir nannten ihn August, gemächlich, einen gebührenden Abstand haltend, hinter meinem Bruder hertrabte.

Der Trick hatte also funktioniert und er funktionierte noch einige Male. Doch dann hatten die Herren wohl doch etwas gemerkt und sie verdoppelten ihre Leute.

Das war auch der Augenblick, wo ich zu meinem Bruder Bob sagte: „Mit diesem Spielchen bekomme ich nicht meine Privatsphäre zurück. Wir müssen herausfinden, wer diese Leute sind, von welcher Organisation sie kommen und warum ich für sie so furchtbar interessant bin.“

Mein Bruder musste mir recht geben. Leider wussten wir beide nicht, wie wir dies herausfinden könnten. Mein holdes Weib hatte die kluge Idee: „Na, dann beschattet doch eure Beschatter!“

Das war’s! Wir jagen die Jäger – nur, da die Jäger uns zu genau kennen, mussten jetzt Neue her!

„Mein Skatverein!“, schrie Bob erfreut über seinen Einfall. „Die alte Clique hat doch sowieso nichts zu tun. Jetzt können sie zeigen, dass sie noch zu etwas Nützlichem zu gebrauchen sind!“

Bobs Skatverein bestand aus insgesamt fünf Personen, die alle seit Kurzem im Ruhestand waren. Und als Bob ihnen beim nächsten Treff mein Problem mitteilte und sie fragte, ob sie „Räuber und Gendarm“ mitspielen möchten, kam es zu keinem einzigen Skatspiel. Dafür entwickelten die Herren unter Führung eines Juristen einen Plan, der so auch umsetzbar schien.

Nun waren es sechs Personen, die die Herren Beschatter beschatteten. Und da diese Männer des Skatklubs verheiratet waren und ihre Frauen von dem „Spiel“ erfuhren, wollten sie auch teilhaben an diesem aufregendem Katz-und-Maus-Spiel. Und diese „Rentnerclique“ eilte von Erfolg zu Erfolg. Bald wussten wir, dass die Beschatter eine kleine Wohnung mit einem zweiten Ausgang parterre angemietet hatten, wir kannten die Wohnungsadressen dieser Leute, wussten, ob sie verheiratet oder solo waren, wie viel Kinder im Haushalt lebten, wir wussten fast alles.

Was ich nicht wusste, war, warum mein Auto, egal wo ich mich befand, immer im Fokus der Beschatter war. Auch wenn ich allerlei Tricks anwandte, immer fanden sie mich.

Franz, der Techniker des Skatklubs, fragte mich: „Hast du dein Auto mal nach ‚Wanzen‘ abgesucht?“

Und da ich verneinte, fuhr er mein Auto auf eine Rampe und nach wenigen Minuten präsentierte er mir eine solche „Wanze“. Er meinte, dass dieses kleine Ding meinen Standort im Umkreis etlicher Kilometer sicher den Beschattern mitteilen würde. Auch ergab eine Inspektion des Innenraumes, dass Franz freudestrahlend mir ein zweites „Wänzlein“ präsentierte.

„Damit nehmen sie alle Gespräche im Auto auf. Ich habe sie entfernt. Die Wanze unter dem Boden lassen wir dran. Wenn du unbehelligt fahren willst, nimmst du eines unserer Autos. Einverstanden?“

Ich nickte und fragte, was wir mit der anderen Wanze machen wollen.

Franz grinste breit übers ganze Gesicht. „Die kommt dahin, woher sie kommt. Nur mit dem Unterschied, dass wir die Herren jetzt belauschen werden.“

Unser Jurist wollte Einwände vorbringen, doch Franz meinte nur: „Ich mache doch nichts Unrechtes. Ich bringe nur das Eigentum zu den Leuten zurück, denen es gehört. Ich bin ein grundsolider Staatsbürger.“

Der Jurist wehrte ab: „Ich weiß von nichts!“

„Das ist gut so! Aber wir werden bald wissen, warum sie den Fred über Wochen hinweg observieren. Lasst mich nur machen. Meine Hilda braucht auch mal wieder einen kleinen ‚Kick‘. Ich bringe mit ihr die Wanze zurück und dann müssen wir uns einen guten Lauschposten suchen. Aber jetzt erst mal werde ich mir die Frequenzen vornehmen. Gebt mir zwei Tage und wir wissen mehr!“

Franz und seine Frau gelangten in die „Wohnung“ der Beschatter. Sie gaben vor, vom Hauverwalter, der zu unserem Glück in einer anderen Stadt wohnte und natürlich nichts davon wissen konnte, die Erlaubnis zur Besichtigung der kleinen Wohnung bekommen zu haben. Und diese Besichtigung führten sie durch, auch wenn der jetzt anwesende Beschatter es mit allen Mitteln verhindern wollte. Aber da kannte er die Hilda nicht. Ehe er sich versah, war sie schon im Flur und rief ganz entzückt: „Paul, ach ist der Flur schön groß! Und hier geht’s zum Wohnzimmer! Komm Paul!“

Und Paul, der ja Franz hieß, drängte sich an dem Beschatter vorbei und brach mit seiner Hilda in große Lobeshymnen aus. Die Wanze brachte er im Wohnzimmer unter, denn hier schien der Aufenthaltsraum der Beschatter zu sein.

Als sie den Herrn fragten, wann denn nun die Wohnung frei würde, da dies der Herr Hausverwalter nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, zuckte der Beschatter nur verlegen mit den Schultern.

„Das hängt von den Umständen ab“, meinte er.

Scheinbar missvergnügt verließ das enttäuschte Ehepaar ihre „Traumwohnung“. Um sie aufzuheitern, rief ihnen der Herr noch nach: „Versuchen Sie es doch noch mal in vier oder sechs Wochen!“

Solange brauchten wir nicht, um herauszufinden, warum ich das Ziel der Bespitzelung war. Franz hatte ganze Arbeit geleistet. Klar und deutlich konnten wir die Gespräche verfolgen. Und dann - bereits, nach einer Woche - erhielten wir den entscheidenden Hinweis: den Grund für die Beschattung. Der Chef dieser Beschattergruppe maulte nämlich, dass dieser Fred Kern verdammt viel Zeit mit Spaziergängen verbringt. Er sollte sich doch lieber um seine Entwicklung kümmern, damit sie endlich von diesem langwierigen Auftrag abgezogen werden könnten.

Also – nochmals ins Reine: Ich bin Fred Kern! Das stimmt! Ich entwickele etwas ungeheuer Bedeutendes?! Das stimmt nicht!

Lang und breit diskutierten wir über diese Aussage. Dann meinte mein Bruder: „Fred, man hat dich verwechselt. Eine andere Erklärung gibt es dafür nicht!“

Und dieses Rätsel wollten wir jetzt knacken. Mithilfe des Internets fanden wir, dass es einen Softwareentwickler gibt, der Alfred Kern hieß. Wir fanden auch im Internet seine Adresse, nur 20 km von unserem Ort entfernt, und beobachteten nun dessen Haus. Es war ein kleines Einfamilienhaus und schien nicht bewohnt. Jedenfalls ging drei Tage lang niemand in das Haus oder verließ es. Dann fuhr ein kleiner Straßenflitzer vor. Eine Frau in mittleren Jahren betrat das Haus mit zwei Taschen. Nach kurzer Zeit trat sie wieder mit zwei Taschen aus der Tür und fuhr fort.

Unser Jurist, der damals hier „Dienst“ hatte, ihr hinterher. Nach zwanzig Minuten Autofahrt hielt die Frau vor einem großen Mehrfamilienhaus und schleppte die Taschen zum Aufzug.

An dieser Stelle muss ich unseren Juristen loben, tat er doch etwas ganz Ungesetzliches. Um ins Haus zu kommen, klingelte er auf allen Knöpfen und rief: „Bitte öffnen! Der Hauswart! Hab den Hauptschlüssel vergessen!“

Kennen Sie einen Hauswart, der den Hauptschlüssel vergessen hat? Die Bewohner dieses Hauses wohl, denn gleich mehrere Bewohner drückten auf den Türsummer. So konnte er aber gerade noch feststellen, dass die Dame im dritten Stock ausstieg. Alles andere war dann nicht mehr schlimm, herauszubekommen.

Als ich diese Mitteilung unseres Juristen erhielt, meinte ich, dass ich unbedingt meinen Namensvetter besuchen sollte. Schließlich könne nur er mir erklären, warum es zu dieser Verwechslung gekommen war.

So klingelte ich am nächsten Tag an der Wohnungstür. Einlass zum Flur hatte ich mir mit dem gleichen Trick, den der Jurist angewandt hatte, verschafft. Und nun stand ich vor einem jungen Mann, der mich verwundert ansah.

„Junger Mann, Sie sind Herr Kern?“, fragte ich. Doch er verneinte und rief in die Wohnung: „Frau Kern, hier möchte jemand zu ihrem Mann!“

Eine Frau kam freundlich lächelnd aus der Küche. „Ja, mein Herr?“, fragte sie mich.

„Ich möchte zu ihrem Mann, zu Herrn Fred Kern!“

„Das ist leider nicht möglich“, antwortete sie mir. „Mein Mann ist im Ausland, auf Dienstreise!“

„Nein, das ist er nicht! Er ist hier und in dieser Wohnung!“

Ich schubste sie leicht zur Seite und betrat den Flur.

„Ich rufe die Polizei!“, kreischte sie jetzt empört, worauf ich ihr lächelnd erwiderte: „Eine gute Idee, Frau Kern. Dann kann ich mich als Herr Fred Kern vorstellen und die Polizei kann überprüfen, warum ich wochenlang von Fremden beschattet und bespitzelt werde.“

Frau Kern wurde kreidebleich. Das Gekreische der Frau und meine laute und sehr energische Antwort bescherte mir den Herrn Kern, meinen Namens-Doppelgänger. Ein Mann, über die Fünfzig, leicht grau meliertes Haar, burschikos gekleidet, erkundigte sich nach der Ursache der Störung.

„Liebling, was ist denn?“

„Also Herr Kern, ich bin nicht ihr Liebling – aber ich heiße Kern, Fred Kern. Ich möchte jetzt von Ihnen wissen, warum ich bespitzelt werde.“

„Mein Herr!“, erwiderte er grob. „Auch wenn Sie so heißen wie ich, so weiß ich doch nicht, wer Sie bespitzelt. Verlassen Sie sofort diese Wohnung oder wir rufen nach der Polizei!“

Schon wollte er wieder in den Raum, aus dem er getreten war, verschwinden, als sein Liebling, seine Frau, ihn bat: „Bleib, Fred! Ich weiß, warum dieser Herr Ärger hat!“

Frau Kern bat mich in einen kleinen Raum, der nur wenige Möbel beinhaltete. Aber drei Sitzmöglichkeiten gab es und für die nächste Stunde merkte ich nicht die Härte dieses Stuhles. Was ich erfuhr, war wirklich aufregend und zugleich auch spaßhaft.

Aber jetzt eins nach dem anderen, denn so kam ich in den „Genuss“ der Beschattung: Alfred Kern ist ein international anerkannter Computerspezialist. Er entwickelte eine Software, die, sollte sie auf den Markt kommen, eine kleine „Revolution“ wäre. Seine Entwicklung, zum Patent angemeldet, bot er einem sogenannten „Riesen“ in der Computerbranche an. Die Konzernleitung überschlug sich vor Freude, war doch dies Produkt so zukunftsweisend und für den Konzern so enorm wichtig, dass einer der leitenden Mitarbeiter einen Fauxpas tat und vor der Presse prahlte und Einzelheiten ausplauderte, obwohl die Entwicklung noch nicht serienreif war. Daraufhin interessierten sich nicht nur andere Firmen für den Herrn Kern, sondern auch das Militär der verschiedensten Länder meldete großes Interesse an der Weiterentwicklung an. Alfred Kern wurde belagert und konnte nicht mehr in Ruhe arbeiten. So richtete man in diesem Mehrfamilienhaus ein Computerraum ein und Alfred Kern und seine Frau „zogen um“. Aber dass ich beschattet wurde, das verdanke ich der Klugheit der Frau Kern. Meinte sie doch, dass das Detektivbüro, welches ihren Mann auf Schritt und Tritt überwachen sollte, besser einen anderen Alfred Kern beobachten könnte. Dann wäre ihr Mann besser geschützt und könnte mit seinen drei Mitarbeitern in aller Ruhe die Arbeit zu Ende führen. Sie fand mich im Telefonbuch und die Beschatter-Truppe auf mich zu hetzen war nach ihren Worten ein Kinderspiel. Ohne Gegenkontrolle schluckten die übereifrigen Detektive mich und meinen Namen.

Na ja, was soll ich sagen, ich nahm ihre Entschuldigung an. Herr Kern versprach mir und meiner Frau eine große Urlaubsreise. Jetzt protestierte ich auf das Heftigste und erzählte, dass immerhin zwölf Personen an der Gegenspionage beteiligt waren. Jetzt wurde Herr Alfred Kern sehr neugierig und fragte: „Lieber Namensvetter, schaffen Sie es, mir diese Detektive noch etwa drei Wochen vom Hals zu halten?“

Ich nickte verwundert.

„Ich mache Ihnen und Ihren Freunden einen Vorschlag: Sie alle erhalten mit Ihren Frauen eine kleine Urlaubsreise in ein 5-Sterne-Hotel. Das muss der Konzern blechen! Von mir erhalten Sie, wenn Sie es gebrauchen können, meine Software – und die wird nicht billig gehandelt. Und Sie alle nehmen an meiner großen Präsentation vor internationalem Publikum teil. Hinterher auf dem Empfang möchte ich Ihnen allen danken. Und verzeihen Sie mein Lächeln – ich freue mich jetzt schon, wenn ich den Chef dieser großen Sicherheitsfirma sehe, wenn er erfährt, dass er mit seinen Leuten den Falschen beschattet hat. Einverstanden, Herr Kern?“

Selbstverständlich nahm ich dieses Angebot liebend gerne an und auch der Skatklub bejubelte das Ergebnis meines Besuches. Und um unser Vergnügen noch zu steigern, arrangierten wir in den letzten drei Wochen für unsere Beschatter noch einige Höhepunkte. Wir jagten den Dicken viele Runden durch den Stadtwald. Wir besuchten Kinoveranstaltungen, um sie doch wieder heimlich zu verlassen. Wir verabredeten „geschäftliche Transaktionen“, die so augenscheinlich als Übergabe „geheimer Dokumente“ verliefen, dass unsere Bewacher alle Hände voll zu tun hatten, um ja jeden von unseren Skatbrüdern und ihren Frauen als vermeintliche feindliche Spione zu fotografieren.

Als dann der Anruf des Herrn Kern kam, dass er seine Arbeit abgeschlossen habe und er sich nochmals für unsere Hilfe bedankte, da bemerkten doch meine Helfer, dass sie das Ende der „Beschattung“ unendlich bedauern würden – jetzt, wo solch ein „Räuber-und-Gendarm-Spiel“ doch Aufregung und Abwechslung in das triste Rentnerleben gebracht hätte.

So meinte der Oberlehrer, er brauche seit einiger Zeit weniger Pillen. Sein Arzt sei sehr überrascht von dieser unerklärlichen Verbesserung seines Allgemeinzustandes. Der Jurist hatte in dieser Zeit glatte fünf Kilo abgenommen und fühlte sich körperlich so fit, wie lange nicht mehr. Jeder meiner Helfer brachte irgendetwas Positives vor und bedauerte damit das Ende des schönen Spiels. Auch ich bedauerte dies letztendlich.

Auf dem Empfang dankte uns der Ingenieur Kern ausdrücklich für unsere gute Arbeit und unter dem Gelächter der Gäste erzählte er, wie er in aller Seelenruhe dank dieser beabsichtigten Verwechslung seine Arbeit durchführen konnte. Danach, bei der privaten Feier in ausgelassener Stimmung, wurde der Gedanke geboren: Warum eigentlich machen wir nicht weiter? Warum eigentlich nicht?

Ja – warum nicht? Die 14-tägige Urlaubsreise in ein 5-Sterne-Hotel brachte Sonne, Strand und sanftes Meeresrauschen. Man konnte so herrlich im warmen Sand liegen und sich den Bauch bescheinen lassen. Und die Seele schlug Purzelbäume, als die tollsten Ideen ausgebrütet wurden - für die neuen Vorhaben unserer „Rentnerclique“.

 

 

2. Episode "Die vergessene Statuette" - HIER!